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Der immerwährende Lobgesang
von Wilhelm Stählin

LeerDie „täglichen Gottesdienste” der Kirche sind Gebetsgottesdienste, und ihr wesentlicher Inhalt ist das Lob Gottes, das der Kirche stellvertretend für alle Kreaturen aufgetragen ist. Das Lied, mit dem Cornelius Becker den 100. Psalm in eine liedmäßige Form gebracht hat „Nun jauchzt dem Herren, alle Welt” (EKG 187), hat den Aufruf zu diesem immerwährenden Lobgesang in der knappsten Weise ausgedrückt: „Gott loben, das ist unser Amt”. Darum gehören zu den festen Bestandteilen dieses täglichen Gebetes (auch „Stundengebet” genannt) die „Cantica”, das sind jene Lobgesänge, die außerhalb des Psalters in der Heiligen Schrift enthalten sind; drei von ihnen gehören dem Neuen Testament und zwar den Lukanischen Geburts- und Kindheitsgeschichten an (Luk. 1 und 2), während alle anderen im Alten Testament oder in den Apokryphen zu finden sind. Die drei neutestamentlichen Cantica, der Lobgesang der Jungfrau Maria (Luk. l, 46-55), der Lobgesang des Zacharias (Luk. 1, 68-79) und der Lobgesang Simeons (Luk. 2, 29-32), sind im regelmäßigen Gebrauch auch der evangelischen Christenheit, und bei festlichen Gelegenheiten tritt daneben der „Gesang der drei Männer im Feuerofen” (in der Luther-Bibel als das vorletzte der apokryphen Bücher zu finden). Weil es uns aufgetragen ist, das, was wir im Gottesdienst singen und beten, auch mit Bewußtsein und Verständnis zu durchdringen, damit die regelmäßige Wiederholung nicht zu einer gedankenlosen und leeren Gewohnheit entarte, darum sollen in den vier Heften dieses Jahrgangs diese vier Cantica ausgelegt und der Sinn ihres regelmäßigen Gebrauchs erörtert werden.

1. Magnificat
2. Benedicite
3. Benediktus
4. Nunc dimittis

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1. Magnificat

LeerEs heißt (Luk. 1, 41), daß Elisabeth, als Maria zu ihr übers Gebirge Juda kam, vom Heiligen Geist erfüllt wurde und ihr in solcher Weise inspirierter Gruß in dem Herzen der Maria einen Lobgesang erweckte, der ihr alsbald über die Lippen strömte. Dieser Lobgesang wird nach dem ersten Wort des lateinischen Textes (Magnificat anima mea Dominum) das Magnifikat genannt. Er zeigt durchaus den Stil der alttestamentlichen Psalmen; der Lobgesang der Hanna (1. Sam. 2, 1-10) ist auch inhaltlich eine deutliche Parallele. Weil darin weder auf die vorhergehende Verkündigung durch den Engel, noch auf die Begegnung der beiden Frauen (in der Sprache der Liturgie und der kirchlichen Kunst „Heimsuchung” genannt) ausdrücklich Bezug genommen wird, ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß hier ein aus anderen Quellen stammendes Stück der Psalmendichtung der Jungfrau Maria in den Mund gelegt ist; aber es ist der besonderen Situation der Mutter des Herrn so sehr angemessen und durch diese Überlieferung nun so eng mit der Gestalt der Maria verbunden, daß wir es mit gutem Recht als den Lobgesang der Maria kennen und lieben und, indem wir es im Gottesdienst gebrauchen, „mit Maria” den Herrn loben; so wie das Vaterunser Muster und Norm jedes christlichen Gebets ist, so ist dieser Lobgesang der Maria das Urbild des christlichen Lobgesangs geworden.

LeerLuther hat das Magnifikat besonders geliebt und hat es in einer eigenen kleinen Schrift ausgelegt, die er unmittelbar vor der gefahrvollen Reise nach Worms, im März 1521, begonnen und unmittelbar danach auf der Wartburg vollendet hat. Er hat diese Schrift in einer sehr bemerkenswerten Weise dem künftigen Kurfürsten, dem damaligen Herzog von Sachsen, Johann Friedrich, als eine Art Fürstenspiegel gewidmet. Jede evangelische Rede von Maria, der Mutter des Herrn, muß immer wieder bedenken, was Luther in dieser Schrift über Maria als die arme und niedrige Magd des Herrn geschrieben hat; gerade weil sich seine nüchterne Art so weit entfernt von dem Überschwang, in dem ebenso die Mariendichtung des späten Mittelalters wie die darstellende Kunst jener Zeit schwelgte.

LeerDas Wort, mit dem ebenso der lateinische wie der griechische Text jenes Lobgesangs beginnt (magnificat), bedeutet eigentlich: groß machen. Gewiß hat Luther recht, wenn er dieses Wort nur so verstehen will, daß Maria die Größe und die Großtaten Gottes preisen will, und weder zu der Macht noch zu der Heiligkeit Gottes (Vers 49) vermag der Mensch mit seinem Lobgesang etwas hinzuzutun, so wenig er sie mit seinem gedankenlosen oder trotzigen Schweigen mindern kann; aber doch ist unser Lobpreis das volltönende Echo seines schöpferischen Wortes, und, wie das im Spiegelbild zurückgeworfene Licht den festlichen Glanz vermehrt, so ist er selbst ein Stück der Herrlichkeit Gottes, die gepriesen wird von denen, die seine Macht und seine Barmherzigkeit erfahren haben: „Mein Seel' soll auch vermehren sein Lob an allem Ort”.

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LeerWeil wir in der deutschen Sprache die lateinische Voranstellung des Verbums nicht nachahmen können (magnificat anima mea Dominum), gewinnt hier in Luthers Übersetzung das Subjekt „meine Seele” und „mein Geist” ein Gewicht, das nicht der Intention dieses Satzes entspricht; und wenn, wie es leider herkömmlich ist, dieses Magnifikat nach dem dafür völlig ungeeigneten neunten Psalmton gesungen wird, wird durch die musikalische Figur am Anfang auch noch das „meine Seele” betont; wenn man dagegen den ersten Psalmton verwendet (f g aaa c a g a), so kommt alles in eine sehr viel bessere und sinngemäße Ordnung.

LeerDa Luther unter ausdrücklicher Berufung auf 1. Thess. 5, 23 Geist, Seele und Leib als drei Wesensglieder des Menschen unterscheiden will und allein dem Geist zutraut, daß er durch den rechten Glauben „die unbegreiflichen Dinge fängt”, so liegt doch hier schwerlich irgendein Akzent auf der Unterscheidung von Seele und Geist in den beiden parallelen Satzhälften; vielmehr bezeichnen beide das Inwendige des Menschen, dessen der Mensch selber nicht mächtig ist, und in dem der Fromme erfährt und erleidet, was Gott in ihm wirkt. „Es schwebt mein Leben und alle meine Sinne in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, daß ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde, denn ich mich selbst erhebe zu Gottes Lob” (Luther) (1).

Leer„Frohlocken” oder „Jauchzen” ist mehr als rein inwendiges Freuen; exsultavit, wie es im lateinischen Text heißt, bezeichnet eigentlich ein Springen, mit dem sich der Mensch von sich selber, jedenfalls von dem Standort seines normalen Seelenzustandes, löst. In der „Rühmung” Gottes (Rilke) gerät der Mensch in gewissem Maß außer sich, aber eben „über sich” in die Sphäre des göttlichen Heils, nicht „unter sich” in jene Tiefen und Abgründe, in denen der Mensch sein wahres Selbst verliert.

