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von Adolf Köberle |
Von Emil Brunner stammt der einprägsame Satz, man soll nicht nur als Christ leben, sondern auch als Christ denken. Was mit dem „als Christ leben” gemeint ist, läßt sich leichter beantworten als die Frage nach dem christlichen Denken. Als Christ leben heißt, sich bei seinem Tun und Lassen der Königsherrschaft Jesu Christi im Gehorsam unterstellen, heißt dem Nächsten in Liebe dienen und der sittlichen Unordnung im eigenen Leben den Kampf ansagen. Ohne in ein falsches Rühmen zu verfallen, darf gesagt werden: die evangelische Kirche lutherischer und reformierter Prägung hat es sich seit den Tagen ihres Entstehens zur heiligen Aufgabe gemacht, das Leben der Gemeinden durch die Bindung an Gottes Gebot und Ordnung in eine ernste Gewissenserziehung zu nehmen zur Erweckung von Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit und beruflicher Tüchtigkeit. Ungleich weniger Aufmerksamkeit hat man demgegenüber der Beantwortung der Frage geschenkt, was es heißt, als Christ denken. Man könnte zunächst darunter verstehen, daß ein Christ es zu schätzen weiß, von Gott dem Schöpfer Verstand und Vernunft als edle Gaben ins Dasein mitbekommen zu haben, die ihn allein schon dadurch hoch über alle andere Kreatur gestellt sein lassen. Wer diese anvertrauten Pfunde würdigt, wird sich in der christlichen Existenz immer ein gesundes kritisches Urteil bewahren. Er wird in den Fragen der Natur- und Geschichtserkenntnis nicht unkontrolliert auf alle möglichen ungesicherten Angebote hereinfallen, die ihm von einem politischen oder religiösen Schwärmertum her nahegelegt werden. Es steht einem Christen wohl an, in den Dingen des täglichen Lebens den gesunden Menschenverstand zu gebrauchen und nicht bei jeder Erkenntnis und Entscheidung auf besondere pneumatische Erleuchtungen von oben zu warten. Und doch ist damit noch nicht alles gesagt, was das Problem „als Christ denken” in sich schließt. Als Christ denken, das müßte doch vor allem bedeuten: ich bringe Gott nicht nur meinen Willen im Gehorsam dar, ich liefere ihm auch meine Denkarbeit aus. Das Wort des Lebens, das der Herr des Alls im fleischgewordenen Logos, durch Propheten und Apostel gesprochen hat, soll mir zur Richtschnur werden für die Erkenntnis der Wahrheit, im Verständnis von Gott, Welt und Mensch, von Tod und Leben, von Zeit und Ewigkeit. Es geht um die Verwirklichung dessen, was das Neue Testament mit der Aussage meint, Jesus Christus sei uns von Gott gemacht nicht nur zur Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, sondern auch zur Weisheit. Sowohl im 1. Korintherbrief wie im Kolosserbrief stellt Paulus der philosophischen Erkenntnis, die sich an den Weltelementen orientiert, eine andere Weisheit gegenüber, für die Gottes Offenbarung in Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn, der neue Maßstab geworden ist. Die Ostkirche hat diesen Klang aus der urchristlichen Botschaft hingebungsvoll aufgegriffen und ihn in ihre Erlösungsmystik tief eingebaut. Angefangen von den Alexandrinern Clemens und Origenes läuft über Johannes Damaszenus bis hin zu den großen russischen Religionsphilosophen des 19. und 20. Jahrhunderts eine Christus-Sophia-Lehre, die das erneuerte Denken im Leben der Christen ebenso nachhaltig betont wie das Leben im Glauben. Wie steht es in der Beziehung im Bereich des Protestantismus? Luther hat die ratio als menschliches Vermögen außerordentlich hoch geschätzt. Er hat ihr in rebus civilibus (in weltlichen Angelegenheiten) eine entscheidende Rangstellung eingeräumt. Er wußte freilich auch um ihre Verirrung und Verfinsterung, besonders von dem unerlösten, affektgeladenen Triebleben her, was sich in dem harten Urteil über die „Hure Vernunft” ausdrückt. Der Reformator hat sich aber immer auch zu dem Satz bekannt: Affert gratia novum judicium omnium rerum. (Unter dem Gesichtspunkt der Gnade sieht alles anders aus.) Wenn es bei dem wiedergeborenen Menschen zu einer Wiederherstellung des Abbildes Gottes kommen darf, dann werden auch