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Hebräische wider griechische Psychologie?
Zum Gespräch mit C. G. Jung

von Gerhard Bartning

LeerAm Ende seines Aufsatzes „Zum theologischen Gespräch mit C. G. Jung” (Erstes Heft dieses Jahrgangs, Seite 20) spricht Joachim Scharfenberg die Vermutung aus, daß „der jüngeren Theologengeneration, wenn sie sich schon einmal mit Psychologie befassen muß, der religionslose Hebräer Freud, dessen Sprache immer noch etwas von der Beziehungswirklichkeit des alttestamentlichen Realismus verrät und der zeit seines Lebens mit der Vatergottheit gerungen hat und von dem Phänomen Mose nicht loskam, näher steht als der ‚Grieche’ Jung mit seiner Bilderwelt”. Dabei kommt es ihm weniger auf eine bessere Würdigung der beiden großen Pioniere der Tiefenpsychologie an als auf eine exaktere „Ortung” der theologischen Voraussetzungen, von denen her ihr Lebenswerk kritisch verstanden werden muß. Scharfenberg läßt keinen Zweifel darüber, von welchem der beiden Meister der Seelenheilkunde und Seelenführung er als Theologe mehr erwartet. Er verkennt zwar nicht, daß Jung „ganz gewiß nicht zerstören und auflösen will, sondern im Gegenteil ein Angebot macht, eine Hilfe bieten will”. Aber er stellt an die evangelische Theologie eine Art Gewissensfrage, „ob sie solche Assistenz annehmen kann und soll”. Denn er glaubt zu sehen, daß sich die Erkenntnis Bahn bricht, „daß christlicher Glaube und Religion voneinander zu trennen, ja in ihrer letzten Gegensätzlichkeit gesehen werden müssen. Handelt es sich doch auf seiten des christlichen Glaubens um das streng personale Gegenüber von Mensch und Gott, während auf seiten der Religion der Mensch durch mancherlei Unternehmungen versucht, Gott näher zu kommen, ja, sich letztlich seiner zu bemächtigen und sich selbst vor ihm zu rechtfertigen. Kann es aber Aufgabe der Theologie sein, den Menschen in seinen religiösen Unternehmungen zu bestätigen, oder ist die Verkündigung des Evangeliums die Krisis aller Religionen?”

LeerHier soll nicht die Frage entschieden werden, ob Jung auf die Seite einer so verstandenen „Religion” gehört, auch nicht, ob das Phänomen, die Lebens- und Erscheinungswirklichkeit der Religion selbst in ihrer geschichtlichen Mannigfaltigkeit richtig erfaßt ist - ob zum Beispiel jede Religion sich Gottes bemächtigt und ob in den Religionen, wo es Gottesbemächtigung tatsächlich gibt, diese nicht gerade die Entartung der Religion darstellt. Hier soll lediglich versucht werden, die Linie von dem Phänomen „Religion” zu dem „Religiösen” bei Jung, zu seinem „Griechentum” und seiner „Bilderwelt” durchzuziehen. Denn hinter den letzten Sätzen des Scharfenbergschen Aufsatzes zeichnet sich eine Gleichung zwischen „Religion” als „menschlicher Unternehmung”, „Griechentum” und „Bilderwelt” ab, die wirklich „mit allen Folgerungen und Schwierigkeiten zu Ende diskutiert werden” sollte! Die große Wiedergeburt reformatorischer Theologie, der Schrifttheologie überhaupt, bleibt für immer mit dem Programm und der fortdauernden Hoffnung einer „Theologie des Wortes” verknüpft. Sie durfte sich auch „Theologie der Krise” nennen, in jenem Sinn, daß die Offenbarung des wirklichen Gottes „Ende und Krise aller Religion” sei. Die Phänomenologie der Religion (besonders G. van der Leeuw) und die Formgeschichte des Evangeliums (M. Dibelius und R. Bultmann) konstatierten gemeinsam und unabhängig voneinander, daß der Hebräer ein hörender Mensch sei und auch die großen prophetischen Visionen des Alten und Neuen Bundes nichts seien ohne die Stimme, die sie begleitet, akzentuiert, deutet. Die biblischen Visionen, so erkannte man immer deutlicher, sind Erweckung, Zuspruch, Gebot und Gericht, sind oft genug auch wortverbunden. Der Glaube kommt nach Röm. 10, 17 aus dem „Ge-Hör” (nicht aus der Predigt, wie Luther mißverständlich übersetzte).