LeerDer Überschwang dieser Freude ist freilich nicht eine Verzückung ohne klar bewußten Inhalt (derart wie vor einem Menschenalter unsere Kirchenchöre sich gern auf Lieder eines allgemeinen Gotteslobes ohne klar erkannten Glaubensinhalt beschränkt haben), sondern es ist die Antwort auf den Gruß des Engels „Freu dich, Begnadete!” und auf die Benedeiung durch Elisabeth „Selig bist du, die du geglaubt hast”; die Freude der Jungfrau Maria ist ganz und gar die Freude über das Heil, oder vielmehr in dem Heil, das ihr widerfahren ist, und das Zeugnis, daß sie mit Seele und Leib das wirklich angenommen hat, was ihr verkündigt worden ist.

LeerSie jubelt, weil Gott sie „angesehen hat”, angesehen mit dem Blick, der Gottes „Wohlgefallen”, Erwählung und Begnadung in einem bedeutet. Luther hat in seiner Verdeutschung des Magnifikat geschwankt zwischen der Beibehaltung der Umschreibung „Die Niedrigkeit (oder Nichtigkeit) seiner Magd” (nach Analogie von „die Majestät des Königs”) und der direkten und persönlichen Ausdrucksweise „mich, seine geringe Magd”; er hat sich in seiner Bibelübersetzung von der wörtlichen Vorlage, die ihm durch den lateinischen Text vertraut war, nicht trennen können, aber er hat in liturgischen Texten die freie und sachlich richtigere Wiedergabe vorgezogen, und warum sollten wir nicht seinem Vorbild folgen und singen: „Er hat mich, seine geringe Magd, angesehen”? Denn so wenig Maria selbst vor Gott über ihre Niedrigkeit reflektiert oder darüber redet, so wenig schaut Gott diese Niedrigkeit als solche an; sondern er schaut den armen, geringen Menschen an, der nichts anderes aufzuweisen hat als eben dieses, daß Gottes liebendes und erwählendes Auge auf ihm ruht. Luther legt in seiner Auslegung den größten Wert darauf, daß humilitas nicht mit Demut, sondern mit Niedrigkeit wiedergegeben werde. Denn es gibt eine falsche Demut, die sich Gott und Menschen als Demut zur Schau stellt; „rechte Demut weiß nimmer, daß sie demütig ist”.

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LeerLuther kann sich nicht genug tun, die wirkliche Niedrigkeit der Magd des Herrn zu beschreiben: sie müsse, meint er, arme, verachtete, geringe Eltern gehabt haben, und sie selber sei eine geringe und verschmähte Magd gewesen; und sie sei für den Dienst, zu dem Gottes Gnade sie berufen hat, nicht tauglicher als das Holz dazu taugt, daß Christi Kreuz daraus gezimmert werde. Man soll erkennen, daß alles allein Gottes Gnade und Güte ist. Auch ohne ausdrückliche Polemik würden wir spüren, wie sehr Luther, indem er dieses mit vielen Worten unterstreicht, die „geringe Magd” von dem Purpurmantel befreien will, den die üppig blühende Marienfrömmigkeit der regina coeli um die Schultern gelegt hat. Es liegt alles allein an dem „Ansehn” Gottes, bei Maria ebenso wie bei Abel, dessen Opfer Gott gnädig angesehen hat; und wir sehen mit erschreckender Deutlichkeit die zwiefache Gefahr, daß der überschwängliche Lobpreis der Reinheit und Demut Mariens das Geheimnis ihrer Erwählung verdunkelt, oder daß auf der anderen Seite der Protest gegen solche Übermalung des biblischen Bildes nicht mehr wahr haben will, daß eben die Jungfrau Maria in ihrer Niedrigkeit von Gott angesehen wird und darum selig zu preisen ist.

LeerDenn auch dieses gehört zu dem Geheimnis der Gnade, daß der also Begnadete nicht ausgelöscht wird, wie es in aller Mystik geschieht, sondern nun gerade in seinem Personsein ernst genommen und erhalten wird. Dieses ist auch der tiefe Sinn der früh auftauchenden Legende, daß Maria in der Geburt und nach der Geburt auch im physischen Sinn Jungfrau geblieben sei, und eine stark an die jungfräuliche Gottesmutter gebundene Frömmigkeit wird sich durch die Nüchternheit der biblischen Darstellung nicht verbieten lassen, jenes Geheimnis der göttlichen Einwohnung, die ihr Gefäß nicht wie der Dämon zerbricht (jenes Geheimnis, das Mose in dem Bild des brennenden, aber vom Feuer nicht verzehrten Busches geschaut hat), sich auch in jener legendären Weise zu vergegenwärtigen.

LeerDarum ist nicht zu überhören oder zu überlesen, daß die Jungfrau Maria die zwiefache Benedeiung, mit der Elisabeth sie begrüßt hat, nun in aller wirklichen Demut annimmt und bejaht: „Mich werden selig preisen alle Geschlechter” (Vers 48sb). Sie, die den Herrn empfangen und geboren hat, kann nicht in ein erbauliches Symbol aufgelöst werden, sondern es gilt auch von ihr als menschlicher und geschichtlicher Person, was Paulus von sich bekennt: Von Gottes Gnade bin ich, was ich bin.

LeerDas Gotteslob entzündet sich an persönlicher Erfahrung. „Der Herr hat große Dinge an mir getan”. Es ist weder nötig noch möglich, das Einzelne aufzuzählen; in den „großen Dingen”, in den Großtaten Gottes ist alles eingeschlossen, was Maria durch die Botschaft des Engels vernommen hat und was Gottes Gnade an ihr tun wird. Aber könnten wir einstimmen in ihr Magnifikat, wenn sie in einer höchst persönlichen Weise erzählen wollte, welches ihre besondere Erfahrung von Gottes großen Taten gewesen ist? Über jedes persönliche Danken, über die „provinzielle” Enge eigener Schmerzen und Freuden, erhebt sich dieses Lob Gottes zu der reinen Anbetung der Größe, der Macht und Herrlichkeit Gottes. Gott ist „eine wirkende Macht und stetige Tätigkeit, die ohne Unterlaß im Schwange geht und wirkt”. „Heilig ist Sein Name”; sein Name, der immer offenbar und verborgen zugleich ist; die über alles Menschenmaß, alle menschliche Fragwürdigkeit und alle menschliche Tugend erhöhte Majestät Gottes ist der rechte Anlaß und Inhalt des Lobes, mit dem der Mensch den Blick von sich selbst, von seinem Tun und Wesen (von seinen Tugenden ebenso wie von seinen Mängeln und Fehlern) hinweg lenkt auf das demütige Anschauen dessen, der immer „wunderbar ist mit seinem Tun unter den Menschenkindern” (Ps. 66, 5).

