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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerMeine Notiz über die Bar als ein mögliches Symbol der Hölle (im Brief des Michaelis-Heftes) hat den ernstlichen Protest eines guten Freundes hervorgerufen. Er schreibt, daß er manche Barmixer als sehr ernsthafte Menschen kenne und daß in den Gesprächen auf den Barhockern, wo keiner den anderen sieht, jedenfalls nicht anzusehen braucht, nicht allzuselten tiefe Lebensfragen zur Sprache kommen und ein letzter Rest von der realen Verzweiflung des modernen Menschen hervorbricht; es sei lieblos, gerade diesen Beruf in solcher Weise zu „verteufeln”, weil sich die Nähe der Hölle in einem Fabrikbetrieb oder auch in der Arbeit einer kirchlichen Gemeinde in der gleichen Intensität auswirken könne. Damit hat der Briefschreiber nun unzweifelhaft recht. Als ich seinen Brief las, kam mir jene Festpredigt in Erinnerung, während der ein verehrter und lieber Amtsbruder, der neben mir saß, mir zuflüsterte: „In der Höll' predigt es.” So nahe sind wir selber mit unserem heiligen Dienst der Gefahr der höllischen Entartung. Es scheint mir aber ein wichtiger Unterschied, ob ich „eine Bar als Hölle darstelle” oder ob ich mir die Hölle am Bild einer Bar vor Augen rücke. Und wenn wir nur wissen, wie sehr uns - auch in der besten Gesellschaft und in feierlichster Umgebung! - die Hölle nahe sein kann, dann kann es uns eben widerfahren, daß uns diese Gefahr der uns immer bedrohenden höllischen Entartung in bestimmten Situationen besonders greifbar und unmißverständlich vor Augen gerückt wird, und es ist ja dann doch immer unsere eigene Gefahr, weil wir mit all diesen Menschen, wahrhaftig auch den Barmixern und dem in der Bar sitzenden Publikum, in einer tiefen Schuldverhaftung solidarisch sind.

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LeerEin Glied unseres Kreises berichtet mir von folgendem Gespräch mit dem Ortspfarrer: „lch erwähnte meine Teilnahme an der von Ihnen (Stählin) geleiteten Woche”. - „Aha, Stählin, der Liturgiker!”. - Ich versuchte den Mann dahingehend aufzuklären, daß diese Bezeichnung den Tatsachen nicht entspricht, worauf er sehr bestimmt entgegnete: „Jedenfalls gilt er in Bayern als solcher.” - Meine Antwort: „Eine unrichtige Aussage wird nicht dadurch wahr, daß so und so viele Leute sie unbesehen übernehmen, nachsagen und weiterverbreiten.” Darauf nahm das Gespräch plötzlich folgende Wendung: „Daß er in seinen Radiopredigten über die Köpfe wegspricht, wissen Sie doch wohl?” Ich sehr erstaunt: „Nein, das wußte ich nicht. Das höre ich soeben aus Ihrem Mund zum ersten Male.” - Man hätte auf diese Bemerkung auch antworten können, daß es eben leider Köpfe gibt, über die man hinwegreden muß, wenn man von der Sache sprechen will.

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LeerDie vom Evangelischen Presseverband für Bayern herausgegebene Zeitschrift „Kirche im Rundfunk” druckt in ihrer Nr. 50 (vom 14.12. 61) eine mit epd (Evangelischer Presse-Dienst) gekennzeichnete Notiz über eine Lehrerin und ihre Äußerung ab, daß man „auch ohne Bildschirm im Bilde sein könne”; die Frage, ob eine Lehrerin mit diesem Standpunkt ihren Schülerinnen ein Vorbild sein kann, könne nur mit einem eindeutigen nein beantwortet werden, schreibt epd. Aus jener Notiz geht nicht klar hervor, was diese Lehrerin tatsächlich gesagt hat, aber jedenfalls ist die in Anführungszeichen gesetzte Äußerung, die nichts anderes besagt, als daß man auch ohne Fernsehen ein wohlunterrichteter und gebildeter Mensch sein kann, keineswegs mit jenen schroffen Urteilen gleichzusetzen, die epd daraus ableitet; weder ist damit gesagt, daß ein solcher Lehrer das Fernsehen für etwas Verworfenes oder eine Verfallserscheinung, noch daß er es für einen Zerstörer seiner pädagogischen Arbeiten hält. Epd schießt mit schwerem Geschütz gegen einen Lehrer, der das Fernsehen nicht für eine notwendige und unentbehrliche Quelle der Information, der Bildung, des Urteils hält; „er isoliert sich, er trennt sich von der Zeit, er entzieht sich schlechthin der Daseinswirklichkeit”, als ob das, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, die Daseinswirklichkeit wäre! Wenn eine Zeitschrift für Rundfunk und Fernsehen in solcher Weise über das Fernsehen schriebe, würde sich niemand darüber aufhalten; aber wenn der Evangelische Presseverband einen solchen Unsinn von sich gibt, so ist das wirklich eine Verfallserscheinung. - Wird mich nun epd auch der „konfusen Voreingenommenheit” beschuldigen und mir bescheinigen, daß ich nicht „im Bilde” sein könne?

