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Endzeit
von Rose Matz

LeerIm Dunkel des Monats November stehen die letzten Sonntage des Kirchenjahres wie drei gewaltige Wächter, wie mächtige Felsen, zwischen denen ein schmaler Pfad hindurchführt. Tod, Gericht, Bereitschaft zum letzten Aufbruch sind die Themen der Lieder, in denen der ganze Ernst dieser Zeit sich sammelt.

LeerDem Lied „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen” (EKG 309) liegt die Antiphona „Media vita in morte sumus” zugrunde. „Quem quaerimus adjutorem, nisi te, domine, qui pro peccatis nostris juste irasceris? Sancte deus, sancte fortis, sancte et misericors salvator, amarae morti ne tradas nos.” Eine getreue Übersetzung ist in der ersten Strophe des Liedes enthalten. Diese Strophe wurde schon im 15. Jahrhundert deutsch gesungen. Im 14. Jahrhundert verfügte eine Synode zu Köln (1316), niemand dürfe ohne Erlaubnis seines Bischofs die Antiphon singen. Man schrieb ihr eine Zauberkraft zu und sang sie in der Schlacht und bei öffentlichen Unglücksfällen.

LeerLuther ist mit der ergreifenden Strophe groß geworden. Er fügte zwei weitere hinzu. Er stellt der Stimme des Gesetzes: „ Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen” die Stimme des Evangeliums entgegen: „Mitten wir im Tode sind mit dem Leben umfangen.” Er hält sich eng an den Aufbau der alten Strophe und verknüpft seine Dichtung mit den alten Worten: mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen; mitten in dem Tod anficht uns der Hölle Rachen; mitten in der Höllen Angst unsre Sünd uns treiben. Und aus Todes- und Höllenangst steigen die Fragen: wen suchen wir? wer will uns frei und ledig machen? wo solln wir denn fliehen hin? Auf die flehentliche Bitte: laß uns nicht versinken in des bittern Todes Not; Iaß uns nicht verzagen; laß uns nicht entfallen vom Trost des Glaubens kommt die erlösende Antwort: vergossen ist dein teures Blut, das genug für die Sünde tut. Die Melodie ist von Angst erfüllt; nur die Worte: das bist du, Herr, alleine; das tust du, Herr, alleine; zu dir, Herr Christ, alleine, werden von ruhiger Gewißheit getragen. Hier gehen die Töne bis zum c herab. Nach ihnen beginnt wieder angstvolles Flehen.

LeerWenn als Morgenlied dieser Woche „Morgenglanz der Ewigkeit” (EKG 349) gewählt ist, so gießt dieses Lied Licht über die Qualen des Todes und der Höllenangst. Die Nacht wird vertrieben. Die geschmacklose zweite Strophe, in der die „bewölkte Finsternis durch Adams Apfelbiß die kleine Welt bestiegen hat”, ist durch Will Vesper glücklich verändert, fehlt aber im EKG.
Laß die finstern Wolken all,
Herr, vor deinem Glanz verfliegen,
Die durch Adams Sündenfall
Uns, die kleine Welt, besiegen.
Daß wir, Herr, durch deinen Schein
Selig sein.
LeerHinter der „kleinen Welt” mit ihrer Dürre und Kälte, ihrer Plage und ihren Tränen steht der „Aufgang aus der Hoh”, die Gnadensonne und die Verklärung der Auferstehung.

LeerUm 1565 erschien „ein Lied vom Jüngsten Tage”, das Ringwaldt 1586 „verbesserte”. Diesem Lied „Es ist gewißlich an der Zeit” (EKG 120) liegt die ergreifende mittelalterliche Sequenz des Thomas von Celano (1190-1253) zugrunde. Wie die schon besprochene Antiphon zeigt auch dieser Hymnus die Verknüpfung unserer Lieder mit den alten katholischen Gesängen. Die dreizeiligen Strophen des gigantischen lateinischen Hymnus kehren - allerdings verflacht - in Ringwaldts Lied wieder. Sie haben aber kaum noch etwas mit jenen zu tun.

LeerDer Hymnus ist durch die Wucht der lateinischen Sprache, durch die unheimliche Macht und Fülle der Bilder in keine Übersetzung zu zwingen. Seit der Romantik mühte man sich vergeblich darum. Im Jahre 1806 schreibt der Frankfurter Theologe F. v. Meyer: „Dies schauerliche Gedicht schlägt wie ein Hammer mit drei geheimnisvollen Reimklängen an die Menschenbrust.” Und A. Knapp sagt: „Dieses erhabene Lied ist im Lateinischen auch dem Wortklange nach wie der Schall einer Posaune der Auferstehung.” Wegen dieses „Wortklanges” seien hier einige Strophen wiedergegeben.


Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla,
Teste David cum Sibylla.
Tuba mirum spargens sonum        
Per sepulchra regionum
Coget omnes ante thronum.
Rex tremendae majestatis
Qui salvandos salvas gratis,
Salva me, fons pietatis.
Lacrimosa dies illa
Qua resurget ex favilla
Judicandus homo reus.
Huic ergo parce, Deus!
Pie Jesu, Domine,
Dona eis requiem. Amen.
Tag des Zornes, dieser Tag
Wird auflösen die Welt in Asche.
Nach dem Zeugnis Davids mit der Sibylle.
Die Posaune, wunderbaren Klang verbreitend,
Durch die Gräber aller Regionen,
Wird alle vor den Thron zwingen.
König von erschütternder Majestät,
Der du die zu Erlösenden ohne Entgelt erlöst,
Errette mich, Quelle der Güte.
Tränenreicher Tag,
An dem sich erheben wird aus der Asche
Der zu richtende schuldige Mensch.
Diesen also verschone, Gott,
Gütiger Jesu, Herr,
Gib ihnen die Ruhe. Amen.

LeerEs gibt im Gesangbuch kein Lied, das mit solcher Gewalt den Jüngsten Tag und das Gericht beschwört. Es wäre wohl auch schwer, davon in der Gemeinde zu singen. Nur große Chöre, Tuben und Posaunen können Träger der Untergangsstimmung sein, wie sie auch in der Malerei in Michelangelos Jüngstem Gericht zum Ausdruck kommt. Musikalischen Interpretationen ist es gelungen, den Geist der Urdichtung zu bannen. Es sind die Requiem von Mozart, Rossini und Verdi. Durch sie ist der Hymnus auch denen zugänglich, die die lateinische Sprache nicht beherrschen. Erschütternd, wie Verdi mehrfach am Schluß der Strophen „äußerst leise, mit düsterer Stimme und sehr traurig” das „dies irae” unisono wiederholen läßt.

LeerTiefe Zerknirschung, das Bewußtsein, vor dem Richtstuhl Christi nicht zu bestehen, drückt auch das Lied „Wenn wir in höchsten Nöten sein” aus. Es geht zurück auf eine lateinische Dichtung von Joachim Camerarius, einem Freund Melanchthons, stammt also aus der Reformationszeit. Es ist das klassische Lied für den evangelischen Buß- und Bettag und führt durch die tiefsten Gründe menschlichen Daseins. Trost in diesen höchsten Nöten ist das gemeinsame Gebet um Rettung:
Daß wir zusammen insgemein
Dich anrufen, o treuer Gott
Um Rettung aus der Angst und Not.
LeerBach hat kurz vor seinem Tode die Harmonien zu diesem Choral gesetzt. Seine Söhne haben ihn der unvollendeten „Kunst der Fuge” angeschlossen. Es ist das Gebet des von Todesangst Ergriffenen.

LeerDas Morgenlied der Woche knüpft an die volkstümlichen „Tagelieder” an.
„der wechter verkündget uns den tag
an hoher zinnen, da er lag”.
LeerDas machtvollste Wächterlied, das je gesungen wurde, ist Nicolais „Wachet auf, ruft uns die Stimme”. Nicolai hat es während der Pestzeit 1597 in Unna gedichtet. Wie mag er selbst zu letztem Aufbruch bereit gewesen sein! Es ist ein Lied hohen Tones. Es schweigt von den törichten Jungfrauen, die von dem „Zu spät” vernichtet werden. An den Westportalen manchen Domes gehen wir an ihnen vorüber, ohne zu bedenken, daß auch sie unsere Schwestern sind. Furchtbare Mahnung, ehe wir unter den Augen des Weltenrichters die Kirche betreten! Davon sagt unser Lied nichts. Schon die erste Strophe bricht aus in das Halleluja. Jubelnde Erwartung erfüllt die Herzen. Wem die Kantate von Bach gegenwärtig ist, der erkennt in der zweiten Strophe, die unisono vom Tenor gesungen wird, in der Begleitung der Streichinstrumente, das vor Freude springende Herz. Dem Halleluja der ersten Strophe entspricht das Hosianna in der zweiten. Und beide steigern sich zum Gloria. Die Welt versinkt, das himmlische Jerusalem steigt auf. Eine Vision verklärt den Weg durch die letzten Stadien des Kirchenjahres.
„Wache auf, der du schläfst,
und stehe auf von den Toten,
so wird dich Christus erleuchten.” (Eph. 5,14)
Quatember 1962, S. 150-152

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-05
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