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LeerEin Ausleger (Robert Leuenberger, Das Magnifikat, EVZ-Verlag, Zürich) macht darauf aufmerksam, wie in diesem Lobpreis die ersten Bitten des Vaterunsers in ihrer schon geschehenen Erfüllung wiederklingen: Gottes heiliger Name wird gepriesen, sein Reich ist im Kommen, sein Wille geschieht an dem Menschen, der sich ihm ergibt. Man kann auch mit gutem Recht aus diesem zentralen Vers einen vorweggenommenen Protest heraushören gegen die Gefahr, daß aus dem Lobgesang der gebenedeiten Jungfrau ihre eigene Lobpreisung wird und aus dem Lob Gottes, der allein heilig und der Anbetung würdig ist und der allein helfen kann, eine Anrufung der Gottesmutter, die fast zum Rang einer Mutter-Gottheit erhoben ist; Er allein ist mächtig; Sein Name allein ist heilig!

LeerEs ist kein Gegensatz oder Widerspruch, wenn die Barmherzigkeit des Heiligen gerühmt wird (Vers 50). Denn die barmherzige Liebe, die sich zu dem Niedrigen neigt (woran ja das deutsche Wort Gnade, das heißt Ge-nade erinnert), ist von seiner Heiligkeit nicht zu trennen, mit der er von der Unbarmherzigkeit der Menschen, der Natur und des ganzen Weltlaufs geschieden ist; so wenig wie die Furcht Gottes (Vers 50) zu lösen ist von der vertrauensvollen Annahme seiner Barmherzigkeit. Diese Barmherzigkeit währt für alle Geschlechter, oder, wie es an parallelen Stellen heißt „von Geschlecht zu Geschlecht”, von Ahnen zu Enkeln, wie man das wohl verdeutschen könnte. Warum Luther diesen anschaulichen und personalen Ausdruck durch das langweilige „für und für” ersetzt hat, ist nicht einzusehen; noch weniger, warum wir diese schlechte Übersetzung beibehalten.

LeerNun erst erhebt sich der Lobgesang zu dem Größten und Herrlichsten, das er an Gottes Heiligkeit und Barmherzigkeit zu rühmen hat. Die Maßstäbe menschlicher Größe und Macht gelten vor ihm nicht, sondern er verkehrt sie ins Gegenteil; die gewaltigen Herren stößt er von ihrem Thron und erhebt die, die im Staube ihrer Niedrigkeit liegen. Luther hat gemeint, daß hier (Vers 51-53) sechs Werke Gottes aufgezählt gefunden werden können, oder daß man wenigstens Gottes Zorngericht über alle Hoffart und Gottes Barmherzigkeit und Liebe zu den Armen, Schwachen und Geringen als „Gottes Barmherzigkeit zur linken” und Gottes Walten zur rechten Hand unterscheiden müsse; aber damit wird auseinandergcrissen, was doch nur zwei Seiten einer und derselben schöpferischen Aktivität Gottes sind, und die beide der unmißverständliclie Ausdruck seiner Majestät, seiner Erhabenheit über alle irdischen Schicksale und Maßstäbe sind. Dieses aber durchzieht als ein Grundgedanke die ganze Heilige Schrift, daß die Hoffart, die superbia, als der eigentliche Sündenfall des Menschen, Gott ein Greuel ist, daß sich die creatio ex nihilo als die Kraft erweist, die in dem Schwachen mächtig wird. „Die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn”: das sind ja nicht nur die mächtigen und stolzen Herren, die für jene superbia besonders anfällig sind; sondern das ist der Mensch schlechthin, der hoch hinaus will, der seine ihm gesetzten Grenzen überspringen will und eben als der Übermensch, der er sein will, zum Untermenschen wird. Eben dieses besingt der Lobgesang der Mutter des Herrn, und dieser Grundton biblischer Gotteserkenntnis ist gerade an Weihnachten besonders deutlich vernehmbar:
„Das hat also gefallen dir,
die Wahrheit anzuzeigen mir,
wie aller Welt Macht, Ehr und Gut
vor dir nichts gilt, nichts hilft noch tut.”
LeerEs gehört wesentlich zu dem Stil des Lobgesangs, daß Maria sich mit ihren Vätern verbindet und mit deren Worten redet. Das Magnifikat ist ein Teppich, dessen Fäden den Psalmen oder anderen Gesängen des Alten Testaments entnommen sind. Das unerhört Neue ist immer zugleich das Uralte, wie es war von Anbeginn, und wer die Stimme der Väter und die Stimme Gottes zu den Vätern verachten wollte, hätte auch seinen Kindern nichts zu vererben. Der Glaubende beruft sich auf die Verheißungen, die den Vätern gegeben sind, und vertraut darauf, daß Gott ihrer „gedenkt”, das heißt, sie wahr macht an denen, die Er „angesehen” hat; der Glaubende gehört zu den Kindern Abrahams, des Vaters der Glaubenden, die Gottes mächtigen Anruf vernommen haben, die diesem Anruf gefolgt sind und in den Bereich des ganz und gar unbekannten und ungesicherten Lebens sich gewagt haben und eben auf diesem Weg der Gefahr und des Opfers gesegnet sind.

LeerEs bedarf eines letzten Wortes. Was bedeutet es, wenn die Kirche diesen Lobgesang der Jungfrau Maria, das Magnifikat, sich zu eigen macht und ihn in vieltausendstimmiger Wiederholung in ihrem täglichen Abendgebet betet und singt? Es ist gewiß nicht nur und nicht einmal in erster Linie dieses, daß die gegenwärtig Lebenden sich in die Reihe der Geschlechter einfügen, die Maria, die demütige und gehorsame Magd des Herrn, um ihres Glaubens willen selig preisen und benedeien. Denn wir lobpreisen ja nicht sie selbst, sondern mit ihr den Herrn, den mächtigen, heiligen und barmherzigen. Die Kirche weiß sich selbst als die geringe Magd, die allein davon und dadurch lebt, daß Gott sie in ihrer Niedrigkeit ansieht, die nichts aufzuweisen hat an eigener Tugend, Kraft und Herrlichkeit und die alsbald von ihrem angemaßten Thron gestoßen wird und gestoßen werden muß, wenn sie selbst den Prunkmantel göttlicher Majestät um ihre ach so schwachen Schultern legen will. Es gehört zu der Demut, die ihrer Niedrigkeit geziemt, daß sie bei aller Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit ihres Zeugnisses an die Welt sich an die den Vätern gegebenen Verheißungen klammert und, wie Maria selbst, ihren Lobgesang mit den Worten der Väter, und in diesem Fall mit den Worten der Mutter des Herrn, vor Gott bringt; in solchem Lobgesang öffnet sich der Raum, wo Gott sich ausgesprochen hat und wo sein gnädiges Ansehen, seine Verheißung und sein wunderbares Tun wahrgenommen, verstanden und gepriesen wird.

Anm. 1: Wenn nichts anderes vermerkt, stammen die Zitate aus Luthers oben erwähnter Auslegung des Magnifikat.