unsere Gedanken gefangengenommen unter dem Gehorsam Christi. Zur gleichen Überzeugung haben sich Hamann und Oetinger, der Magus des Nordens und des Südens, bekannt. Im 19. Jahrhundert waren es der hessische Lutheraner August Vilmar und der holländische Reformierte Abraham Kuyper, die ernst machten mit dem Satz, daß auch im wissenschaftlichen Erkennen „die Furcht des Herrn der Weisheit Anfang” ist. Trotz dieser namhaften Ansätze ist gleichwohl festzustellen, daß die Zielsetzung, als Christ zu denken, im Bereich des Protestantismus nur wenig wirksam geworden ist. Die große, vorbildliche Leistung blieb in der Hauptsache auf das Gebiet von Gesinnungsbildung und Charaktererziehung beschränkt. Während ein katholischer Akademiker als Philosoph, als Arzt, als Jurist oder Pädagoge durchaus dazu bereit ist, sein Fachgebiet der inhaltlichen Erkenntnis nach von katholischem Geist durchdringen zu lassen, hält es der evangelische Akademiker im allgemeinen weder für möglich noch für nötig, evangelisches Bewußtsein in sein berufliches Forschen aufzunehmen. Man ist im Herzen ein Christ. Die Kinder werden getauft, die Kirchensteuern bezahlt, die Ehe wird in Ehren gehalten, der Gottesdienst besucht, aber im Kopf huldigt man irgendeiner Gedankenanschauung, die einem seinerzeit auf der Universität von einem berühmten Lehrer nahegebracht worden ist, oder man macht die jeweils gültige Modeströmung unter der „Herrschaft des Man” mit, sei sie nun naturalistischer, pantheistischer oder evolutionistischer Art. Weil man im Blick auf das Denken vom Glauben her keine Aufgabe mehr sah, weil man nur allzu bereit war, das Denken freizugeben und von der Glaubenshaltung gänzlich abzutrennen, darum konnten andere Weltanschauungen so erfolgreich auf den Plan treten und das vom Glauben verlassene Gelände besetzen. Wie bedauernswert erscheinen demgegenüber unsere Kinder, selbst wenn sie eine „Christliche Gemeinschaftsschule” besuchen. Außer der Morgenandacht und dem gelegentlichen Schülergottesdienst empfangen sie kaum eine geschlossene christliche Ausrichtung in ihrem Denken. Da kann ein Vormittag durchaus so aussehen, daß von 8 bis 9 Uhr ein Physiker unterrichtet, der bei Ernst Haeckel stehengeblieben ist. In der darauffolgenden Stunde wird Geschichte in der biologischen Schau Oswald Spenglers getrieben. Um 10 Uhr betritt vielleicht ein pietistisch geprägter Pfarrer den Schulraum. Um 11 Uhr ist Turnstunde, von einer Gymnastiklehrerin gegeben, die für griechische Körperkultur schwärmt. Der Deutschlehrer, der das Tagespensum beschließt, hat seine geistige Heimat vielleicht bei Stefan George oder Gottfried Benn. So werden die guten Kinder an einem Vormittag durch einen ganzen Jahrmarkt von Weltanschauungen geschleppt. Wenn sie es auch erkenntnismäßig nicht klar zu ermessen vermögen, von welchem Bezugssystem her das ihnen Vorgetragene jeweils geprägt war, sie spüren doch die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Blickrichtungen und müssen dadurch zutiefst unsicher werden. Kein Wunder, wenn viele Eltern erklären: dann lieber zur Waldorfschule, wo wenigstens einheitlich der Dornacker Aspekt der Anthroposophie alles durchwaltet. Unter dem Eindruck solcher Beobachtungen, muß sich uns die Frage aufdrängen: sollte es nicht möglich sein, vom evangelischen Glauben her das Ganze der Weltwirklichkeit zu deuten und zu gestalten? Warum sollen nur der Kreml, der Vatikan und das Goetheanum einen universalen Weltdurchblick beibringen, während es in der Evangelischen Kirche mehr oder weniger dem Zufall überlassen bleibt, welcher Denkrichtung einer huldigt. Das Wort „Evangelische Weltanschauung” werden wir freilich für ein so gestecktes Ziel besser vermeiden. Der Ausdruck schmeckt zu sehr nach einem fertigen System, das uns aus Gründen, über die gleich noch zu sprechen sein wird, gerade nicht erlaubt ist. Karl Heim und sein Schüler Otto Dilschneider haben darum die wünschbare Forderung als „Weltbild des Glaubens” bezeichnet. Diese Formulierung ist eindeutig vorzuziehen, weil hier das Mißverständnis des Statisch-Fertigen