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LeerSo weit scheint die Typologie der Offenbarungs„religion” klar und eindeutig zu sein. Doch haben wir „den Schatz in irdenen Gefäßen”, und die kritische Frage muß bis zu jenem Punkt vorgetrieben werden, wo auch das „akustische” Element, besser: Medium der Offenbarung, als eine unter manchen Weisen der Mit-Teilung Gottes erkannt wird, als eine unter den Freiheiten Gottes und den Freiheiten Seines Geschöpfes, eine unter den Freiheiten zu geben und zu nehmen, unter den Freiheiten einzudringen, aufzunehmen, sich verwandeln zu lassen. Wir mögen freilich an diesem Punkt auch schmerzlich vermissen, daß es noch keine umfassende wissenschaftliche und umfassend deutende Untersuchung über die Hierarchie der menschlichen Leibessinne gibt. Doch soviel läßt sich heute mit Bestimmtheit sagen: keiner der menschlichen Leibessinne darf gegen den andern ausgespielt werden. Karl Happich hat festgestellt, daß mindestens drei Viertel der Inhalte jener Zwischenschicht zwischen dem Wachbewußtsein und dem Unbewußten, die er das Bildbewußtsein nannte, aus optischen, das heißt Bild-Elementen bestehe. Und wie ist es mit der Heiligen Schrift selbst? Gewiß: Wenn wir uns auf die Dynamik der offenbarenden Vorgänge konzentrieren, überwältigt uns der „Hall” des göttlichen Worts, die Stimme wie Donnergetöse und tiefes Wasserrauschen, das Wunder, daß der „Herr mir das Ohr öffnete, daß ich höre wie ein Jünger”.

LeerAber können wir darüber hinweggehen, daß die erste Kreatur, die Erstgeburt gleichsam des Schöpferworts, das Licht ist, das aller möglichen Gestalt „Existenz” verleiht, das heißt sie „hervortreten”, zum Vorschein kommen, Raum und Kontur gewinnen läßt? Müssen wir nicht beim Lesen, beim „Hören” innehalten, wenn wir auf den letzten Blättern der Bibel angelangt sind und Bild um Bild hervordrängt? Wieviel begnadete Hörer und Seher der göttlichen Verheißung schlug die Vision des himmlischen Jerusalem in Bann, und, wenn man scherzhaft übertreiben wollte, so könnte man fast sagen, der Prophet der Johannesapokalypse habe in seine Vorschau schon einbezogen, daß 1900 Jahre später ein nachgeborener „Grieche” namens Carl Gustav Jung die „Archetypen” der kosmischen Mutter und des göttlichen Kindes, der Vier Wesen und der vierseitigen Ewigen Stadt wiederentdecken und beschreiben werde! Bultmann hat gewiß recht, wenn er uns darauf aufmerksam macht, daß der Prozeß der „Entmythologisierung” im Neuen Testament selbst anhebt. Die Bilder, die letzte Ratschlüsse Gottes, letzte Seinsordnungen aussagen, sind mit Bedacht und keineswegs „glossolalisch”, so ins „Ungefähre” gewählt. Sie ergänzen, begrenzen, „richten” einander in den Bekenntnisaussagen des Neuen Testaments. Keines setzt sich absolut, keines dürfen darum auch wir absolut setzen und damit in ein Götzenbild umfälschen!

LeerDas Bild von Gottes Vaterherrlichkeit wird durch die prophetische Tröstung: „wie einen seine Mutter tröstet” eingeschränkt und zugleich vervollständigt, das Bild des Knechts durch die Ernennung der Herrenjünger zu Freunden, das Bild unermeßlicher Höhe durch das Bild unauslotbarer Tiefe (die Tiefen der Gottheit!), das Bild des verzehrenden Feuers durch das Bild des fruchtenden Taus! Aber am Ende des neutestamentlichen Kanons brechen wirklich die mythischen Bilder durch - und daß wir es uns nicht leisten können, sie ungedeutet zu lassen, haben uns allerspätestens die Schwärmer und Sektierer gezeigt!