Quatember 1962 S. 2-7

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2. Benedicite (Der Gesang der drei Männer im Feuerofen)

LeerDas nach dem legendären Propheten Daniel genannte Buch gehört zu den spätesten Schriften des Alten Testamentes und ist, wie die darin enthaltenen persischen und griechischen Wörter beweisen, erst in der griechischen Zeit, nach allgemeiner Annahme etwa im Jahr 167 v. Chr. Geburt geschrieben worden. Das dritte Kapitel enthält die Geschichte von dem großen Bild, das der König Nebukadnezar im Tal Dura errichten ließ und für das er von allen Untertanen göttliche Verehrung verlangte, und von den drei hebräischen Männern - sie heißen Hananja, Misael und Asarja, mit ihren chaldäischen Namen Sadrach, Mesach und Abed-Nego -, die sich diesem königlichen Befehl widersetzten und darum in den glühenden Ofen geworfen und daraus wunderbar errettet wurden. In der griechischen Übersetzung, der sogenannten Septuaginta, ist in diesem Kapitel zwischen den Versen 23 und 24 des hebräischen Textes ein längerer Einschub enthalten, der dann auch in die abendländische, von der Septuaginta abhängige lateinische Übersetzung des Hieronymus, die sogenannte Vulgata, und damit in den Gebrauch der römisch-katholischen Kirche übergegangen ist.

LeerDa Luther sich an die hebräische Textvorlage gehalten hat, erscheinen jene Stücke in unseren Bibeln als „Zusätze zu Daniel Kap. 3” am Ende der Apokryphen. Der erste dieser Zusätze ist das Gebet Asarjas, der zweite „der Gesang der drei Männer im Feuerofen”. Dieser letztere Lobgesang wird nach dem ersten Wort des in der römischen Kirche gebräuchlichen lateinischen Textes das Benedicite genannt und ist schon frühzeitig, zum Beispiel in der gallikanischen und der mozarabischen Liturgie, als festes liturgisches Stück überliefert. In den Gottesdienstordnungen der reformatorischen Kirchen gehört der „Gesang der drei Männer” zwar nicht wie die drei lukanischen Cantica (die in den anderen Heften dieses Jahrgangs ausgelegt werden), zu den festen Bestandteilen des täglichen Gebetsgottesdienstes, aber er wird trotz seines apokryphen Ursprungs gerne an bestimmten Tagen oder Anlässen als ein besonders festlicher Lobgesang gebraucht.

LeerDenn dieses Benedicite ist in der Tat ein großartiger Hymnus, der nach dem Vorbild von Psalm 148 in grandioser Weite den ganzen Kosmos in den Lobpreis Gottes mit einbezieht und die Elemente der äußeren Welt aufruft: „Lobet den Herrn, preiset und rühmet ihn ewiglich!” Weil Gott alles geschaffen hat zu seiner Ehre, erfüllen „alle seine Werke” den Sinn ihres Daseins, indem sie, jedes in seiner Weise und in seiner Sprache, einstimmen in diesen großen, Himmel und Erde erfüllenden Lobpreis des Schöpfers. Mit wenigen Ausnahmen werden (von Vers 41 an) diese Werke paarweise angeredet und dabei im allgemeinen verwandte Erscheinungen, Sonne und Mond, Regen und Tau, Feuer und Hitze, Eis und Frost, Berge und Hügel, seltener gegensätzliche Potenzen wie Tag und Nacht, Licht und Finsternis in einer Verszeile zusammengefaßt.

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LeerIn welchem Sinn können die Kreaturen, die wir überheblich die „unvernünftigen Kreaturen” nennen, Gott loben, preisen und rühmen? Sie haben keine andere Stimme als die ihres Seins, und sie loben Gott nicht anders, als daß sie das ganz und gar sind, was sie nach ihrer kreatürlichen Anlage sein müssen. Es kann keinen Neid und keine Konkurrenz unter ihnen geben, da sie nicht teilhaben an dem frevelhaften Verlangen, das von Adam her als ein Fluch auf dem Menschengeschlecht lastet, dem Verlangen, die Grenzen des eigenen Seins zu überspringen. Luther schreibt in der Auslegung des Magnificat: „Ein Vogel singt und ist fröhlich in dem, das er kann, und murrt nicht, daß er nicht reden kann. Ein Hund springt fröhlich und ist zufrieden, obgleich er nicht vernünftig ist. Alle Tiere lassen sich begnügen und dienen Gott mit Liebe und Loben; nur das schalkhafte, eigennützige Auge des Menschen ist ‚unsättig’ und ist doch nicht geschickt dazu, daß es möchte voll werden, um seines Undanks und Hochmuts willen.” Aber während Luther hier nur an die Tiere denkt, will jenes Benedicite auch die Elemente des irdischen und des außerirdischen Kosmos zu einem vieltausendstimmigen Lobgesang zusammenschließen, auch Meer- und Wasserströme, bis hin zu den Sternen am Himmel. Dabei ist es besonderer Beachtung würdig, daß der Dichter, dieses Psalms keinen Unterschied macht zwischen dem, was vom Menschen her gesehen angenehm, schön und nützlich ist, und jener anderen Seite der geschaffenen Welt, aus der die schrecklichen zerstörerischen Kräfte uns bedrohen: Schlossen und Hagel, Eis und Frost, Reif und Schnee, Blitz und Wolken: Lobet den Herrn, preiset und rühmet ihn ewiglich. Sie loben den Schöpfer, indem sie ihrem Wesen gehorsam Furcht erregen, Leben bedrohen und Leben zerstören, und also ausrichten, wozu sie geschaffen sind.

LeerWenn Hans Urner in seinem Buch „Gottes Wort und unsere Predigt” unterscheidet zwischen der „Stimme” Gottes, die auch in außerbiblischen Naturerfahrungen vernehmbar wird, und seinem „Wort” als dem Träger seiner Offenbarungen, so entsprechen gewiß die Lobgesänge, die Eis und Frost, Schlossen und Hagel, Sturmwinde und Meeresungeheuer Gott darbringen, jener Stimme mehr als dem Wort Gottes; aber es wäre sicherlich falsch, nur von dem Wort Gottes zu reden, ohne auf jene gewaltigen und unheimlichen Stimmen zu hören.

LeerLeider läßt sich in der deutschen Übersetzung die sehr ausdrucksvolle Wortstellung des griechischen Textes nicht wohl nachahmen; es ist Vers für Vers das Verbum vorangestellt und dadurch werden alle einzelnen Anreden aufs engste zusammengeschlossen: „Lobet, Eis und Frost, den Herrn!”

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LeerAber dieser kosmische Lobgesang kann nur recht verstanden werden in seiner eigentümlichen Umrahmung. Das Lob, das die drei Männer anstimmen, gilt dem Gott der Väter und seinem herrlichen und heiligen Namen, also dem Gott, der sich in der Geschichte geoffenbart hat, deren Erben wir sind; er gilt Gott in seinem heiligen herrlichen Tempel und zugleich dem Gott, der über den Cherubim thront (Vers 30f.) und nachdem alle Kreaturen, wie sie der Beter kennt, aufgerufen sind, ihren Lobgesang darzubringen, wendet sich der große Appell doch zuletzt an die Menschenkinder, weil sie allein diesem Gotteslob Ausdruck und Stimme geben können. Freilich sollte man keine tiefsinnigen Gedanken suchen in der Reihenfolge, in der dann bestimmte Gruppen unter den Menschen aufgefordert werden, in dieses Gotteslob einzustimmen; immerhin, man möge sich einmal vergegenwärtigen, daß zuerst (Vers 59) das Volk Gottes als Ganzes, danach (Vers 60 f.) die Priester und alle, die in einer spezifischen Weise „Knechte des Herrn” zu sein berufen sind, aufgerufen werden; danach (Vers 62 f.) die Geister und Seelen der Gerechten, die Heiligen, so elend und betrübt sind. Ganz zuletzt erst wird offenbar, warum ein solcher weltumspannender Hymnus den drei Männern im Feuerofen Hanaja, Asarja und Misael in den Mund gelegt ist; sie hat Gott errettet aus dem glühenden Ofen, er hat sie mitten im Tod erhalten und damit an ihnen sein opus proprium getan, Leben zu erhalten und aus dem Tode zu retten.

