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Die Menschwerdung des Menschen
von Hans Carl von Haebler

LeerGott ist Mensch geworden, damit wir göttlich würden - so haben frühchristliche Theologen einmal aufgejubelt, und noch in Luthers Weihnachtslied klingt dieser Jubel nach

Er ist auf Erden kommen arm / daß er unser sich erbarm
und in dem Himmel mache reich / und seinen lieben Engeln gleich.

LeerUnser Glaube ist nicht mehr so kühn. Wir fühlen uns noch nicht als künftige Himmelsbürger, sondern wären zufrieden, wenn wir uns als Erdenbürger bewähren würden. Wir lassen dahingestellt, ob der Mensch am Ende der Zeiten einmal den Engeln gleich sein wird. Hauptsache, daß er zunächst einmal Mensch werde.

LeerAber was meinen wir eigentlich, wenn wir von der Menschwerdung des Menschen reden? Doch wohl dies, daß im Menschen mehr steckt als nur ein Mensch und daß es in seiner Bestimmung liegt, dieses „mehr” zu verwirklichen. L'homme se passe infiniment, sagt Pascal. Worin dieses „mehr” besteht, darüber kann weder Anthropologie noch Psychologie Auskunft geben. Jedenfalls läßt es sich nicht züchten mit dem Endziel, einen Übermenschen hervorzubringen. Was den Menschen zum Menschen macht, das wird ihm in der Weihnachtsgeschichte enthüllt. Der heilige Paulus nennt es den „Christus in uns”. Die Menschwerdung des Menschen beginnt damit, daß Christus in unsrem Herzen Wohnung nimmt.

LeerDas darf natürlich nicht so verstanden werden als hätte die nachchristliche Menschheit etwas voraus und als hätten wir es mit unserer Menschlichkeit weitergebracht als Sokrates oder Buddha. Christus ist ja nicht erst zu Beginn unserer Zeitrechnung geboren, sondern „vor aller Zeit”, und sein erstes Wunder tat er nicht erst auf der Hochzeit zu Kana, sondern „im Anfang”, als das Wort bei Gott war und alle Dinge durch dasselbe gemacht wurden. Aber im Weihnachtsereignis wird nun offenbar, daß die Menschwerdung des Menschen nicht in seiner Macht steht, sondern Gottes Werk ist. Der Menschensohn ist niemand anders als Gottes Sohn.

LeerTrotzdem vollzieht sich die Menschwerdung des Menschen nicht ohne unser Zutun. Das Tier bleibt Tier, durch seine Umwelt bestimmt und an seine Instinkte gebunden, und niemand würde auf den Gedanken kommen, von einer Tierwerdung des Tiers zu sprechen. Der Mensch aber ist zunächst etwas höchst Unfertiges, und gerade der Umstand, daß er sich so unfertig vorfindet, gibt ihm die Möglichkeit, bei seiner Menschwerdung mitzuwirken. Er kann seine Bestimmung erfüllen, indem er Christus in sich aufnimmt, er kann sie aber auch verfehlen und - furchtbare Möglichkeit! - das göttliche Kind abtreiben oder von Herodes umbringen lassen. Im Gegensatz zum Tier ist er für sich selbst verantwortlich, und in diesem einzigartigen Vorzug liegt auch seine spezifische Gefahr.

LeerVon dieser Gefahr soll hier die Rede sein. Man spricht wohl mit Recht davon, daß der Mensch heute in Gefahr ist, obwohl er als physisches Wesen weit weniger gefährdet erscheint als früher, weit weniger als das Tier. Die wilden Tiere, die ihm gefährlich werden könnten, hat er ausgerottet, oder er weiß sich ihrer zu erwehren. Vor Zeiten der Dürre hat er sich durch Bewässerungsanlagen geschützt und vor Überschwemmungen durch Staudämme und Kanalisationen. Er hat Seuchen aus der Welt geschafft, Krankheiten heilbar gemacht und sein Lebensalter um Jahrzehnte verlängert. Nichts beweist die Gefahrenabnahme besser als die Bevölkerungsstatistik, deren Kurve immer steiler emporsteigt.

