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Die Alm als Stätte geistlichen Lebens
von Walter Stökl

LeerEine Alm, die mit dem Auto nicht erreichbar ist und einigermaßen einsam liegt, ist ein besonderer Zufluchtsort unserer Zeit. Der einzelne kann sich dahin zurückziehen und weit ab von Lärm und Unruhe der Zivilisation im Tal sich dem „einfachen Leben” oder der „Betrachtung” hingeben. Irgendwie sind die Berge überhaupt ein letztes Stück unberührter Schöpfung, soweit nicht Paßstraßen, Seilbahnen und Sessellifte sie „erschlossen” haben. In den Berghotels, auf den großen Parkplätzen, auf den Campingplätzen freilich findet man weder Stille noch Einsamkeit.

LeerUnsere „Pfarrgebete” sind vor Jahrzehnten Karl Bernhard Ritter auf einer steierischen Alm geschenkt worden. In einer hochgelegenen Schutzhütte der Niederen Tauern hatten Bischof Stählin und der Verfasser dieses Berichtes in der Einsamkeit eines Hüttenraumes während des Krieges ein wesentliches nächtliches Gespräch über evangelische Marienverehrung. So ist wohl manchem einsamen Bergwanderer und modernen Einsiedler auf Bergeshöhe schon Entscheidendes „eingefallen”, hat er Träume und Visionen empfangen, die Erkenntnis und Phantasie befruchteten. Aber Geistliche Wochen auf den Bergen - nicht im Tal, sondern wirklich in der Höhe - zu halten, ist ein Wagnis.

LeerEinen bescheidenen Anfang machten wir auf Schloß Finstergrün in den Hohen Tauern, das von der evangelischen Jugend Österreichs gepachtet ist. Doch ist da die nächste Ortschaft nahe, und man kann mit Autos in den Schloßhof hineinfahren. Auch muß man in der geräumigen Burg das Quartier mit Gruppen einheimischer und ausländischer Jugend teilen. Wir zogen noch höher hinauf. Seit Jahren hält nun der österreichische Konvent der Evangelischen Michaelsbruderschaft Geistliche Wochen in einer Almhütte auf der Nordseite der Gerlitzen bei Villach, 1600 m hoch. Die Südseite dieses Bergmassivs nördlich des Ossiachersees in Kärnten ist durch eine Seilbahn auf die sogenannte Kanzel, zwei Sesselbahnen und einen Skilift dem Fremdenverkehr erschlossen. Da findet man keinen stillen Platz mehr. Aber die rauhe Nordseite liegt heute verlassen da. Ein Mulikarren bringt zwei bis dreimal in der Woche, je nach dem Wetter, Lebensmittel und Post hinauf. Drei Stunden dauert der Aufstieg von dem evangelischen Bergbauerndorf Arriach bis zur Hütte. Man begnügt sich mit Petroleumlicht, man nimmt die Gedrängtheit einer Schutz- und Skihütte willig in Kauf. Dafür lebt man in einer wunderbar weiten Landschaft, oft in der hellen Sonne, während unten die Nebel brauen. Bei klarem Wetter sieht man auch im Sommer die Schneefelder der Ankogelgruppe, ja wir haben es erlebt, daß es selbst im Juli schon in unserer Höhe geschneit hat. Es kann auch sein, daß man die ganze Woche über schlechtes Wetter trifft und kaum ins Freie kommt.

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LeerDennoch haben alle ein volles Ja zu diesem Wagnis der Geistlichen Wochen auf dem Berge gefunden. Ältere Menschen können es freilich nicht unternehmen. Hält ihr Herz es aus? Kein Arzt ist erreichbar, in's Tal ist es weit. So ist der Durchschnitt der Besucher sehr viel jünger als sonst bei Geistlichen Wochen. Wir haben auch besondere Gruppen von Jugendlichen gebildet und einmal eine ganze Woche nur für junge Menschen von sechzehn bis dreißig Jahren gehalten. Wer sich dem Hüttenstil nicht anpassen kann, geht wieder in's Tal, kommt über's Jahr nicht wieder. Die Berge schaffen eine klare Auslese. Sie verlangen mithelfenden Dienst und willigen Verzicht auf gewohnte Bequemlichkeit, und die Gefahr „geistlichen Genießertums” ist geringer.

LeerDas Besondere dieser Wochen ist ihr aufgelockerter Stil und die Verbindung der ersten und zweiten Schöpfung oder, besser gesagt, des ersten Glaubensartikels mit den beiden anderen. Läßt es die Witterung zu, wird Messe und Stundengebet im Freien gehalten. Majestätische Stille, der große Rund-blick ins Gebirge, das Mitsummen der Insekten und das Brummen der nahen Almtiere schaffen ein „Heiligtum” besonderer Art, Größe und Wirklichkeitsnähe. An den Abenden ist der Fröhlichkeit, dem Lied und Spiel und Tanz viel Raum gelassen. Sport, Gymnastik, Wandern, Beerensuchen kommen zu ihrem Recht. Man lebt ein naturnahes Leben, erlebt die Größe des Morgens, die hohe Mittagsstunde und den stillen Abend, die sterndurchstrahlte Nacht, aber auch wilde Gewitter und schreckhafte Stürme, die an der einsamen Berghütte rütteln. Weniger für uns bergvertraute Österreicher, aber für unsere Freunde aus dem Flachland ist schon das Erlebnis des „Berges” groß und gewaltig. Aber in dieser Umwelt wird nun auch Beichte gehört und seelsorgerlicher Rat erteilt. Man versucht Lebensprobleme zu lösen, studiert die Heilige Schrift, feiert die Messe - wenn es die Witterung zulaßt, im Freien - psalmodiert gregorianisch und ganz modern und behandelt in Vorträgen und Aussprachen geistliche Fragen.

LeerEs kommt jedesmal rasch zu einer Hüttenfamilie, den Kern bilden bewährte „Hüttenfreunde”, die alle Jahre wiederkehren. Jung und alt, Mann und Frau, Verheiratete und Unverheiratete, Priester und Laien, hochgebildete und einfache Menschen aus allen Berufen, Österreicher und Deutsche - auch katholische Gäste, die in ökumenischer Begegnung mit uns beten, feiern und nach der Wahrheit fragen - leben hier als Glieder Christi zusammen, und alle erfüllt Freude. Frohsinn und Herzlichkeit machen das Leben hier oben leicht, nicht nur die dünne Luft und die starke Sonne. In Wien, in Linz, in Graz, aber auch in Stuttgart, München und Hamburg haben die „Hüttenfreunde” ihren Wohnsitz. Dort bleiben sie auch das ganze Jahr über in regem Briefwechsel und persönlicher Verbindung. Ist das Jahr um, zieht man wieder auf die Hütte. Aus den Opfern aber, welche die Besucher der Berghüttenwochen bringen, wird ein kleines diakonisches Gemeinschaftswerk in der österreichischen evangelischen Diaspora aufgebaut.

LeerWill man „zur Höhe” fahren, geistlich wachsen und ein „weites Herz” voll Liebe und Freude bekommen, ist es gut, auf die Berge zu gehen, in ihrer Einsamkeit mit solchen, die gleiche Sehnsucht treibt, Gemeinschaft zu finden und die Wandlungen an sich geschehen zu lassen, die den Wachen und Bereiten dort geschenkt werden.

Quatember 1962, S. 80-81

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
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