LeerDarum gebrauchen wir diesen Gesang der drei Männer mit besonderer Vorliebe zur österlichen Zeit, in der wir die Kraft Gottes preisen, mit der er Christus erweckt hat aus dem Tode und mit der er uns, wie wir hoffen und glauben, befreien wird aus den Banden des Todes, in denen wir gefangen liegen. Man kann diesen großen Lobgesang nicht allzuoft singen und beten, nicht nur wegen seiner Länge, sondern weil die kosmische Weite dieses Gebetes das Gefängnis unseres kleinen, eigenen Lebens allzu empfindlich sprengt. Aber wenn wir „das hohe Fest mit Herzensfreud' und Wonne feiern” und dann auch jene Osterlieder singen, in denen die Erde und alle Kreaturen aufgerufen werden, sich an diesem Tag mit zu freuen, dann kann der österliche Jubel auch einmal wieder sich in dieses sehr festliche Gewand des Benedicite kleiden.

LeerVielleicht ist es hilfreich, ein paar Worte über die rechte Ausführung beizufügen. Die überhaupt fragwürdige Gewohnheit, die Psalmen im versweisen Wechsel zwischen zwei Chören zu singen, ist bei diesem Lobgesang offenbar gänzlich unpassend. Vielmehr muß dafür eine andere Form, ähnlich wie bei unseren Litaneien gefunden und praktiziert werden; das heißt, es sollte ein Vorsänger (oder eine ganz kleine Gruppe gleicher und gut zusammenklingender Stimmen) jeweils die wechselnden Anreden vortragen und die ganze Gemeinde, ohne Teilung in zwei Chöre, mit der gleichbleibenden Aufforderung „Preiset und rühmet Ihn ewiglich” antworten. Wenn dafür einer der herkömmlichen Psalmtöne verwendet werden soll, dann käme in erster Linie der V. Ton oder VIII c in Betracht; doch müßten vielleicht für den rechten Gebrauch dieses reichen und beschwingten Lobgesangs neue musikalische Formen gefunden werden.

Quatember 1962, S. 50-53

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3. Das Benediktus (Der Lobgesang des Zacharias)

LeerDas 1. Kapitel des Lukas-Evangeliums enthält neben dem Lobgesang der Jungfrau Maria, dem Magnifikat (vgl. dessen Auslegung im Weihnachtsheft dieses Jahrgangs), den Lobgesang des Zacharias, nach dem ersten Wort des lateinischen Textes das Benediktus genannt (Luk. 1, 68-79). Es ist anzunehmen, daß auch dieser Lobgesang ebenso wie das Magnifikat eine ältere Dichtung nach dem Vorbild der alttestamentlichen Psalmen ist, die nicht nur dem Vater des Johannes in den Mund gelegt wird, sondern auch auf die besondere Situation bei der Geburt des Johannes bezogen wurde. Der vorangehende Vers (67) sagt ausdrücklich (und zwar mit den gleichen Worten, die vorher, Vers 41, mit Bezug auf den Gruß Elisabeths an Maria gebraucht worden sind), daß Zacharias zu diesem seinem Lobpreis Gottes vom Heiligen Geist inspiriert wurde und mit seinem Lied „weissagte”, das heißt aus verborgener Tiefe heraus etwas aussprach, was in seinem Sinngehalt hinausging über das, was er selbst in dieser Stunde bedenken und verstehen konnte; eine solche „Prophetie” ist gewiß ein Kennzeichen jedes echten vom Geist Gottes eingegebenen Lobgesangs.

LeerDer Lobgesang des Zacharias ist in der Ordnung des kirchlichen Gebetsgottesdienstes dem „Morgenlob” zugeordnet und wird wenigstens in der festlichen Form des Morgengebetes regelmäßig gesungen; die Vermutung liegt nahe, daß dazu Vers 78 Anlaß gegeben hat, worin für das kommende Heil das Bild eines aufgehenden Gestirns gebraucht wird; tiefer als diese etwas äußerliche Anknüpfung würde der Gedanke greifen, daß dieser Lobgesang sozusagen in der Morgenfrühe des mit der Erscheinung Christi anhebenden neuen Weltentages gesungen ist, was freilich auf den Lobgesang der Jungfrau Maria, das Magnifikat, im gleichen Maß zutrifft; alle solche Deutungen vermögen nicht gänzlich zu verdecken, daß jeder Zuordnung solcher biblischer Stücke zu bestimmten Gebetszeiten stets ein Moment der Willkür anhaftet, das durch tiefsinnige Begründungen nicht aufgehoben werden kann.

LeerFormal ist zu sagen, daß dieser Hymnus sprachlich einige Schwierigkeiten bietet; vor allem ist, zumal in der deutschen Sprache, ein so kompliziertes Satzgefüge (Vers 68 - 75 bilden einen einzigen Satz!) schwer durchschaubar und sollte darum in eine Reihe kurzer Sätze aufgelöst werden, wie wir das in unseren „Psalmgebeten” getan haben, um den mitbetenden Vollzug zu erleichtern. (Es ist nicht recht einzusehen, warum das in der revidierten Fassung des Luthertextes, 1956, nicht auch geschehen ist.) Eine weitere Schwierigkeit für den liturgischen Gebrauch bildet die Anrede an das neugeborene „Kindlein” (Johannes) in Vers 78; die allegorische Deutung dieses Kindleins auf den eben angebrochenen jungen Tag ist eine geistreiche Spielerei, an der wir keinen Geschmack gewinnen können; wir haben in unserer Bearbeitung des Benediktus in unseren „Psalmgebeten” darum diese Anrede durch eine Betrachtung über den Dienst des Propheten (im weitesten Sinn dieses Wortes) ersetzt: „Siehe, der Prophet des Höchsten geht her vor dem Herrn . . .” Zu solchen Änderungen muß man sich die Freiheit nehmen, da, wo der liturgische Gebrauch eines biblischen Textes zu einem unnatürlichen und gesetzlichen Krampf zu werden droht.

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LeerAuf der anderen Seite ist es für den liturgischen Gebrauch hilfreich, wenn man sich vorher über den Inhalt dieses komplizierten Gedankengefüges Rechenschaft gibt, damit die Zusammenhänge dann auch währenddes betenden Vollzugs gegenwärtig bleiben. Eben diesem Versuch dient die folgende Auslegung.

LeerMit den beiden ,anderen großen Lobgesängen, dem Magnifikat und dem Gesang der drei Männer im Feuerofen, hat der Lobgesang des Zacharias dieses gemein, daß das Wort des Lobpreises eulogetós, benedictus Dominus deus Israel an der Spitze steht; daran schließt sich sofort Grund und Inhalt dieses Lobpreises: Gott hat sein Volk „erlöst”. Daß der Mensch der Erlösung bedarf, ist die Einsicht in die tiefe und ausweglose Not, die nicht nur die Lage des Gottesvolkes, sondern die Lage des Menschen überhaupt kennzeichnet, jenseits aller optimistischen Illusionen über die menschlichen Möglichkeiten; und daß Gott uns „eine Erlösung schafft”, ist ebenso der Ausdruck für den Radikalismus der göttlichen Hilfe, welche den Menschen „nicht nur repariert, sondern heilt” (Max Picard). Immer stößt dieses Wort „Erlösung” mit seinem ganzen Gewicht an die beiden Grenzen der Gefährdung und der Rettung, des Verderbens und des Heils.

