Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1962
Autoren
Themen
Stichworte


Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerWarum hat uns der Tod von Dag Hammarskjöld in einer so eigentümlichen Tiefe erregt, nicht nur als ein unersetzlicher Verlust, der die ganze Welt betroffen hat? Weder die billige Redeweise von einem tragischen Schicksal noch die Klage über einen schrecklichen Zufall wird diesem Ereignis gerecht, das vielmehr das unüberhörbare Zeichen einer weltgeschichtlichen Lage ist. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat sein Leben verloren im Dienst der Verantwortung, die die Nationen der Welt für das Schicksal Afrikas tragen und in der etwas abgebüßt werden muß von der unermeßlichen Schuld, die die Völker Europas gegenüber den Völkern Afrikas auf sich geladen haben. Der zentralafrikanische Urwald, in dem das schwedische Flugzeug zerschellt ist, scheint mir ein sehr deutliches Sinnbild zu sein für die undurchdringliche Wirrnis und die ungelösten Probleme dieser ungeheuren Wandlungen. Aber wer den Frieden will und dem Frieden dient, muß sich eben in diesen Urwald hineinwagen. Vielleicht waren die Versuche, dem ständig von Fehden zerrissenen Deutschland den Landfrieden zu gewähren, die Bemühungen, dem deutschen Bruderzwist ein Ende zu machen, und endlich auch die innereuropäischen Kriege als Bruderkriege zu erkennen und zu überwinden, zu ihrer Zeit und in ihrem Bereich in ein ebensolches Dickicht von Schwierigkeiten verstrickt und haben ebensoviel Klugheit, Mut und Opfer gefordert wie jetzt die verzweifelten Versuche, den afrikanischen Völkern Frieden zu schaffen. Und solche Opfer für den Frieden erscheinen mir als eine Weltensühne für die Schuld aller Lieblosigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung.

Linie

LeerVor kurzem ist der Kreisdekan des südbayerischen Kirchenkreises, Oberkirchenrat Arnold Schabert, im Alter von nur 57 Jahren verstorben. Ich habe D. Schabert um seines lauteren Ernstes und seiner Herzensgüte willen aufrichtig verehrt, und ich habe ihn zugleich als einen der Männer empfunden, die sich auch in ihrem Amt nicht an den Zustand der Kirche gewöhnt und darüber beruhigt haben, sondern unter vielem, das sie doch nicht zu ändern vermögen, schmerzlich leiden, Es ist einige Jahre her, daß er mich als unser oberbayerischer Kreisdekan besuchte, um bestimmte Fragen mit mir zu besprechen. Er war tief deprimiert von einer Woche, die er mit Vikaren seines Kirchensprengels über die Frage der Ordination gehalten hatte; die jungen Brüder hätten gar kein inneres Verhältnis zu ihrer Ordination gezeigt, deren Bedeutung ihnen keineswegs deutlich gewesen sei. Er habe sie gefragt, ob es für sie denn nicht in den Nöten und Anfechtungen ihres Amtes ein großer Trost sei, daß sie für diesen ihren Dienst berufen und gesegnet worden seien; das hätten sie nun erst recht nicht verstanden, weil sie sich in ihrem Amt keineswegs bedrückt fühlten und nicht wüßten, warum und wieso sie in ihrem Amt angefochten sein sollten. Wie man den Pfarrern helfen könnte, so fragte er mich etwa, die von der Anfechtung des geistlichen Amtes nichts wüßten? Es scheint mir, daß es für einen Mann, der tief um die Anfechtung als eine Begleiterscheinung des Glaubens und vollends des geistlichen Amtes weiß, erst recht eine Anfechtung bedeutet, wenn neben ihm Menschen sind, die in der gleichen Lage von dieser Anfechtung offenbar nicht berührt werden. Ich bin überzeugt, daß diese Not ihren starken Anteil daran hatte, wenn die Kraft von D. Schabert den Anstrengungen und Zumutungen seines Amtes so früh erlegen ist.

Linie

LeerIn alten Briefen fand ich einen lang vergessenen Aufsatz des früheren Ostafrika-Missionars D. Bruno Gutmann, der jetzt hochbetagt in einem mittelfränkischen Dorf lebt. Vor mehr als einem Menschenalter hat Bruno Gutmann mit großem Nachdruck gegen jeden religiösen Individualismus als ein Mißverständnis und ein Zerrbild des christlichen Glaubens und für die gliedhafte Verwurzelung in Familie, Volk, Sitte als eine notwendige Voraussetzung christlicher Existenz gekämpft. Von solchen Gedanken aus widersprach er leidenschaftlich einer rein auf individuelle Bekehrung abzielenden Missionsarbeit und versuchte die Missionsleute auf die entscheidende Bedeutung der alten Stammesbindungen und Rechtsordnungen hinzuweisen. In jenem Aufsatz, der mir jetzt wieder vor Augen gekommen ist, geht es um das rechte Verständnis des ersten Hauptstückes in Luthers kleinem Katechismus. Es sei, sagt Gutmann, völlig falsch, zu meinen, daß zwar in der alttestamentlichen Überlieferung dieser Gebote das Volk als solches angeredet sei, daß wir auf dem Boden des neuen Bundes sie aber füglich auf den einzelnen Menschen beziehen sollten. Diesen „Einzelnen” gibt es in Wahrheit nicht, sondern gemeint und von Gott angeredet ist immer der Mensch in seinen menschlichen Bindungen und Verbindungen. „Wo man das Ebenbild Gottes im einzelnen Menschen zu sehen lernt, ist der Weg zur Selbstvergötterung beschritten . . . Die Gottbildlichkeit ist nichts, was sich in einer Einzelpersönlichkeit konsolidieren könnte, denn sie ist ihrem Wesen nach Beziehung, Entsprechung, Spannung, Bewegung.” Eine „nächsten-lose Zeit” kann nicht mehr begreifen, daß nicht in der persönlichen Vollkommenheit, sondern allein in der Relation zum Nächsten, also in der Intention zur Liebe, der Mensch zum Bilde Gottes werden kann. Die Stammesordnungen und volkhaften Bindungen, auf die Gutmann damals vor mehr als einem Menschenalter die Missionen hinweisen wollte, sind zum großen Teil zerfallen; um so mehr aber bleibt die Gefahr einer individualistischen Aufspaltung der menschlichen Existenz und um so dringender ist die Notwendigkeit, das „lch” in Luthers kleinem Katechismus nicht als das „lch” der autonomen Persönlichkeit, sondern als das „lch” des in ganz bestimmte Verbindungen und Verpflichtungen hineingeordneten Menschen zu verstehen.