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LeerImmer wieder höre ich, daß viele Leser unserer Jahresbriefe zuerst meinen „Brief” aufschlagen, weil sie offenbar zu solchen kurzen und stark persönlich gefärbten Äußerungen leichteren Zugang haben als zu längeren grundsätzlichen Ausführungen. Aber würde dieser „Brief” nicht an Anziehungskraft gewinnen, wenn er nicht von dem Herausgeber allein bestritten würde, sondern auch Leser darin als Mitarbeiter zu Worte kämen? Ich lade deswegen alle Leser unserer Blätter dazu ein, ihre eigenen Erfahrungen und Gedanken zu diesem „Brief” beizusteuern und solche Beiträge entweder an mich als den Herausgeber oder an den Schriftleiter zu senden; es wird uns freilich überlassen bleiben müssen zu entscheiden, welche Beiträge sich zum Abdruck im Rahmen dieses „Briefes” - oder sagen wir dann wohl richtiger der „Briefmappe” - eignen; und die einzelnen Briefschreiber mögen ihrerseits bestimmen, ob ihre Beiträge mit oder ohne ihren Namen verwendet werden sollen.

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LeerUnd nun gleich ein Beispiel solcher Mitarbeit:
Gelegentlich des Berneuchener Treffens in Stuttgart an Epiphanias d. J. hielt ich dort eine Predigt und zwar, wie mir von dorther vorher nahegelegt worden war, über den Wochenspruch „Er hat seinen Engeln über dir befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen”. Darauf erhielt ich u. a. einen Brief, der folgende Sätze enthält: „Ich bedaure immer so sehr, wie wenig evangelische Menschen sich über die Realität der Engel im klaren sind und wie sie noch viel weniger ein persönliches Verhältnis zu ihrem Engel haben. Ich habe die merkwürdige Erfahrung gemacht, bei mir und anderen, daß gerade das Technische unserer Zeit die Menschen wieder mit ihren Engeln konfrontieren kann, besonders das Autofahren. Ich ‚spreche’ fast immer vor dem Fahren und sehr häufig während des Fahrens mit meinem Engel; ‚sprechen’ ist natürlich nicht richtig, und, wie real man ihn während gefährlicher Augenblicke fühlen kann, ist gar nicht zu sagen. Sicher verstehen Sie darum auch, warum ich meinen jetzigen kleinen Wagen .Tobias genannt habe, den vom Engel Geleiteten; oben am Blendschirm über mir steckt diese wunderschöne gotische Bildkarte von Tobias, der von den drei Erzengeln geführt wird, und er hat den von Ihnen in Ihrer Predigt erwähnten, vertrauensvollen Ausdruck; wie sollte er auch anders aussehen, als getrost?” - In einem weiteren Brief heißt es dann: „Jedes technische Gerät ist doch eine Vorstufe jener merkwürdigen und sehr unheimlichen Entwicklung zum elektronischen Gehirn und dem selbstdenkenden Roboter. Mir scheint immer, die Dinge funktionieren besser, wenn man sie wie Persönlichkeiten behandelt und irgendwie mitliebt in ihrem stummen Dienen. ‚Tobias’ jedenfalls wird oft ein wenig dankbar gestreichelt.”

Quatember 1962, S. 94-96

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
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