vermieden wird, wogegen sich der Existentialismus in der evangelischen Theologie der Gegenwart begründeterweise sofort wenden würde. Versuchen wir jetzt, einige Merkmale herauszustellen, die für die Forderung, als Christ zu denken, wesentlich sind. Da muß zunächst daran erinnert werden, daß die Entzweiung, die zwischen Gott und Mensch unablässig geschieht, nicht nur unser voluntaristisches, sondern auch unser cognitives Vermögen ständig verletzt. Der von Gott gefallene Mensch ist nicht nur böse, er wird auch töricht, verblendet und irregeleitet in seinen Erkenntnisurteilen. „Die Sünde hat immer eine den Verstand verfinsternde Macht” (Adolf Schlatter). Wir alle wissen, wie der Haß unser Urteil trübt und verzerrt, wie Lieblosigkeit blind und ungerecht macht. Wir müssen darum sehr wohl damit rechnen, daß auch manches wissenschaftliche Dogma, das wir für streng objektiv gewonnen und darum gültig erachten, eine Fehlfeststellung sein könnte, im Zusammenhang mit der Tatsache, daß sich das abendländische Denken seit dem Zeitalter der Französischen Revolution immer weiter von der Wahrheitssonne des Evangeliums wegentfernt hat. Die superbia, die Gottes nicht mehr bedarf, als Grundeinstellung wissenschaftlicher Forschung, ist für die Gewinnung von Ergebnissen jedenfalls kein günstiger Ausgangspunkt. Darum kann es gar nicht anders sein, als daß sich im Denken des Menschen, der zum Glauben kommt, eine gewaltige Umwandlung vollzieht. Er wird vieles anders und vieles ganz neu sehen. Der Glaube, der ja nicht in einem Fürwahrhalten von theologischen Richtigkeiten besteht, sondern in einer persönlichen Vertrauensstellung zu Gott, der mir in Jesus Christus das Herz abgewonnen hat, dieser Glaube wird hinfort zum Grund und Maßstab nicht nur aller Gotteserkenntnis, sondern auch des Menschenverständnisses und der Weltdeutung. Da der Glaube kein ruhendes Sein ist, sondern immer neue Entscheidung in der Begegnung vor Gott, kann auch das intelligere ex fide und post fidem niemals die Gestalt eines fertigen Systems annehmen. Es ist vielmehr ein ständiges Ringen um die immer bessere und vollkommenere Erkenntnis dessen, was uns in dieser Welt von Gott her gegeben und aufgegeben ist. Insofern unterscheidet sich das Weltbild des Glaubens von jeder Art von Gnosis, sei sie christlicher oder außerchristlicher Art. Für die Gnosis alter und neuer Zeit gibt es kein Noch-Nicht, gibt es kein ehrfürchtiges Haltmachen an der eschatologischen Grenze. Aber nun ist die entscheidende Frage zu stellen: wie sieht denn eine solche fides quaerens intellectum (ein Erkenntnis suchender Glaube) praktisch aus und wer soll sie verwirklichen? Darauf ist folgendes zu antworten. Die Aufgabe, das Denken vom Glauben her fruchtbar zu machen, darf sich auf keinen Fall auf die theologischen Lehrinhalte, also auf das Nachdenken und Entfalten des christlichen Dogmas beschränken. So gewiß die christliche Theologie aller Konfessionen und Jahrhunderte in ihren größten Vertretern eine gewaltige Denkleistung darstellt, so wäre es doch überaus verhängnisvoll, wenn das glaubenserfüllte Denken an den Grenzen der Theologie haltmachen würde, um die übrigen Bereiche der Weltwirklichkeit einer Deutung und damit auch einer Gestaltung durch völlig andersartige fremdchristliche oder gar antichristliche Weltanschauungssysteme zu überlassen. Es muß vielmehr der Versuch gewagt werden, vom evangelischen Glauben her auch die nichttheologischen Wirklichkeitsbereiche in verantwortlicher Erkenntnisarbeit zu durchdringen. Eine solche gewaltige Bemühung kann niemals der Theologe allein leisten. Es fehlt ihm dazu nicht nur die umfassende Bildung, die für ein so anspruchsvolles Unternehmen unerläßlich nötig wäre, er gerät dabei auch allzuleicht in den Verdacht, ein theokratisches oder klerikales Herrschaftssystem im Namen seiner Konfession aufrichten zu wollen und wird dabei bei anderen Fakultäten wenig Aufgeschlossenheit und Gegenliebe finden. Die Durchdringung der Erscheinungsfülle der Welt vom Glauben her kann immer nur von Menschen gewagt und in Angriff