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von Rose Matz |
Bert Brecht stellt in der Mutter Courage dar, wie der Krieg alle niederen Instinkte im Menschen weckt; wie aber auch alle furchtbaren Leiden an der menschlichen Seele abgleiten können, statt sie in ihrem innersten Wesen zu treffen und zu wandeln. Ein Leben wird tapfer bestanden, aber die Seele erleidet den Tod. Allen Gefahren ausgeliefert, ist diese unglückselige Mutter ungeborgen, unbehaust. Sie ahnt noch nicht einmal, daß sie es ist, die ihre Kinder, die sie doch so liebt, ins Verderben reißt. Nach jedem neuen Verlust bleibt ihr einziges Ziel: Erwerb, Besitz, Reichtum. Das ist für sie Behausung und Geborgenheit. Betroffen sehen wir das Abbild unserer Zeit. Geborgenheit ist nicht bürgerliches Wohlergehn. Die angstvollen Bemühungen um Sicherheit zeigen, wie wenig wir noch ahnen von göttlicher Geborgenheit. Sonst würden wir nicht fragen: wie konnte Gott all den Jammer zulassen! Luthers Erklärung zum ersten Artikel hält nicht mehr stand. Auch Paul Gerhardt kann uns nicht trösten, wenn er singt: Er weiß viele tausend Weisen,Wir stutzen. Wir haben zu schwer erfahren: all das ist nicht geschehen. Irdische „Geborgenheit” gibt es nur in einer heilen Welt. Und unsere Welt wird niemals heil sein. Diese Geborgenheit ist also trügerisch. Das Reich göttlicher Geborgenheit ist eben nicht von dieser Welt. Wenn wir beten: „Zu uns komme Dein Reich”, so müssen wir uns bereiten, in dieses Reich einzutreten. Immer umgibt uns dieser geistige Raum. Aber nicht immer ist es uns möglich, das Wort zu finden, das uns die Tür zu diesem inneren Reich auftut. Aber wohl immer ist es möglich, den Tönen einer Melodie zu lauschen - auch innerlich zu lauschen -, die oft so viel edler ist als alle Worte: reines Gebet, das uns dem Alltäglichen enthebt und die göttliche Geborgenheit spüren läßt. Alles müssen wir hinter uns lassen, was von dieser Welt ist. Christus hat nicht geduldet, daß jemand etwas durch den Tempel trüge. Lieder und ihre Melodien ermöglichen die reine Hinwendung. Lieder, aus denen noch unser umgetriebenes Herz spricht, führen in den Vorhof; Lieder, die getragen werden von objektivem Geschehen, führen in das Innere des Heiligtums. Ich möchte persönliche und objektive Lieder unterscheiden, wenn auch diese Unterscheidung nicht immer scharf genug umreißt. In den persönlichen Liedern werden aus dem Engel der Verkündigung, vor dem die Hirten erschrecken, und aus den himmlischen Heerscharen vertraute Boten, werden liebe Engelein. Aus „des Vaters einig Kind” wird das „Herze Jesulein”. Stall und Krippe werden liebevoll ausgemalt, sind sie doch Stätten vertrauter irdischer Geborgenheit. Persönliches Leid wird zum Gebet im nächtlichen Stall. Der einzelne tritt aus der Gemeinschaft heraus und versenkt sich in seine Andacht. Noch weiter vom Ursprung entfernen sich die frommen Volksweisen. Bezaubernde Schlummerlieder besingen das Kind in der Krippe. „O Jesulein süß, o Jesulein mild” ist schon dem Rhythmus nach ein echtes Wiegenlied, wie denn Mutter und Sohn, nicht Vater, Sohn und Heiliger Geist immer mehr Inhalt des Weihnachtsfestes geworden sind. Eins der beliebtesten und schönsten persönlichen Lieder ist Paul Gerhardts „Ich steh an Deiner Krippen hier”. Die Anreden „Leben”, „Sonne”, „Heiland” drücken tiefen Ernst aus. Dann aber wird in phantasievollem, kindlichem Spiel die Krippe zu einem Blumengarten, das menschliche Herz zum Krippelein. Anmutig umspielt irdische Schönheit das göttliche Geheimnis. Geborgenheit des Kindes bei seiner Mutter, Geborgenheit der Kinderschar im Elternhaus, Geborgenheit der einzelnen Seele im Gebet: das sind die Themen der persönlichen Lieder. Und wir mochten sie nicht missen. Aber diese „Geborgenheit” ist nur ein vergänglicher Schatten der göttlichen Geborgenheit. Ein anderer, ein hoher Ton klingt an in den objektiven Liedern. Im „Wir” dieser Lieder tritt jedes persönliche Anliegen zurück. Die Kirche umschließt die Gemeinde zum Gottesdienst. Eins der wenigen Wir-Lieder von Paul Gerhardt ist das Lied „Kommt und laßt uns Christum ehren”. Die