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von Siegfried Buddeberg |
„Wer als Christ etwas vom Menschen aussagen will, muß dabei von dem gegenseitigen Verhältnis der Gottheit und der Menschheit in Christus ausgehen. Er muß sorgsamst darauf achten, daß die beiden Naturen mit all ihren Besonderheiten von der ganzen Person Christi bezeugt werden, und muß sich doch hüten, daß er dieser nicht zuschreibt, was einfach Gott und was einfach dem Menschen zukommt” (1). Diese 1521 von der Wartburg aus an den scholastischen Theologen Latomus in Löwen gerichtete Erklärung gibt in prägnanter Kürze das anthropologische Anliegen Luthers wieder. Sie ist nicht nur ein Bekenntnis zu dem Christusbild der alten Kirche, wie es 451 auf dem Konzil von Chalzedon formuliert worden war, sondern sie läßt zugleich auch die Umrisse von Luthers Menschenbild deutlich werden. Wie alles Wissen vom Glauben her, so kann auch der Mensch nur vom Menschensohn her recht verstanden werden, allerdings nicht in der Weise, daß man „einfach”, das heißt im Sinne eines unmittelbaren Vergleiches (analogia entis) vom Menschensohn auf den Menschen schließt, sondern daß dieses Ähnlichkeitsverhältnis in mittelbarer, heimlicher und verborgener Weise (analogia fidei) verstanden wird, einmal, weil nämlich der Zusammenhang von Menschensohn und Mensch nicht rational erfaßt werden kann, sondern dem anbetenden Schauen des Glaubens vorbehalten ist, und zum andern, weil sich dieses Ähnlichkeitsverhältnis nicht auf den materialen Bestand der Person Christi und des Menschen bezieht, sondern nur formal gemeint ist. Man muß obigen Text mit Bedacht und wiederholt auf sich einwirken lassen, um seine Tiefe und spannungsgeladene Fülle ganz erfassen zu können. Luther geht hier nämlich vom Geheimnis der Person Jesu Christi aus und enthüllt von daher das Wesen des Menschen. Der Menschensohn ist Gott und Mensch zugleich und zwar derart, daß seine Menschheit ganz seine Gottheit und umgekehrt auch seine Gottheit ganz seine Menschheit erfüllt. Diese beiden gegensätzlichen Naturen seiner Person durchdringen sich also vollkommen gegenseitig ohne sich jedoch zu vermischen. Ähnlich verhält es sich nun auch mit den gegensätzlichen Naturen des Menschen: „Aber weil ein und derselbe eine Mensch aus Fleisch und Geist als ganzer Mensch besteht, darum teilt Paulus (Röm. 7, 18) dem ganzen Menschen beide Stücke mit, die sich einander widersprechen und aus den entgegengesetzten Seiten seines Wesens stammen. So nämlich kommt es zu einer Gemeinschaft der Eigenschaften. Denn ein und derselbe Mensch ist geistlich und fleischlich, gerecht und sündig, gut und böse. So wie ein und dieselbe Person Christi gleichzeitig tot und lebendig, gleichzeitig leidend und selig, gleichzeitig wirkend und untätig ist, um der Gemeinschaft der Eigenschaften willen, auch wenn keiner von den beiden Naturen das entscheidende Merkmal der anderen zukommt, sondern der schroffe Zwiespalt zwischen ihnen klafft, wie bekannt ist”(2). Der Mensch also ist ganz Leib auch bis in die höchsten Gipfel seines Geistes hinein, ja auch seine besten Leistungen in Religion, Kunst und Kultur haben ihre materiellen und biologischen Hintergründe. Zugleich aber ist derselbe Mensch auch ganz Geist, und alles, was er tut, bis in die physiologischen und pathologischen Äußerungen seines Körpers hinein, ist Ausdruck seiner Geistigkeit. Also: auch Körper und Geist durchdringen sich ganz, ohne