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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerWenn dieser Pfingstbrief seine Leser erreicht, dann sind die Vorbereitungen für die drei großen kirchlichen Tagungen dieses Sommers in vollem Gange. Als die zeitlich erste wird vom 25. Juli bis 3. August in Hannover die große Tagung des Lutherischen Weltbundes (Lutheran World Federation) stattfinden. Während das in vielen Tausenden verbreitete Flugblatt über den Lutherischen Weltbund überhaupt so gut wie nichts davon erkennen läßt, was die in diesem Weltbund zusammengeschlossenen „Lutheraner” miteinander verbindet, geben die inzwischen erschienenen vorbereitenden Hefte jedenfalls einen starken Eindruck von der Fülle und Spannweite der Fragen, die in Hannover erörtert werden sollen; dabei ist die Nähe der einzelnen vorbereitenden Hefte zu dem, was heute in der Kirche und was in der Welt geschieht, sehr unterschiedlich, und bei manchem fragt man sich, ob hier wirklich Antworten auf Fragen heutiger Menschen gesucht und gefunden werden. Gerade weil wir ohne jede konfessionelle Selbstsicherheit tief davon durchdrungen sind, daß es eine große Verantwortung des von Luther her bestimmten Christentums innerhalb der ganzen Weite der christlichen Kirche gibt, und daß diese Verantwortung noch viel lebendiger empfunden und stärker wirksam werden müßte, werden wir diese Tagung des gesamten Luthertums mit dem herzlichen Wunsch begleiten, daß hier die (mindestens drei) sehr verschiedenartigen Gruppen des lutherisch geprägten Kirchentums sich zu gemeinsamem Selbstverständnis und gemeinsamem Dienst innerhalb der ganzen Ökumene zusammenfinden möchten.

LeerDann wird in der zweiten Augusthälfte in Lund (Schweden) die (3.) Weltkirchenkonferenz „für Glaube und Kirchenverfassung” (on Faith and Order) versammelt sein; 250 Abgeordnete aus annähernd 100 verschiedenen Kirchen. Keine einzelne Kirche wird durch so viele (20) Abgeordnete vertreten sein wie die Evangelische Kirche in Deutschland. Die Konferenz für Glaube und Verfassung (Anm.) ist diejenige Arbeitsgruppe innerhalb der gesamten ökumenischen Bewegung, die sich am entschiedensten mit den Ursachen der Kirchenspaltungen beschäftigt und das ernsthafte Gespräch über die uns trennenden Unterschiede wirklich führt. Dabei werden in Lund die „nicht-theologischen Faktoren” der Kirchentrennung (Motive allgemein geschichtIicher, politischer, kultureller Art, zum Teil auch einfach nicht weiter begründete Gewohnheiten) eine größere Rolle spielen als jemals zuvor.

LeerFreilich sind gewiß viele (zu denen ich mich auch bekenne) je länger desto mehr von der Frage bewegt, ob der Raum dieser Gespräche nicht allzu weit gespannt ist, und ob es nicht sogenannte christliche Kirchen gibt, mit denen ein ernsthaftes Gespräch über die wirklichen Fragen des christlichen Glaubens kaum mehr geführt werden kann, weil diese Kirchen oder Gruppen sich allzu weit entfernt haben von dem, was semper ubique ab omnibus (immer, überall und von allen) geglaubt worden ist. Ich habe versucht, in einem Aussatz über Insights and open Questions concerning Ways of Worship (Einsichten und offene Fragen hinsichtlich der Formen des Gottesdienstes), erschienen in The Ecumenical Review, April 1952, diese Frage im Hinblick auf die liturgischen Meinungsverschiedenheiten zu erörtern. Es ist zum mindesten schwierig, sich mit Vertretern der grundsätzlich „non-liturgical Churches”, denen schon jede übernommene Ordnung des gemeinsamen Gebets ein Greuel ist, über Fragen der Liturgie zu unterhalten; aber diese Schwierigkeit gibt es ja nicht nur in der Ökumene. [Bericht über Lund]

LeerEnde August werden dann wieder viele Tausende in Stuttgart zum Deutschen Evangelischen Kirchentag zusammenströmen. Wird es gelingen, das Thema „Wählt das Leben!” einem sehr großen Kreis wirklich verständlich zu machen? Daß es heute um Tod und Leben geht, empfinden viele Tausende in einer dumpfen Weise. Aber wer begreift, daß die Entscheidung zwischen Tod und Leben nicht in äußeren Schicksalen, sondern in ganz innerlichen Entscheidungen fällt, an denen jeder von uns verantwortlich und mithandelnd beteiligt ist? Wer versteht, daß fast alle heute herrschenden Gedanken und öffentlichen Meinungen tödliche Irrtümer sind, von denen der Leib der Menschheit wie von einem lebensgefährlichen Giftstoff durchsetzt und zersetzt wird? Wer wagt zu sehen und zu sagen, daß fast alles, was wir „Fortschritt” nennen, ein chronischer Selbstmord ist, und daß man also wirklich nicht „das Leben wählen” kann, ohne daß dieses die empfindlichsten Veränderungen und Wandlungen für unser ganzes Denken und Leben in sich schließt? [Selbstkritischer Kirchentag]