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LeerNochmals zur Ausgangsfrage: Will Jung mit seiner Interpretation der Bilder, die er als Ratgeber der Ratsuchenden, als Arzt der Neurosekranken keineswegs spiritistisch „zitiert”, geschweige denn archäologisch „ausgegraben”, sondern angetroffen hat, das Arsenal liefern für jenen fragwürdigen Versuch, sich Gottes zu bemächtigen, den man betrüblicherweise „Religion” genannt hat? Er will dem Menschen, der nicht glauben kann - Glauben ist für Jung ein „Charisma” (V. White, Gott und das Unbewußte m. e. Vorwort v. C. G. Jung u. e. Beitr. v. Gebhard Frei, Zürich u. Stuttgart 1957, Seite 330) - dem Menschen, der aus der Geborgenheit der kirchlichen Institution ausgewandert oder ausgestoßen ist, zum „Verstehen” verhelfen. Die großen Bilder der Tiefe, mit denen die leidende und ihren Sinn suchende Seele sich ausspricht, lehrt er einordnen als große Bruchstücke einer übergeordneten Instanz (wie etwa Goethe seine Werke als „Bruchstücke einer großen Konfession” lesen lehrte), einer Instanz, die er das Selbst nannte. Aber mehrfach, besonders auch brieflich, warnt er, dies „Selbst” zu „hypostasieren”, das heißt aus einem kritischen Grenzbegriff, einer Arbeitshypothese, eine metaphysische Wesenheit zu machen. Und vollends steht er dagegen auf, dies „Selbst” mit Gott zu identifizieren. „Dieses ‚Selbst’ ist nie und nimmer an Stelle Gottes, sondern vielleicht Gefäß für göttliche Gnade” (Jung an G. Frei bei White a. a. O. 319 f.). Die Gefahr der Verwechslung zwischen beiden - das betont Jung einige Male - ist groß, weil die Symbole für jene „transzendente” Totalität des „Selbst” von den Symbolen für Gott nicht unterschieden werden können. „Ich habe das nicht erfunden”, bemerkt er trocken. „Gott selber hat die Seele geschaffen und ihre Archetypen. Er hat das geschaffen, was die Menschen hochmütig ‚Ersatz’ nennen. Es handelt sich, theologisch ausgedrückt, um die imago Dei, die eben numinos ist. Natürlich sind unsere Symbole nicht Gott. Wie könnte irgendein Mensch Gott ersetzen? Ich kann ja nicht einmal einen verlorenen Knopf durch die Phantasie ersetzen, sondern muß mir einen neuen wirklichen kaufen” (a. a. O. 325).

LeerJung will, wie Scharfenberg mit Recht erinnert, merken lassen, „daß es nichts nützt, das Licht zu preisen (praedicare = predigen!), wenn es niemand sehen kann”. Und ist es nur der potentielle „Grieche” in uns, der den „Weg zum Sehenkönnen” geführt werden muß? Hat ihn der „Hebräer” nicht genau so nötig - wie denn sogar Mose selbst begehrt, Gottes Antlitz zu schauen? Und durchbebt die Johannesschriften des Neuen Testaments nicht das heimliche Jauchzen darob, daß die Zeugen das „Leben”, das erschienen ist, gesehen, gehört, geschaut und mit den Händen betastet haben? Wäre uns wirklich damit gedient, wenn das „Ge-Sicht” zugunsten des „Gehörs” entmythologisiert, das eine auf das andere reduziert würde (wobei noch gar nicht ausgemacht ist, wieviel auch quasi „optische” Elemente und Momente im Hör-Erleben sind, vergegenwärtigen wir uns nur Vokal und Klang, Klangausbreitung und -verdichtung, Klangverläufe und Klang„gestalten”!). Es wäre sicherlich bequemer, wenn wir so „reduzieren” dürften! Wer weiß aber, welche Irrlichter und Dämonen sich dann in unserem „Gesichts”-Feld tummelten. Und wie tummeln sie sich jetzt schon, weil durch Jahrhunderte eine fleißige „Wort-Theologie” ebendies „Gesichtsfeld” wahrhaftig preisgegeben hat, untreu ihrem Herrn, der die Lilien auf dem Felde, die Vögel unter dem Himmel, die Haare auf dem Haupte und den Groschen im Kehricht ihrer Aufmerksamkeit nachdrücklichst empfohlen hat! Ist dies Auftun eine religiöse Eigenmächtigkeit des Menschen? Jung pflegt die Auskunft darüber zu verweigern, wer nach seiner Meinung die Augen anrührte, daß sie wieder sehend wurden - er will weder. Priester noch Prediger sein. Wir sollten ihm dankbar sein, daß er so leidenschaftlich bestreitet, es sei etwa der Therapeut, der dies zuwege bringe.

Leer„Christus ist doch in uns und wir in ihm! Warum soll die Wirkung Gottes und die Gegenwart des Sohnes des Menschen` in uns nicht wirklich und erfahrbar sein? Ich bin Gott ja alle Tage dankbar, daß ich die Wirklichkeit der Imago Dei in mir erfahren durfte. Hätte ich das nicht, so wäre ich ein bitterer Feind des Christentums und der Kirche insbesondere. Dank diesem actus gratiae hat mein Leben Sinn, und mein inneres Auge wurde aufgetan für die Schönheit und Größe des Dogmas. Ich kann sehen, daß die Kirche meine Mutter ist und daß der Geist meines Vaters mich von ihr hinweg auf das Schlachtfeld führt, wo mir täglich das Licht ausgelöscht zu werden droht durch den princeps huius mundi (Fürst dieser Welt), das erstickende Dunkel der Unbewußtheit” (Brief Jungs an Frei 13. 1. 1948, a. a. O. 331 f.).

LeerKein Synkretismus, aber Synthesis, Synthesis der durch die Gnade erweckten Sinne! Könnte das nicht auch für uns eine gute Sache sein?

Quatember 1962, S. 117-120
© Gerhard Bartning

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-03
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