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LeerAber seinen furchtbarsten Feind wird der Mensch nicht los - sich selbst. Wenn er früher Gefahr lief, von wilden Tieren zerrissen zu werden, so wird er heute ein Opfer seiner Verkehrsmittel. Wenn er früher „natürlichen” Krankheiten erlag, so arbeitet er sich heute selber zu Tode und stirbt an Kreislaufstörungen und Herzinfarkten. Wenn er früher von Seuchen dahingerafft wurde - die große Pest, die Europa im 14. Jahrhundert heimsuchte, soll hier in wenigen Jahren zwölf Millionen Menschen, d. h. 25 Prozent der Bevölkerung, das Leben gekostet haben -, so erscheint ein solches Massensterben heute nur noch durch selbstverschuldete Entfesselung radioaktiver Strahlen möglich. Furchtbar vor allem die Fertigkeit des Menschen im Massenmord des Krieges! Gewiß ist diese Gefährdung des Menschen durch den Menschen nicht gewollt, sondern nur die unerfreuliche Begleiterscheinung dessen, was wir Fortschritt nennen. Es scheint ein Gesetz zu geben, wonach die Menschheit ihre Fortschritte mit entsprechenden Opfern kompensieren muß und Freud und Leid, aufs Ganze gesehen, konstant bleiben. Aber wird dadurch nicht jeder Fortschritt illusorisch? Müßige Frage! Fortschritt ist nicht etwas, was ins Belieben der Menschheit gestellt ist, sondern die notwendige Angleichung an ihr Wachstum. Dem äußeren Wachstum muß jedoch ein inneres entsprechen: Die Menschwerdung des Menschen muß fortschreiten, wenn seine Fortschritte ihm nicht über den Kopf wachsen sollen.

LeerStatt dessen häufen sich die Anzeichen dafür, daß die Menschheit ihrer Menschwerdung geradezu entgegenarbeitet und ihre Probleme durch Entmenschlichung des Menschen zu lösen sucht. Auch das ist möglich. In seiner Legende vom Antichrist hat der russische Philosoph Solowjeff diesen Weg beschrieben. Im Antichrist - Solowjeff nennt ihn den „kommenden Mann” - hat sich der Teufel inkarniert. Aber er zeigt sich deshalb keineswegs als Unmensch. Alles, was er tut, zeugt von einem klaren Verstand, ja von einem tiefen Verständnis für das, was das Menschenherz begehrt. Er ist gerecht, sozial gesinnt, will nicht nur, daß alle Menschen satt werden, sondern sorgt auch für ihre Unterhaltung und zeigt sich in jeder Beziehung auf ihr Wohlergehen bedacht. Sogar für ihre religiösen Bedürfnisse hat er Sinn. Aber mit all dem macht er sie sich gefügig und zu Objekten seines Wohlfahrtsstaates. Seine Erfolge sind die Erfolge eines rein sachlich denkenden Managers oder Diktators.

LeerSolowjeff hat die eigentliche Gefahr gesehen, in der wir heute stehen: Eine imponierende Sachlichkeit kennzeichnet unser Denken und Handeln. In schwindelerregender Weise haben wir die Fähigkeit entwickelt, die Welt zu objektivieren und in die Hand zu bekommen. Wir haben sogar die Zeit objektiviert. Wir kapitalisieren und investieren sie und verfügen dabei auch über die Zeit, deren der Mensch zu seiner Menschwerdung bedarf. Menschwerdung vollzieht sich nur in dem zeitraubenden Umgang mit Menschen. Mit Sachen wird man schneller fertig. Aber wer mit ihnen umgeht, wird selber versachlicht. In der Tat ist heute so etwas wie eine Sachwerdung des Menschen zu beobachten, eine Flucht in die Sachlichkeit, weil es so schwer ist, Mensch zu sein.

LeerHierfür einige Beispiele! Wenn ich richtig sehe, dann spielt bei der Berufswahl heute die Liebe zur Sache eine größere Rolle als die Liebe zum Menschen. Lehrer, Pfarrer, Krankenschwestern sind „Mangelware”. Zwar haben es auch Ärzte und Richter mit dem Menschen zu tun. Aber für viele von ihnen ist der Patient oder Delinquent nur ein „Fall”, d. h. ein Gegenstand ärztlicher Kunst oder juristischen Scharfsinns, und nicht ein Mensch, der dazu gebracht werden sollte, bei seiner Heilung mitzuwirken oder seine Schuld zu erkennen und seine Strafe zu bejahen.

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LeerDer Arbeiter, der an der Maschine steht und hier nur noch einige, von ihr bestimmte Handgriffe zu tun hat, ist eigentlich schon ein Bestandteil von ihr, ein vorläufiger Bestandteil, der eines Tages durch eine neue zuverlässigere und billigere Mechanik ausgetauscht werden wird. Wer seine Freunde zum Fernsehen einlädt, sucht nicht Umgang mit Menschen, sondern unterzieht sich mit ihnen einer Behandlung, die sie geistig uniformiert und versachlicht. Versachlichung ist eine moderne Art der Verzauberung. In den Märchen lesen wir, daß der Zauber Menschen versteinert. - Ein sachliches Gespräch ist eine Wohltat, insofern alle irrationalen, emotionalen Störungsquellen ausgeschaltet werden. Aber zufolge der Zwangsläufigkeit, die dem sachlichen Denken innewohnt, führt es zu einem Ergebnis, das auch auf maschinellem Wege ermittelt werden könnte.