LeerVon dieser Erlösung, um derentwillen Gott gelobt und gepriesen wird, redet dieser Hymnus nun zunächst in mehreren Bildern. Das Wort, das Luther hier und an anderen Stellen mit „heimsuchen” wiedergegeben hat, bedeutet eigentlich: „nach jemandem sehen”; das kann nun ebenso den Sinn einer Aufsicht annehmen (es ist der gleiche Wortstamm, von dem episkopos abgeleitet ist) wie auch, und war zumeist, den Sinn des fürsorglichen Besuches; das Wort -deutet auf jenen „Gnadenanblick”, jenes gnädige Anschauen, durch das der Mensch gerettet fand erwählt wird (Luk. 1, 48). Weit schwerer ist für uns das Bild von dem „Horn” als Zeichen der wehrhaften Stärke in seiner Anwendung auf die Heil-schaffende Macht Gottes vollziehbar, und es sollte darum wohl ebenso hier wie in den Psalmen (18, 3; 132, 17) besser durch das Wort „Macht” ersetzt werden, weil das Wort „Horn” nur allzuleicht Assoziationen weckt, die in eine ganz andere Richtung gehen. - Das entscheidende Wort in der Beschreibung der Erlösung ist das göttliche Erbarmen (eleos - Vers 72, hier auch mit dem gleichen Verbum wie Vers 68 verbunden; vgl. Vers 78); dieses rettende Erbarmen Gottes will aber erkannt werden, und erst in der Erkenntnis (das später so sehr umstrittene Wort gnosis ist hier, Vers 77, ähnlich wie Eph. 3,19 positiv gebraucht) vollendet sich die durch die göttliche Heimsuchung in Gang gebrachte Bewegung. Der Lobpreis Gottes ist der Ausdruck dieser „Erkenntnis des Heils”.

LeerEs verdient aber besondere Beachtung, daß dieses Wort von der Erkenntnis mit dem anderen Wort von der Vergebung der Sünden in die engste Nachbarschaft gerückt ist, ja daß die Präposition „in” wohl auf einen unauflöslichen Zusammenhang hinweisen soll: Heil und Heilserkenntnis gibt es nur in der Weise, daß,der Mensch in seiner Sünde die vergebende Liebe Gottes erfährt, weil nichts so sehr die Kraft tiefer Erkenntnis, der Erkenntnis Gottes, lähmt und verdunkelt wie die unerkannte und unvergebene Sünde.

LeerDieses alles vermag kein Mensch sich selber zu geben oder in sich selber zu erzeugen; es wird „erweckt” (im Sinn von „ins Dasein gerufen”; Vers 69) durch das „herzliche Erbarmen” Gottes (Vers 78), und eben darum, nicht etwa nur um seiner Allmacht und der Wunder der äußeren Natur willen, ist Gott hoch zu preisen.

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LeerDieser Lobpreis gilt einer Geschichte, die in der Geburt des Johannes ihren Anfang genommen hat. Aber diese Geschichte hat eine Vorgeschichte, in der sie sich vorbereitet und sozusagen die ersten Strahlen der Morgenröte des jetzt anbrechenden Tages vorausgeschickt hat, und sie hat eine Nachgeschichte, in der sich Ziel und Absicht dieser göttlichen Heimsuchung verwirklichen wollen.

LeerZu dieser Vorgeschichte gehört der Bund Gottes mit Abraham als dem Vater der Glaubenden (vgl. Luk. 1, 55 und Hebr. 11), gehört die Verheißung, die den Vätern gegeben und feierlichst bekräftigt ist, und das „Haus David” als der geschichtliche Raum, in den Gottes Heil-schaffendes Handeln an der ganzen Welt eingebettet ist, und darum auch die Stimmen der Propheten, in denen es wetterleuchtet von dieser unheimlichen und zugleich gnadenreichen Geschichte Gottes mit der Menschheit. Wenn Gott dieser seiner Verheißungen „gedenkt” (Vers 72), so ist das niemals, wie unsere entleerte Sprache glauben machen möchte, eine bloße Erinnerung an ein vergangenes Geschehen, sondern in diesem „Gedenken” wird die Vergangenheit gegenwärtig und das Vorläufige kommt zu seiner Vollendung.

LeerDiese Vorläufigkeit der prophetischen Rede ist in besonderer Weise verkörpert in der Gestalt des Johannes; er ist Vorläufer in dem ganz positiven Sinngehalt dieses Wortes, indem er in den Herzen seiner Jünger dem kommenden Herrn den Weg bereitet (Vers 76); aber auch „vorläufig” in der strengen Begrenzung und Selbstbescheidung, die dieses Wort anzeigt: Was vorläufig ist, weist über sich selbst hinaus. Weil es nicht sinnvoll wäre, bei der Verwendung dieses Lobgesangs im täglichen Gebet der Kirche das Kindlein Johannes anzureden (diese Form beizubehalten ist mir immer als ein fast komisches Beispiel eines gesetzlichen Biblizismus erschienen), sprechen wir lieber allgemein und umfassend von dem Propheten des Höchsten und denken dabei auch und vor allem an das prophetische Amt der Kirche selbst. Denn auch die Kirche Jesu Christi bleibt in dieser Vorläufigkeit, die über sich selbst hinausweist auf eine Erfüllung, welche herbeizuführen außerhalb der Grenzen menschlicher Macht und Möglichkeiten liegt. Das Johannes-Wort „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen” gilt nicht nur, wie es Augustin ausgeführt hat, von allen natürlichen Größen, sondern es gilt auch von der christlichen Kirche selbst in all ihren geschichtlichen Erscheinungsformen; und nur in dieser Anwendung auf das prophetische Amt der Kirche fügt sich, wie mir scheint, dieser schwierige Vers 76 wirklich in den liturgischen Gebrauch dieses Lobgesangs ein.

LeerUm so größeres Gewicht freilich empfängt das, was wir die „Nachgeschichte” dieser göttlichen Heimsuchung genannt haben, und was wir vielleicht besser als die göttliche Absicht bezeichnen sollten, die sich an uns und durch uns verwirklichen will.

