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Briefe [Wiedergeburt und Vererbung]
von Wilhelm Stählin

LeerAus einem älteren Brief: Sie fragen, wie sich die Forschungsergebnisse über die Bedeutung der Erbmasse vereinbaren lassen mit der christlichen Lehre von der Wiedergeburt des Menschen. Zunächst scheint mir diese Fragestellung auf einem Mißverständnis dessen, was Wiedergeburt ist, zu beruhen. Das neue Leben, an dem wir durch die „Zeugung von oben her” (= Wiedergeburt) Anteil empfangen, ist nicht eine quantitative oder qualitative Veränderung des psycho-physischen Materials; die Summe aller jener überkommenen Anlagen, die wir heute als Erbmasse bezeichnen, wird durch die Wiedergeburt nicht verändert. Jene radikale Wandlung, von der die Bibel redet, hebt das Lebensganze in einen neuen Zusammenhang, sozusagen auf eine neue Ebene. Das Bild, das die Bibel selbst für diesen Vorgang gebraucht, ist die Entstehung des Lichtes bei der Verbrennung des Stoffes oder die Entstehung eines neuen Lebensprozesses aus dem in die Erde gestreuten Samen. In beiden Fällen wird durch den Vorgang nicht etwa das Material verändert; im Gegenteil: wie das Licht brennt, hängt völlig ab von der Art des brennenden Stoffes, und was da wächst, hängt ab von dem, was gesät worden ist.

LeerDie Einsicht in. die Unveränderlichkeit der Erbanlage besagt nur, daß das Material festgelegt ist. Die Wandlung, die durch das Werk des göttlichen Geistes an diesem Material geschehen kann und geschehen soll, geht in eine ganz andere Richtung, in eine andere Dimension als es die nebeneinander stehenden Möglichkeiten verschiedener Erbanlagen darstellen. Grob gesagt: selbstverständlich wird durch. die Wiedergeburt niemals aus einem Neger ein Weißer, auch nicht aus einem Phlegmatiker ein Sanguiniker; die einfache Tatsache, daß der „wiedergeborene” Mann dennoch nicht aufhört Mann, die wiedergeborene Frau nicht aufhört, eine Frau zu sein, hat eine sehr große Tragweite. Freilich wird durch diese Einsicht in die (relative) Konstanz der Erlebnisse die andere Einsicht nicht aufgehoben oder abgeschwächt, daß die „Wiedergeburt” nicht ohne ein Todesschicksal, nicht ohne das Sterben des „alten Menschen” gewonnen werden kann. Damit sind gewiß nicht alle Einzelfragen gelöst, aber der Frage selbst, wie sich Vererbung und Wiedergeburt verhalten, wird ihr beunruhigender Stachel genommen.

Quatember 1962, S. 143

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
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