genommen werden, die in den einzelnen Bereichen der Welt mit höchster Sachkenntnis und Orientierung stehen und die gleichzeitig in ihrem Leben eine so starke und mächtige Begegnung mit dem Evangelium erfahren haben, daß sie nicht anders können, als ihr Berufswissen, und nicht nur ihr Leben, dem Herrschaftsanspruch Christi ein- und unterzuordnen. Der Theologe kann bei diesem Vollzug immer nur eine begleitende und unterstützende Rolle spielen, indem er darüber wacht, daß es wirklich das reine, unverfälschte und nicht ein entstelltes, verkürztes, vom Zentrum an die Ränder verlagertes Evangelium ist, was als Lichtkegel auf die Bemühung um ein erneuertes intelligere (Erkennen) fällt. Zweifellos müssen wir bei einer solchen Zielsetzung unterscheiden, ob es sich um naturwissenschaftliche oder um geisteswissenschaftliche, das Verständnis des Menschen betreffende Inhalte handelt. Die Winkelsumme im Dreieck bleibt immer 180 Grad, der pythagoreische Lehrsatz wird dadurch nicht verändert, daß ich als Mathematiker Christ geworden bin. Die Ergebnisse der Physik und Chemie, die Befunde der Anatomie und Physiologie werden dadurch nicht berührt, daß der eine Forscher die atheistische, der andere die christusgläubige Haltung für seine Existenz gewählt hat. Die Jurisprudenz der Neuzeit kennt eine positivistische und eine metaphysische Auffassung des Rechts. Es kann kein Zweifel darüber sein, daß sich der Beruf des Richters sehr verschiedenartig darstellen wird, je nachdem, ob er die eine oder andere Überzeugung im Blick auf den Ursprung des Rechts vertritt. Auch die Kunst ist niemals eine rein ästhetische Angelegenheit. Gewiß gibt es zahllose Künstler, die von der Kunst jedes sittliche Wertprädikat unbedingt fernhalten wollen. Es soll allein gelten, ob ein Stück gut oder schlecht gemacht ist, unabhängig von seinem ethischen Wert. Deswegen kommt der Schöpfer von Kunstwerken doch nicht um die Tatsache herum, daß er mit seinem Schaffen immer irgendeiner geistigen Macht dient, sei es dem Heiligen, dem, was edel ist, oder dem, was gemein ist und zerstörerisch wirkt. Erst recht ist es völlig unmöglich, den Auftrag der Erziehung vom weltanschaulichen Vorzeichen abzulösen. Man sehe sich doch die Lehrbücher in einer roten Schule, in einer Klosterschule, in einer Rudolf-Steiner-Schule einmal genauer an, und man wird auf jeder Seite spüren, wes Geistes Hauch dahinter steht, in der Weltgeschichte, in der Literaturgeschichte, in der Kunstgeschichte! Sollte allein die evangelische Schule darauf verzichten, ein eigenes Gesicht zu haben? Man hört heutzutage ungezählte Klagen über den Verlust christlicher Gesinnung und Gesittung im öffentlichen Leben. So gewiß hier eine echte Not vorliegt, wir sollten darüber die andere, wie uns scheinen will, noch größere Not nicht übersehen, daß wir die Wirklichkeit des lebendigen Gottes aus dem Bereich der Wissenschaften verbannt haben. Unser Denken ist Gott fern und Gott fremd geworden, und wir dürfen uns nicht darüber wundern, wenn dieser Gang der Entwicklung zu schweren geistigen Krankheitssymptomen in unseren Tagen geführt hat. Das Denken aus Glauben bleibt der theologia crucis zugeordnet. Es gibt keinen törichteren Vorwurf, als zu behaupten, dabei würde in gnostischem Übermut eine theologia gloriae vorweggenommen. Das Denken im Glauben weiß um die ganze Bruchstückhaftigkeit seiner Bemühung. Es ist nie abgeschlossen, es bleibt immer in der Bewegung auf das letzte Ziel hin, dessen wir in Hoffnung fröhlich warten. Das Schauen Gottes und damit der vollkommene Durchblick durch alle seine Wege und Werke bleibt dem Menschen der Auferstehung in der neuen Welt Gottes vorbehalten. Und doch kann der Glaube nicht anders, als schon in dieser Weltzeit um erleuchtete Augen des Verständnisses zu bitten. Eine solche Meta-noëtik ist nicht mehr als ein Vorschmack zukünftiger Güter. Wie sollten wir aber des Zukünftigen gewiß werden, wenn nicht der Anfang der Vollendung uns jetzt schon im Glauben zuteil wird? Quatember 1961, S. 61-67 |
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