sich unterscheiden oder vermischen zu lassen, sie werden zu Erscheinungsweisen einer Ganzheit, deren Wesen verborgen bleibt. „So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,Dieses wirklichkeitsbezogene Denken in spannungsgeladenen Gegensätzen hatte vor Luther schon der große Kardinal der römischen Kirche, Nikolaus von Kues, (1401-1464), als Ganzheit der Gegensätze gekennzeichnet, die nur von einer wissenden Unwissenheit erfaßt werden könne. Aber erst mit dem radikalen Wirklichkeitsbezug Luthers wird dieses Denken in Gegensätzen voll entfaltet: „Denn unser Gut ist verborgen und zwar so tief verborgen, daß es unter seinem Gegenteil verborgen ist. So ist unser Leben verborgen unter dem Tode, die Liebe zu uns unter dem Haß wider uns, die Herrlichkeit unter der Schmach, das Heil unter dem Verderben, das Reich unter der Fremde, der Himmel unter der Hölle, die Weisheit unter der Torheit, die Gerechtigkeit unter der Sünde, die Kraft unter der Schwachheit. Und allgemein all unser Ja gegenüber irgendeinem Gut unter seiner Verneinung, damit der Glaube Raum habe in Gott, der die negative Wesenheit und Güte und Weisheit und Gerechtigkeit ist, von dem man nicht Besitz ergreifen oder zu dem man nicht hingelangen kann, es sei denn durch die Verneinung aller unserer Bejahungen”(4). Mit diesem Verzicht auf logisch-systematische Erfassung der Wahrheit kommt ein Denken in Gegensätzen zum Ausdruck, welches das genialste formale Mittel von Luthers Wirklichkeitserfassung ist. Auch alle Aussagen Luthers über den Menschen sind nur auf diesem Hintergrund zu verstehen. Versucht man aber, sie mit den Mitteln der herkömmlichen Logik zu deuten, wie es Melanchthon und der nachlutherische Protestantismus getan haben, so werden sie völlig verzeichnet und entstellt. Nachdem Luther aber von 1522 an die katastrophalen Folgen eines solchen Geistverständnisses im reformatorischen Schwärmertum und im humanistischen Intellektualismus (Karlstadt, Erasmus und Zwingli) erschütternd erlebt hatte, gehen seine Aussagen über den Menschen in eine völlig andere Richtung. Von nun an kann man Luthers Anthropologie geradezu als eine ganzheitliche Anthropologie des Leibes bezeichnen. Die Ansätze zu diesem ganz neuen Menschenverständnis gehen aber schon auf seinen evangelischen Durchbruch von 1513 zurück und sind nichts anderes als der anthropologische Ausdruck seiner biblisch-altkirchlichen Christologie. In den großen Abendmahlsschriften von 1526-28 hat dieses ganz neue Menschenbild seinen vollendeten Ausdruck gefunden. An die Stelle des metaphysischen Gegensatzes von Körper und Geist tritt die spannungsgeladene Ganzheit des Leibes: „Auch mir ist die Fabel des Origenes über den dreifachen Affekt bekannt, deren einer Fleisch, ein anderer Seele, ein anderer bei ihm Geist genannt wird. Die Seele aber ist jenes Indifferente, das sich nach beiden Seiten, entweder nach der Seite des Fleisches oder nach der Seite des Geistes wenden kann. Aber das sind seine Träume, er redet nur davon, beweist es aber nicht” (7). Gott wendet sich also an den ganzen Menschen durch das Sakrament des Wortes ebenso wie durch das Sakrament des Altars, „das sich nicht verwandeln läßt, sondern verwandelt und gibt den Geist dem, der es isset” (11). Dieser irrationalen Ganzheit des Menschen aus Geist und Körper entspricht eine ebenso irrationale Ganzheit der Dinge aus Geheimnis und Wirklichkeit, so daß der Glaubende den Geist