LeerVersachlichung des Menschen! Man erlaubt sich keine Gefühle mehr. Die Sentimentalität - aus Goethes Zeit nicht wegzudenken - ist verpönt und verkitscht. Im Kitsch bäumt sich das Gefühlsleben gegen die moderne Sachlichkeit auf.

LeerAm eindrucksvollsten bezeugt die Kunst, die man kürzlich auf der „documenta II” zu sehen bekam, die Sachwerdung des Menschen: Er erstarrt zum Stilleben, wird zur Maske, gleicht sich den Sachen an, mit denen er umgeht. Der natürliche Leib verwandelt sich in einen konstruierten, in ein Schema, in das der Künstler dann hineinarbeitet, was ihm zum Thema „Mensch” einfällt. Viel Sexuelles, viel Mechanisches! Schmerzlich empfundener und prophezeiter Abbau der Menschlichkeit! Kopfstümpfe auf riesigen Leibern, manchmal auch Kopflosigkeit. Keine Portraits mehr. Sie könnten doch keine Auskunft darüber geben, was der Mensch ist und was mit ihm vorgeht. Eher noch die Dinge, die ihn beschäftigen, seine Modelle, Maschinen, Mikroskopien. Mensch und Welt, bis dahin als Subjekt und Objekt unterschieden, verschmelzen, rinnen zusammen, und ihre Wechselbeziehungen finden ihren Ausdruck in Psychogrammen. Experimentierend sucht der Künstler Gefühle in Gestalt von Farben und Figuren zu versachlichen, und analysierend soll der Betrachter diese Gefühle ablesen. Das Seelische, das früher den Bildgegenstand formte, wird selbst gegenständlich und analysierbar. Aber eben damit hört es auf zu wirken und ist nur noch als Wirkung da. Es ist etwas anderes, ob ein Bild wirkt oder Wirkungen darstellt. Im ersten Fall wird mit dem Herzen begriffen. Im zweiten Fall wird der Versuch unternommen, das Herz zu begreifen und auf seinen Saiten zu spielen.

LeerDiesen Versuch unternimmt nicht allein der Künstler. Er macht nur anschaulich, was in der ganzen Menschheit vor sich geht: Eine Bewältigung des Emotionalen durch Versachlichung (so wie man im mythischen Zeitalter die Naturkräfte durch Vergöttlichung zu bewältigen suchte).

LeerEin gutes Beispiel hierfür liefert die Politik. Im Mittelalter handelten die Fürsten emotional, aus Ruhmsucht, gekränkter Ehre, Rache, religiösen Gründen usw. Sie führten ihre Kriege mit dem Herzen. Das entschuldigt sie nicht, gibt diesen Kriegen aber doch eine menschliche Note, besonders wenn sie den Spielregeln des Rittertums unterworfen waren und sich nicht wesentlich von einem Turnier unterschieden. Seit Macchiavelli und Richelieu gibt es nun aber auch den planmäßigen Krieg, der nicht um des blutigen Lorbeers willen geführt wird, sondern Nutzen bringen soll. Diese Sorte Krieg, die auf dem Recht des Stärkeren beruht, ist das Ergebnis eines Rechenexempels, bedarf aber gleichwohl einer psychologischen Vorbereitung, damit Volk und Armee in die rechte Kriegsbegeisterung versetzt werden. Der Staatsmann muß sie dahin bringen, daß sie gefühlsmäßig vollziehen, was er sachlich für richtig hält. Am Ende dieser Entwicklung steht der „kalte Krieg”. Er besteht darin, daß feindselige Gefühle erzeugt, genährt und zur Darstellung gebracht werden, nun aber nicht, um sich in militärischen Aktionen zu entladen, sondern um an und für sich zu wirken: Aus unkontrollierbaren Triebkräften sind die Emotionen zu Mitteln einer rein psychologischen Kriegsführung geworden, die sich nach Belieben erzeugen und dosieren lassen.