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LeerNach der wahrscheinlichen Lesart (abweichend von dem Text, der Luthers Übersetzung zugrunde liegt) kehrt in Vers 78 das gleiche Verbum, das in Vers 68 ein geschichtliches Ereignis bezeichnet, in futurischer Form wieder: Gott will und wird uns heimsuchen; die Heimsuchung Gottes ist noch nicht an ihr Ende und an ihr Ziel gelangt. Aber diese uns noch verheißene „Heimsuchung” wird hier in einem merkwürdigen Bilde beschrieben als der „Anfang aus der Höhe”, als ein Gestirn also, das nicht im Wechsel von Tag und Nacht aus dem Horizont aufsteigt, sondern selbst aus der Höhe, jenseits dieses irdischen und kosmischen Kreislaufs stammt. Knorr von Rosenroth hat es also, vielleicht unbewußt, gerade richtig gemacht, als er den Ausdruck „Aufgang aus der Höh'” in die eschatologischen Schlußverse seines Liedes vom „Morgenglanz der Ewigkeit” einfügte. (Ein Grund mehr freilich, dieses Lied nicht nach den ersten Strophen abzubrechen, sondern es äußerlich und innerlich als ein Ganzes aufzunehmen.) Dieser „Morgenglanz der Ewigkeit” will dann - immer wieder! - denen „erscheinen”, die in der Nachtzeit dieser Welt, in der Schattenwelt des Todes gefangen sind; in allem Dunkel um das Licht dieser Erscheinung zu wissen, ist das Wesen einer echten Prophetie, und die göttliche Heimsuchung erweckt in uns die Bewegung, mit der wir uns aus der Todeswelt diesem Licht entgegenstrecken. Sie „richtet unsere Füße auf den Weg des Heils”, während wir noch verzweifelt auf den staubigen Straßen des Unheils uns müde laufen.

LeerWenn bei der Beschreibung der göttlichen Verheißung davon die Rede ist (Vers 71), daß wir befreit werden aus der Hand unserer Feinde, so ist uns gewiß erlaubt, bei solchen Worten auch an unsere Brüder zu denken, die in besonderer Weise unter dem Tyrannen leben und leiden unter der Gewalt von Menschen; aber wird nicht an ihnen nur besonders erschütternd sichtbar die Lage, in der wir alle uns mehr oder weniger befinden, die peinvolle Einsamkeit unter Menschen, mit denen wir in keiner uns gemeinsam verpflichtenden Wahrheit verbunden sind, die qualvolle Abhängigkeit von einer äußerlichen und mehr noch innerlichen Lebensform, der sich niemand völlig entziehen kann und die wir doch nur als eine heillose Zerstörung des Menschlichen empfinden und verurteilen können. Im Unterschied von den messianischen Erwartungen Israels können wir freilich nicht hoffen, daß diese Macht der Feinde, oder vielmehr „des bösen Feindes”, jemals gänzlich gebrochen und wir also aller solchen Tyrannei radikal entnommen werden könnten.

LeerVielmehr kann diese Befreiung, die uns mit der gnädigen Heimsuchung Gottes in Jesus Christus angeboten und verheißen ist, nur ganz innerlich verstanden werden als die Befreiung aus der Angst, als die Überwindung der Furcht, und dieses ist nur die negative Seite dessen, worauf positiv Gottes Absicht mit uns zielt: daß wir Ihm dienen ohne Furcht vor Menschen und ohne Angst um unser eigenes Leben. In dem Dienst Gottes, in dem Dienst der liebenden Verehrung und des freudigen Gehorsams, erfüllt sich der Sinn unseres Menschseins.

LeerEs heißt im Urtext „an allen Tagen”; und das besagt mehr als das umfassende „unser Leben lang”; denn gerade dieses will und muß täglich neu an uns geschehen, daß uns nicht nur die Strahlen der Morgensonne, sondern der Aufgang aus der Höhe besuchen, daß wir befreit werden von aller - ach, so begreiflichen - Menschenfurcht und frei werden zum Dienst; daß unsere Füße sichere Tritte tun. Und es hat also doch sein tiefes Recht und seinen guten Grund, daß wir immer wieder mit diesem Lobgesang in den Tag hineingehen, mit diesem Lobgesang, in dem zwar der Name Jesus Christus nicht genannt wird, in dem aber doch alle Bilder um das eine Bild von Christus als dem Aufgang aus der Höhe kreisen, der uns, die wir in Finsternis und Todesschatten sitzen, erschienen ist und erscheinen will, um unsere Füße auf den Weg des Heils zu richten.

Quatember 1962, S. 99-103

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4. Das Nunc dimittis (Der Lobgesang Simeons)

LeerDer griechische Text dieses Lobgesangs stellt nicht die Anrede „Herr”, sondern das „nun” dieses entscheidenden Augenblicks an die Spitze. Denn dieser Lobgesang hat es in besonderer Weise mit der Zeit zu tun, genauer gesagt: mit einer Zeitenwende, in der ein Altes zu Ende geht und ein Neues anhebt. Freilich, die Zeiten sind so ineinander verzahnt, daß das Neue in dem Alten vorbereitet, verheißen und erwartet ist. Aber eben dieses, daß die Verheißung nun erfüllt ist und der Wartende das „sieht”, worauf er gewartet hat, ist ein wirklicher Einschnitt, in dem das Vergehende und das Kommende, Tod und Leben sich berühren.

LeerMan hat zu verschiedenen Zeiten die Jahre gezählt „ab urbe condita”, von der Gründung Roms, oder vom Beginn einer Revolution, von der man eine völlige Veränderung aller Weltverhältnisse erwartete; wir zählen die Jahre nach Christi Geburt, und wer sich scheut, selbst in dieser Zeitangabe dem Namen Christi eine solche Bedeutung beizumessen, und es daher vorzieht, scheinbar formal und nichtssagend von den Jahren nach der Zeitwende zu sprechen, drückt damit, vielleicht unbewußt und ungewollt, eben dieses aus, daß mit der Geburt dieses Kindes wirklich die Mitte und Wende der Zeiten geschehen ist, so daß es sinnvoll ist, den Ablauf der Zeiten in Jahre vor oder nach der Geburt Christi, ante Christum und post Christum zu teilen. Das „Nun”, mit dem der alte Simeon seinen Lobgesang anhebt, steht wirklich auf der Schwelle und tritt aus einem Weltzeitenraum in einen anderen.

LeerDenn nun ist das „Heil”, auf das Gottes Ratschluß von Urbeginn bedacht war, in einer Weise, die bisher nicht möglich war, in der Wirklichkeit dieser Welt gegenwärtig geworden, nämlich in einer leibhaften und sichtbaren Gestalt. Denn Simeon, dessen Leben ganz erfüllt gewesen war von dem Warten auf den seinem Volk verheißenen Trost, erkannte kraft inspirierter Hellsichtigkeit in dem Kinde, das von seinen Eltern in den Tempel gebracht wurde und an dem „nichts besonderes zu sehen war”, den Anbruch der Heilszeit, auf die er all sein Leben lang geduldig und getrost gewartet hatte. (Es heißt im griechischen Text nicht nur, daß er „auf Anregen des Geistes” in den Tempel kam, sondern der Ausdruck „im Geist” weist deutlich hin auf jenen außerordentlichen Zustand, in dem die Grenze des normalen Tagesbewußtseins gesprengt und darum auch eine außerordentliche Erkenntnismöglichkeit erschlossen ist.) Indem er dieses Kind mit Augen sieht und auf seinen Armen hält, ist er in eine nie gekannte Nähe zum „Heil” verpflanzt, und eben diese Wende seines Lebens, die zugleich die Wende der Welt ist, legt ihm das Loblied auf die Lippen (Luk. 2, 29-32).