alte Melodie (aus dem 14. Jahrhundert), knapp und markig durch den kräftigen Schlag am Ende der ersten drei Zeilen, zwingt auch die Worte in ihren Bann. Es ist das kürzeste von allen Liedern Gerhardts; alles Persönliche ist ausgemerzt. Jakobs Stern ist aufgegangen und stillt das sehnliche Verlangen. Das Lied wendet sich an die Christenheit, die ihr Heil erkannt hat. Von Kummer und Leid dieser Welt soll uns das „Jesulein”, das „schönste Kindlein in dem Stalle” dahin bringen, wo dieses Kind durch den „süßen Schall der Engel” erhöht wird. Hier mischen sich die irdischen Stimmen nicht mit den himmlischen Chören. Gott besucht uns aus der Höhe, bringt diese Welt in Ordnung und hebt uns hinauf in Sein Reich. Schlägt dieses Lied schon himmlische Töne an, so werden diese Klänge noch deutlicher in Luthers Lied „Gelobet seist du, Jesu Christ”. Die erste Strophe stammt aus dem Niederdeutschen: (1) „Louet sistu, ihu christ,Die Freude der himmlischen Scharen löst bei uns das flehende Kyrieleis aus, das nie in ein Halleluja hätte geändert werden dürfen. Luthers Strophen feiern Menschwerdung und Erlösung. Der Gewißheit „des freuet sich der Engel Schar” entspricht in der letzten Strophe der Wunsch „des freu sich alle Christenheit, und dank Ihm des in Ewigkeit”. Und diese Ewigkeit steht wie ein erhabenes Gewölbe über der Krippe mit dem Kindlein in Marien Schoß: der ewige Vater, das ewige Gut, das ewige Licht, ewiger Dank, der unbegrenzte Weltkreis. Jesus, Gott von Art, ist der Schöpfer, der „alle Ding erhält allein”. Das Licht, der Geist, gibt der Welt einen neuen Schein. Die Melodie kehrt ruhevoll zum Grundton zurück und schließt mit dem schwebenden Kyrieleis, das in Freude und Dank hineintönt wie eine tiefe mahnende Glocke. Die Dreifaltigkeit leuchtet auf. Wie kein anderes Lied erfüllt der Hymnus „Christus wir sollen loben schon” alle Bedingungen, die uns die Tür öffnen zu dem geistigen Raum göttlicher Geborgenheit. Die Luthersche Umdichtung des lateinischen Textes „A solis ortus cardine” aus dem 5. Jahrhundert, zu dem die Weise im alten phrygischen Kirchenton gehört (2), sollte in unserem Gesangbuch trotz des fremdartigen Tones nicht fehlen. Christum wir sollen loben schon,Die Worte rufen auf zum Lobe Christi. Einbegriffen in dieses Lob ist die reine Magd Maria. Christus ist eins mit dem Vater, der selige Schöpfer, die Sonne dieser und jener Welt. Wie ein Hirte erbarmt sich der Schöpfer seines Geschöpfes, wird Fleisch von unserm Fleisch. Zu den „armen Hirten” neigt sich der göttliche Hirt. Und „alle Welt” umfaßt Sichtbares und Unsichtbares: die himmlischen Chöre stimmen ein in das Lob Gottes und verkünden als Seine Boten der Welt das Heil. Allumfassend schildern die drei ersten Strophen Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung. Die vierte Strophe schließt den Kreis zum Anfang hin. „ Christum wir sollen loben schon”: ein Aufruf an alle, die Ihn ehren. Dieser Aufruf fordert die unmittelbare Hinwendung zu Gott dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist. Und die Zeit, das NUN, wird aufgenommen in die Ewigkeit. Hinter jedem Wort öffnet sich ein Tor zur göttlichen Welt. Wer die Schwelle überschreitet, vergißt in dem „Wir” das eigene „Ich”. Alle persönlichen Bindungen fallen ab. Getragen werden die Worte von der meditativen Melodie. Es gibt in ihr keine unruhigen Intervalle, keine Tonlängen und -kürzen. Eine entspannte Seele lauscht. Leise atmend folgen wir den Klängen aus einer anderen Welt. Der Atem wird zum Ton, der Ton zum Wort, das Wort zur Anbetung. Die Grenzen der irdischen Kirche werden gesprengt, und des „Himmels Chöre” stimmen mit uns den Lobgesang an. Dieser Hymnus umschließt in monumentaler Kurze das Wunder der Dreifaltigkeit. Und in diesem Wunder allein ist göttliche Geborgenheit. 1: Handschrift in der Kgl. Bibliothek Kopenhagen aus dem Jahr 1370. Vgl. W. Nelle, Schlüssel zum Evg. Gesangbuch für Rheinland und Westfalen. 2: Vgl. Walter Tappolet in den Evg. Jahresbriefen. Weihnachtsbrief 1937. S. 13 ff. Quatember 1962, S. 8-11 |
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