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LeerIn einem Aufsatz, den ich auf Wunsch des Evangelischen Pressedienstes für Ostern geschrieben hatte, und der von einer Reihe von Tageszeitungen abgedruckt worden ist, ist mir ein Fehler unterlaufen, auf den mich eine sorgsame Leserin aufmerksam gemacht hat. Ich hatte geschrieben, daß die biblischen Osterberichte sich nicht scheuen, zu sagen, „die Jünger seien mit Furcht und großer Freude vom Grab zu den anderen Jüngern zurückgekehrt”. An der von mir ausdrücklich angeführten Stelle Matth. 28, 8 ist aber allein von den Frauen die Rede, die an jenem Morgen zum Grab Jesu gekommen waren und dort die Erscheinung eines Engels gesehen hatten. Mein Versehen ist um so weniger zu entschuldigen, als die Erwähnung der Frauen in den Ostergeschichten in der Tat ein wichtiger Zug in dem Gesamtbild ist, welches die Evangelien vom Anteil der Frauen an der heiligen Geschichte zeigen.

LeerVon der unvergleichbaren Rolle abgesehen, welche Maria und Elisabeth in den lukanischen Geburtserzählungen spielen, begleiten einige Frauen in einer besonderen und ihnen allein eigentümlichen Weise den Weg des Herrn; eine Frau darf dem schon Todgeweihten den letzten Dienst der Liebe erweisen; Frauen stehen unter dem Kreuz, da die Jünger geflohen waren, und die gleiche durch den Tod nicht erschütterte Treue treibt sie in der Morgenfrühe des Sonntags zum Grab. Darum werden sie vor den Jüngern der himmlischen Erscheinung gewürdigt, die zuerst die Gewißheit oder doch Ahnung der Auferstehung in ihr Herz senkt. Es entspricht diesem wichtigen Zug der biblischen Geschichte, wenn in der Feier der Osternacht der Gruß „Der Herr ist auferstanden, Halleluja” zuerst von den Frauen allein aufgenommen und beantwortet und dann von ihnen weitergegeben wird an die ganze Versammlung der Gläubigen. Nein, das soll nicht vergessen und nicht durch ein Versehen verdunkelt werden.

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LeerAus dem Brief einer Deutschen, die als Missionarsfrau in Zentralafrika lebt, da wo die Gegensätze zwischen den Rassen ständig auch die Einheit der christlichen Gemeinden zu sprengen drohen: „Hier in den Kupferminen sind wir mitten drin in den Spannungen, die auf dem ganzen Erdboden zu spüren sind... Der einfache Afrikaner bekommt hier durch den neuen Materialismus den Boden so unter den Füßen weggezogen, wie sonst nirgendwo. Während bei Schwarz und Weiß Trinken und moralische Laxheit zunehmen mit erschreckendem Tempo, werden wir durch die politischen Extremisten dem Abgrund entgegengetrieben. Wir... versuchen mitten in diesen Spannungen das Kreuz der Versöhnung und christlichen Bruderschaft hochzuhalten. Der, der die Menschen auf diesen Weg wies, hat nie vorausgesagt, daß er mit Rosen gepflastert sein würde. Hier in Zentralafrika - ich möchte es wohl den dunkelsten Teil Afrikas nennen - ist der Weg rauh und das Gehen schwer. Heute ist es nicht mehr die Dunkelheit des Unbekannten. Der Buschpfad ist eingemündet in einen breiten Weg, der zur Zerstörung ... führt Ihr könnt hier schneller als irgendwo in der Welt eine Fahrkarte bekommen zur „Stadt des Untergangs” - entweder erster oder dritter Klasse, je nach Eurer Farbe.”

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LeerIch schreibe diesen „Brief” an dem Tag, an dem ich mich in Oldenburg von den getreuen Freunden verabschiede, die zu meiner Arbeitsgemeinschaft gehört haben. Wenn man mitten in Abschied und Aufbruch ist, findet man kaum die richtigen Worte über den Sinn dieser Veränderung und des Neuanfangs. Aber ich behalte mir vor, wenn ich am neuen Ort, unter äußerlich sehr veränderten Umständen, in die Stille und Ruhe gekommen bin, die ich mir erhoffe, einmal im Zusammenhang ein Wort darüber zu sagen, wie ich selbst diesen schicksalhaften Weg sehe, weil er nicht nur mein persönliches Schicksal betrifft.
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LeerMein „Brief” ist diesmal kürzer geraten, weil ich für den Bericht über die Tagung des Theologischen Konvents, der mir sehr am Herzen lag, schon mehr Raum beanspruchen mußte, als sonst dem „Brief” zukam.

Anm: Vergleiche die Schrift des Generalsekretärs Oliver Tomkins „Um die Einheit der Kirche”, deutsch von Wilhelm Menn; siehe die Besprechung im Michaelisbrief 1951.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 170-173

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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