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LeerSo weit, so gut! Wenn nur der heiße Krieg vermieden wird! Aber so wie der Maler, der Psychogramme malt, bleibt auch das Volk, das einen „kalten Krieg” führt, introvertiert. Es geht dem Gegner aus dem Wege und hält sich statt dessen an das Zerrbild, das es aus ihm macht. Da auf diese Weise keine echte Begegnung und Verständigung möglich ist, schlägt der kalte Krieg eines Tages doch noch in einen heißen um, oder es kommt zu dem „kalten Frieden” bloßer Koexistenz. Ich meine damit einen Frieden, in dem man sich nicht verträgt, weil man auch dem anderen eine Existenzberechtigung zugesteht, sondern, weil man seine eigene Existenz nicht aufs Spiel setzen möchte. Der andere wird dabei nicht als Mitmensch oder Mit-Volk begriffen, sondern nur als Gefahrenmoment. Was dem echten Frieden erst Inhalt gibt, die Eintracht - gerade das bleibt uns der kalte Frieden schuldig. Er führt nicht zu den zwischenmenschlichen Beziehungen, die einen „warmen” Frieden dauerhaft und fruchtbar machen, sondern fixiert einen mehr oder weniger unbefriedigenden Status Quo und besiegelt das traurige Schicksal der unterdrückten Minderheiten hüben und drüben. Der Trost, der bleibt, daß er den Ausbruch eines heißen Krieges verhütet hat, vermag das Gewissen nicht zu beruhigen. Es gibt eben Fälle, in denen „das Leben der Güter höchstes nicht ist” und die sachlich richtige Feststellung, daß ein Krieg heute Selbstmord wäre, die persönliche Entscheidung keineswegs ersetzt. Ja, es scheint, daß die Menschwerdung des Menschen gerade darin besteht, daß er die Resultate eines Denkprozesses nicht einfach zum Gesetz seines Handelns macht, sondern, daß er mit dem Herzen denkt und Verantwortung wahrnimmt.

LeerDer Mensch ist in Gefahr, weil er der Verantwortung nicht mehr gewachsen ist, die ihm seine Denkresultate aufbürden. Es ist nicht unsere Aufgabe zu erörtern, ob und wie die Großen dieser Welt ihrer Verantwortung gerecht werden können. Auch soll nicht von denen unter uns die Rede sein, die von Berufs wegen als Erzieher, Journalisten usw. eine besondere Verantwortung tragen. Wir alle sind gefragt. Oder sind wir in unserer Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit von einer Antwort dispensiert? Manchem mag es so scheinen. Aber unser Herz spricht uns nicht frei. Es wird uns auch nicht wohler, wenn uns gesagt wird, daß wir ja Verantwortung wahrnehmen, indem wir unser Wahlrecht ausüben, für gute Zwecke spenden oder Vereinen beitreten, die lobenswerte Ziele verfolgen. Etwas anderes wäre es schon, wenn man sich der „Miss-a-meal”-Bewegung anschlösse und sein Brot in sinnfälliger und leiblich spürbarer Weise mit den Unterernährten teilte. Aber auch das wäre kaum mehr als ein symbolischer Akt.

LeerIn unserer Verlegenheit sollten wir nicht vergessen, daß auch unser Herr und Heiland zu den Ohnmächtigen und Einflußlosen gehört hat. Er feierte nicht den „adventus” eines Augustus, er machte nicht Karriere wie der „kommende Mann” in Solowjeffs Vision. Er war kein Weltverbesserer, der wie Karl Marx an der bestehenden Gesellschaftsordnung Kritik geübt, die Kolonialherrschaft der Römer angeprangert und zur Revolution aufgerufen hätte. Er ließ die Welt so gut und so schlecht, wie sie war, und zeigte nur den Menschen, die zu ihm kamen, wie man mit ihr fertig wird: mitlebend, mitleidend, fürbittend, fürsorgend an dem Ort, an den man gestellt ist - eine große, konkrete Aufgabe, die uns überfordern würde, wenn es nicht so wäre, daß Christus noch heute in uns Mensch werden kann.

LeerDer Frieden auf Erden, den der Engel in der Heiligen Nacht proklamierte, ist etwas anderes als die Pax Augusta, die damals im römischen Reich Einzug hielt, und als der Frieden, der unseren Politikern aufgetragen ist: keine Institution zur Sicherung und Hebung des Lebensstandards, keine Ankündigung eines Wohlfahrtsstaates, sondern - das Kind in der Krippe als Unterpfand des göttlichen Wohlgefallens. Es kommt nicht so sehr darauf an, daß die Großen dieser Welt Frieden schließen, wie darauf, daß das Kind in uns geboren wird und Herberge findet.

Quatember 1960, S. 17-21

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-09
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