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Der Drachentöter und die Königstochter
von Hans Carl von Haebler

Georg der DrachentöterLeerDer heilige Georg ist die irdische Verkörperung des Erzengels Michael. Das zeigt unsere lkone auf den ersten Blick. Der Lindwurm, der schwarze Höllenschlund und der See, aus dem er hervorgekrochen ist, die Lanze, die ihn zu Boden zwingt - all das gehört ja auch zum Bilde des Erzengels. Der Unterschied zwischen diesem und dem Ritter besteht eigentlich nur darin, daß er geflügelt, der heilige Georg dagegen beritten ist.

LeerDer Erzengel Michael streitet nicht aus Ruhmsucht. Er eilt dem apokalyptischen Weib, er kommt der Ekklesia zu Hilfe, auf die es der Drache abgesehen hat. So ist auch der heilige Georg nicht ausgezogen, um Abenteuer zu bestehen, sondern um zu helfen. Er nimmt den lebensgefährlichen Kampf mit dem Lindwurm auf um der Königstochter willen, die schutzlos vor dem Stadttor steht.

LeerDoch hat der Kampf des heiligen Georg mit dem Drachen nicht nur ein christliches Vorbild. Schon der Mythos von Perseus und Andromeda weiß von einem Seeungeheuer, das die Menschheit bedroht und sich nur mit Menschenopfern abspeisen läßt. Die ganze Jugend und Hoffnung des Volkes fällt ihm zur Beute, und schließlich ist die Königstochter Andromeda an der Reihe. Da aber, wie das Ungetüm aus den Fluten auftaucht, um sich ihrer zu bemächtigen, fährt Perseus, der mit Flügelschuhen ausgestattete Sohn des Zeus, vom Himmel herab und versetzt ihm den tödlichen Schwerthieb. Dieser griechische Halbgott ist dem Erzengel so ähnlich, daß man nicht umhin kann, ihn zu den Gestalten zu zählen, in denen Gott sich der vorchristlichen Welt offenbart hat.

LeerIm Alten Testament nimmt der Halbgott die Gestalt des Engels an. Das heißt: Was der Heide als Eingreifen eines Gottes in die Geschichte des Menschen verstanden und deshalb auch in der menschlichen Gestalt des Halbgottes bildhaft gemacht hat, enthüllt sich hier als die Art und Weise, in welcher der Schöpfergott mit den Menschen verkehrt, und das ist eben der Engel. Im Gefolge des menschgewordenen Gottes verkörpert sich der Engel wiederum in der Gestalt des Heiligen. Die Verkörperung des Engels im Heiligen liegt in der Verlängerung der Fleischwerdung Christi. So heißt es schon bei Stephanus, daß sein Angesicht anzusehen war wie eines Engels Angesicht. Der Heilige ist nicht heilig kraft seiner menschlichen Tüchtigkeit und kraft der Verdienste, die er sich um die Menschheit erworben hat, sondern weil der Engel in ihn gefahren ist, das Dunkel seiner Seele erleuchtet und den Drachen überwunden hat, der darin hauste und ihn von innen aufzufressen drohte.

LeerSo wie Georg kein gewöhnlicher Ritter ist, ist auch die Königstochter keine gewöhnliche Königstochter und die Stadt, vor deren Mauern sich der Kampf mit dem Drachen abspielt, keine gewöhnliche Stadt. Vielmehr wird man sagen müssen:

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LeerWenn der Kampf des heiligen Georg ein Michaelskampf im kleinen ist, sozusagen ein Einzelkampf im Rahmen der großen Entscheidungsschlacht, die Christus dem Teufel liefert, dann ist auch die Königstochter eine Einzelgestalt im Gefolge der Ekklesia: Sie ist die menschliche Seele, die ohne göttlichen Beistand den Mächten des Bösen preisgegeben wäre.

LeerIn der Stadt aber werden wir wohl die Institutionen zu sehen haben, mit denen wir uns vor dem Bösen zu schützen suchen. Mit ihren stolzen Mauern und Türmen scheint sie Sicherheit zu bieten. Aber die Legende berichtet, daß der Drache die Stadt mit seinem Pesthauch vergiftete und eben dadurch die schauerlichen Menschenopfer erzwang, deren letztes die Königstochter sein sollte. Keine Institution, sondern nur der Beistand Gottes, der in diesem Falle den heiligen Georg zu Hilfe gesandt hat, vermag die Stadt und die Königstochter zu retten.

LeerWie ein trennender Keil füllen Roß und Reiter den Raum zwischen der Stadt und dem Drachen aus, und die lange, in den Rachen des Untiers stoßende Lanze gleicht einem Trennungsstrich, der die Welt des Menschen von dem Machtbereich des Bösen scheidet.

Der Drache ist überwunden. Die Königstochter hält ihn an einer dünnen Leine, als wenn es ein Hündchen wäre. Nachdem der Schimmelreiter ihm den tödlichen Stoß versetzt hat, wird sie leicht mit ihm fertig. Der Teufel ist gebändigt, die Stadt entzaubert und für Gott erobert. Sie ist reif zur Taufe, und das vorchristliche Bollwerk wird Christus aufnehmen und zur Kirche werden, der die Pforten der Hölle nichts mehr antun können. Über die Zinnen gelehnt nehmen die Eltern der Königstochter an dem erregenden Schauspiel teil, dazu noch eine Frauengestalt. Ist es vielleicht schon die Ekklesia, die von der Stadt Besitz ergreift?

LeerDer heilige Georg erinnert nicht nur an Perseus und den Erzengel. Er muß wohl auch mit dem zusammengesehen werden, den Johannes auf Patmos zu sehen bekam: „Und ich sah den Himmel aufgetan, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß Treu und Wahrhaftigkeit, und er richtet und streitet mit Gerechtigkeit, und sein Name heißt ‚das Wort Gottes’.”

LeerDer heilige Georg stammt aus der kleinasiatischen Provinz Kappadokien, deren Grenzen sich mit dem heutigen, nach ihm genannten Georgien überschneiden. Er war Soldat im römischen Heer und wurde in der Christenverfolgung des Kaisers Diokletian um das Jahr 303 vermutlich enthauptet. Die Ostkirche feiert ihn als „Großmärtyrer” und Vorkämpfer für die Kirche. Als solcher ist er im Drachentöter bildhaft geworden. Im Abendlande erfreut sich der heilige Georg seit den Kreuzzügen als Vorbild des christlichen Ritters und als einer der vierzehn Nothelfer großer Beliebtheit. Seit dem 13. Jahrhundert ist er auch der Nationalheilige Englands. Im römischen Kalendarium hat der Heilige kürzlich seinen eigenen Feiertag, den 23. April, verloren, offenbar, weil die Historiker von ihm nicht viel mehr feststellen können als den Tag seines Martyriums. Aber die Legende oder Hagiographie ist etwas anderes als eine Biographie. Sie ist kein Gegenstand für die Geschichtsforschung, sondern eine Gestalt des Glaubens.

Quatember 1962, S. 145-146

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
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