Linie

LeerWährend ich diesen „Brief” zu Papier bringe, steht vor mir, schön geschrieben, das Wort aus dem Buch der Weisheit (11, 24 ff.), das ich für meine geistliche Woche in Kloster Kirchberg im August d. J. als Wochenspruch bestimmt hatte. Da die Lesungen der Woche zumeist keine erkennbaren Beziehungen zu dem Inhalt der während dieser Tage zu haltenden Vorträge haben, nehme ich mir die Freiheit für diese - auch in dieser Hinsicht „ausgesonderten” - Tage andere Lesungen, auch einen anderen Wochenspruch zu wählen. Da ich damals über die Stufen des menschlichen Lebens im Handeln der Kirche zu sprechen unternommen hatte, suchte ich nach einem Wort, das den Menschen auf jeder Stufe seines Lebens in das ewige Erbarmen Gottes bindet, oder vielmehr ihn darin geborgen sieht, und so kam ich auf jenes sehr geliebte Wort aus den Apokryphen: „Du, Herr, liebest alles / was da ist / und hassest nichts / was Du gemacht hast. Wie könnte etwas bleiben / wenn Du nicht wolltest? Du schonest aber aller / denn sie sind Dein, Herr / Du Liebhaber des Lebens / und Dein unvergänglicher Geist ist in allen.” Es verlohnt sich aber, einmal das ganze Kapitel zu lesen.

Linie

LeerIn den ersten Tagen des Oktobers hat die Evangelische Michaelsbruderschaft in Marburg, an der Stätte ihres Ursprungs, das Michaelsfest zugleich als das Fest ihres dreißigjährigen Bestehens gefeiert. Der Berneuchener Dienst und die Leser unserer Evangelischen Jahresbriefe bilden den nächsten Ausstrahlungskreis dessen, was in diesem Menschenalter in der Evangelischen Michaelsbruderschaft gedacht und erkannt, erfahren und gestaltet worden ist. In den kleinen Beiträgen, die in den vergangenen Jahren unter dem Titel „Nach einem Menschenalter” hier erschienen sind, haben wir versucht, einen weiteren Kreis teilnehmen zu lassen an den Erinnerungen, die uns im Rückblick auf diese 30 Jahre bewegen. So haben wir auch an dieser Stelle dankbar dieser dreißig Jahre zu gedenken, freilich auch teilzunehmen an den Fragen und Sorgen, die uns im Blick auf die Zukunft unserer Arbeit erfüllen.

LeerEs traf sich merkwürdig, daß wir von mehreren der Kirchenführer und Bischöfe, die wir zu unserem Fest eingeladen hatten, sehr freundliche Briefe empfangen haben, daß sie aber alle durch dringende Amtsgeschäfte verhindert waren, unserer Einladung zu folgen; dagegen waren mehrere Vertreter ausländischer Kirchen und anderer Denominationen und Gemeinschaften als Gäste unter uns und haben uns freundliche Worte innerer Verbundenheit gesagt. Dieser immerhin merkwürdige Sachverhalt könnte so gedeutet - und dann freilich mißverstanden - werden, als ob durchweg diese anderen Kreise ein größeres Interesse an uns hätten als unsere deutschen evangelischen Landeskirchen und als ob wir selber uns jener Fremde stärker verbunden fühlten als der nächsten Nachbarschaft. Man darf indes solche Situationen in ihrer sich aufdrängenden symbolischen Bedeutung nicht überschätzen. Immerhin mußte ich während jener Tage immer wieder an das Wort denken, mit dem Professor Gerardus van der Leeuw im Jahr 1948 eine Tagung der Commission of Ways of Worship (im Rahmen der Conference of Faith and Order) in Cambridge schloß: Wir sind erstaunt und beglückt darüber, wie sehr wir, aus verschiedenen kirchlichen Traditionen kommend, in allen entscheidenden Fragen eines Sinnes waren; aber fast alles, worin wir einig sind, ist den Kirchen, in denen wir leben, fremd, aber es ist bekannt der ganzen heiligen katholischen und apostolischen Kirche.

Quatember 1962, 45-47

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
Haftungsausschluss
TOP