essen und durch das geistige Wort auch körperlich verwandelt werden kann. An die Stelle der neuzeitlich-rationalistischen Zerreißung des Menschen und der Wirklichkeit in eine res extensa und in eine res cogitans (Descartes) setzt Luther die ganzheitliche Wirklichkeit des Leibes und der Dinge. Diese leibhafte Dialektik des Menschen hat Luther von 1525 an mit der Begründung der Kindertaufe noch von einer ganz anderen Seite her beleuchtet. Unter dem Hinweis auf den Zusammenhang von Glaube und Taufe wurde in der Geschichte der Kirche immer wieder eine falsch verstandene Innerlichkeit der Anlaß, an die Stelle der Kinder- die Erwachsenentaufe zu setzen. Diesen Einwänden gegenüber fragt Luther: Ist denn der Glaube an den bewußten Willen des Einzelnen gebunden, ist er nicht vielmehr die Verwandlung des ganzen Menschen, nicht nur seiner Innerlichkeit, seiner bewußten Vernunft, seines Willens und seiner Individualität? Gerade weil die Kinder noch aus der unbewußten Tiefe ihres Leibes in einer ganz lebendigen Gemeinschaft leben, und weil sie durch die bewußte Vernunft noch nicht verdorben sind, enthüllt die Kindertaufe das tiefste Geheimnis des Glaubens: ,Ja eben, weil die Kinder noch ohne Vernunft und närrisch sind, sind sie besser zum Glauben geschickt als die Alten und Vernünftigen, welchen die Vernunft immer im Wege liegt und will ihren großen Kopf nicht durch die enge Tür stoßen. Man muß hier nicht Vernunft noch ihre Werke ansehen, wenn man vom Glauben und Gottes Werk redet. Hier wirkt Gott allein, und die Vernunft ist tot, blind und diesem Werk gegenüber wie ein unvernünftiger Block, auf daß bestehe die Schrift, die da sagt: „Gott ist wunderlich in seinen Heiligen” (12). Vielleicht ist Luther mit diesem Menschenverständnis seiner Zeit so sehr vorausgeeilt, daß es seine Zeitgenossen noch nicht verstehen konnten. Es ist in dem neuzeitlichen Verhängnis des Protestantismus tief begründet, daß Luthers ganzheitliches Menschenbild nicht zur Wirkung kommen und nur am Rande weiterleben konnte (Hamann, Ötinger, der späte Schelling, Grundtvig und Vilmar). Schon mit Melanchthon beginnt die humanistisch-aristotelische Verwässerung des lutherischen Menschenbildes. Aus dem Ineinander und Zugleich der Antithesen wird ein logisches Nach-und Nebeneinander. Die Folgen konnten auch in der Anthropologie nicht ausbleiben. So wie der lutherische Sakramentsbegriff in die Magie der nachreformatorischen Orthodoxie und die rationalistische Verflüchtigung des Calvinismus zerfiel, so zerbrach auch das ganzheitliche Menschenbild Luthers in eine fromme Innerlichkeit und in eine weltliche Äußerlichkeit. Es lag durchaus in der Konsequenz dieser Entwicklung, da6 Melanchthon und Calvin, beide von einem platonisierenden Humanismus ausgehend, den Körper zum Gefängnis der Seele erklärten (13). Die Folge war die einseitige Innerlichkeit, der Rationalismus und die Sakraments- und Leibverachtung, durch welche das Menschenbild des nachreformatorischen Protestantismus grundsätzlich geprägt worden ist und an dem es heute unglaubwürdig zu werden droht. Hier liegt die schicksalhafte und zugleich verheißungsvolle Aufgabe der Theologie heute, das verschüttete Erbe Luthers wieder zu entdecken und fruchtbar zu machen für eine ratlos gewordene Welt, die den Menschen der Gegenwart in die Abgründe des Nichts zu verstoßen droht.
Quatember 1962, S. 16-20 |
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