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LeerLuther hat in keinem Stadium seiner Bibelübersetzung Bedenken getragen, die auch im Lateinischen beibehaltene neutrische Form (salutare tuum) des griechischen Textes („Dein Heil”) mit der personalen Form „Deinen Heiland” zu vertauschen (ähnlich wie in der Antiphon des vierten Adventsonntags aus Jes. 45, 8 schon die alte griechische Übersetzung sinngemäß von dem Gerechten, statt von Gerechtigkeit, und von dem Heiland, statt vom Heil, geredet hat), und er fühlte sich zu dieser Änderung ja wohl auch deswegen befugt, weil Simeon in dem neugeborenen Kinde wirklich das Heil in persona, den Heiland, sehen und auf den Armen halten durfte. Indes scheint mir die zurückhaltende Redeweise des Urtextes doch sehr der Beachtung wert. Denn die merkwürdige Ausdrucksweise „meine Augen haben Dein Heil gesehen” schließt in sich ja gerade dieses Geheimnis, daß das seinem Wesen nach Verborgene nun erschienen ist und mit allen Sinnen wahrgenommen werden kann, obwohl es an und in diesem Kinde mit leiblichen Augen eben nicht wahrgenommen werden kann; und umgekehrt könnte die Ausdrucksweise, „meine Augen haben Deinen Heiland gesehen” die Gefahr in sich schließen, daß wir mit einer allzugroßen Vertraulichkeit von unserer persönlichen Nähe zu dem „lieben Heiland” sprechen könnten.

LeerDenn das, was Simeon alsbald von diesem „Heil” aussagt (Vers 31 f.), geht weit hinaus über das, was seine „Augen” in diesem Augenblick zu sehen vermögen. Denn das Heil, das jetzt erschienen ist, hat Gott dazu bestimmt und bereitet, allen Völkern vor Augen zu stehen. Wenn dieser Ausdruck („ins Angesicht”) vielleicht im Sinn einer gewissen Gegensätzlichkeit verstanden werden kann (ähnlich wie Ps. 23, 5), macht der folgende Vers vielmehr deutlich, daß dieses Heil berufen ist, als Licht die Finsternis der Völkerwelt durch die Offenbarung des verborgenen Gottes zu erleuchten (so etwa muß man Vers 32 wohl umschreiben). Es ist immer mißlich, von „Heiden” zu sprechen; denn nur allzuleicht verbindet sich mit diesem Wort eine konventionelle Vorstellung von den „armen Heiden”, die auf die Belehrung durch die Predigt der christlichen Mission angewiesen sind. Der Vers enthüllt seine weltumfassende Tragweite erst dann, wenn wir unter den Heiden auch alle Menschen verstehen, die fern von der befreienden Wahrheit, in menschlicher Selbstsicherheit und Selbstherrlichkeit, vertrauend auf die großen, dem Menschen gegebenen Möglichkeiten der Gestaltung ihres Lebens und der Welt, aber ohne göttliche Inspiration und also ohne Weisheit ihren Weg gehen, wenn wir also wissen, wie nahe wir diesen Heiden sind, und wie sehr wir selbst zu ihnen gehören. Unsere Sprache hat das Wort „Heidenangst” gebildet und will damit gewiß nicht nur eine unheimliche Steigerung der Angst bezeichnen, sondern andeuten, daß die Angst zu den Wesenszügen dieses und jedes Heidentums gehört. Fern von Gott hat der Mensch Angst, und darum ist es heute die große und kaum lösbare Frage, wie der Mensch von der ihn überallhin verfolgenden Angst befreit werden könnte. Eben darauf bezieht sich das Wort aus dem Lobgesang Simeons, daß da, wo Gottes Heil erscheint und erkannt wird, der Krampf der Angst sich löst und das unruhige Herz befriedet wird.

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LeerUnd damit wird dann das Volk Gottes verherrlicht (Vers 32b) als die Stelle in der Welt, wo das Heil gesehen und erkannt und damit Blindheit und Angst geheilt werden. (Das in vielen Bedeutungen schillernde Wort doxa ist hier doch wohl so zu deuten, daß auf diesem Gottesvolk - des Neuen wie des Alten Bundes - dem wahren Israel, ein Glanz liegt, der in die Welt hinein ausstrahlt.)

LeerDieser kurze Lobgesang wird von dem Evangelisten Lukas als der Lobgesang des alten Simeon überliefert, der nun, da er in dem neugeborenen Kinde das Heil der Welt geschaut hat, im „Frieden” (aber das heißt eben im Licht dieses Heils) über die Schwelle des Todes gehen und „dahinfahren” darf. Insofern mit Recht ist Luthers Umdichtung dieses Hymnus (Mit Fried und Freud ich fahr dahin; EKG 310) unter die Sterbelieder eingereiht. Aber nur allzuleicht überschattet dieser Anfang den reichen Inhalt des ganzen Lobgesangs, den auch Luthers Lied in vier von den fünf Strophen entfaltet, und der durchaus Anlaß gibt, das Lied, wie es in den früheren Gesangbüchern geschah, zu den Epiphaniasliedern zu zählen. Diese Beziehung auf ein Ende, auf eine zu überschreitende Schwelle, ja die Wende der Zeiten, war nun freilich auch der Anlaß, den Lobgesang Simeons als festen Bestandteil in das tägliche Nachtgebet der Kirche, die „Komplet” (mit der der Tag und das Gebet des Tages vollendet wird), einzufügen. Es würde dem tieferen Sinn dieses Lobgesangs nicht entsprechen, wenn wir bei diesem „im Frieden fahren” nur an die Ruhe der Nacht denken wollten, in die wir nun einzutauchen begehren; ganz gewiß ist es zwar auch für die Ruhe der Nacht und einen friedevollen Schlaf nicht unwichtig - wahrhaftig wichtiger als alle vielleicht nützlichen chemischen „Schlafmittel” - ob wir im Frieden Gottes, im Bereich seines Heils leben und darin von aller heidnischen Sorge und Aufgeregtheit (Mattb. 6, 25. 321) geheilt sind; aber es wäre doch unnatürlich und widersinnig, wenn wir uns etwa überlegen wollten, ob und in welcher Weise wir an diesem zu Ende gehenden Tag in besonderer Weise „den Heiland gesehen” haben.

LeerEs ist darum richtiger, darauf zu achten, daß dieses Nacht-Gebet zu allen Zeiten der Kirche als eine tägliche Vorbereitung auf die Todesstunde, als eine Einübung des Sterbens verstanden und geübt worden ist. Denn wir werden jene Schwelle, an der die Wende aller Zeiten in unser eigenes Leben spürbar eingreift, nur dann getrost und im Frieden überschreiten, wenn wir das Heil Gottes gesehen, erkannt und angenommen haben, wenn wir selbst als die Gott-fernen Heiden uns von diesem Licht haben erleuchten lassen und teilgenommen haben an der Enthüllung des Verborgenen. Dann freilich ist das „Nun”, das am Beginn dieses Lobgesangs laut wird, nicht das Jetzt der Stunde, in der wir dieses Gebet wiederholen, die Abendstunde dieses Tages, sondern es ist das „göttliche Nun”, die Wende der Zeiten, in der mit dem Heiland das Heil uns und aller Welt nahegekommen ist, und es ist allerdings die große Frage für Leben und Sterben, darum auch die Frage jedes Abends, an dem ein Tag zu Ende geht, ob wir das Heil Gottes erkannt haben und dadurch erleuchtet, getröstet und befriedet worden sind.

Quatember 1962, S. 147-149

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-03
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