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Welken oder Reifen?
Fragen zur Selbstprüfung im Herbst des Lebens
von Oskar Planck

LeerDas Alter schickt seine Boten voraus. Machen sich Anzeichen des Alters bei mir bemerkbar? Versuche ich, sie zu übersehen? Vor andern zu verbergen? Mich geflissentlich jünger zu geben, als ich bin? Mir eine Leistungsfähigkeit zuzumuten, die ich nicht mehr habe?

LeerWerde ich ängstlich, empfindlich, unausgeglichen in dieser Übergangszeit? Lasse ich mir sagen, daß Altwerden keine Schande, sondern eine Schöpfungsordnung ist? Daß es nicht nur unabwendbar ist, sondern einen tiefen Sinn hat? Daß in der Natur das Welken der Blätter und Dürrwerden des Halmes oder der Schote die Begleiterscheinung, zum Teil sogar die Vorbedingung des Reifens ist, und daß der ganze Lebensprozeß auf dieses Reifen hinzielt, auch beim Menschen?

LeerWer sich aufs Altwerden vorbereiten will, muß Umgang mit altgewordenen Menschen suchen. Habe ich bemerkt, daß der alte Mensch darunter leidet, daß er sich in unserer Zeit am Maßstab der Arbeitsleistung messen lassen muß und dadurch unwert wird und andere belastet? Sein manchmal aufreizendes Verhalten muß als ängstlicher Versuch der Selbstbehauptung verstanden werden. Ist mir selbst aufgegangen, daß im Alter nicht das Tun, sondern das Sein entscheidend ist? Daß Weisheit, Güte, Gelassenheit Früchte sind, die erst im Alter ausreifen?

LeerWas tue ich im Umgang mit alten Menschen, um in meinem Lebenskreis ihnen das Gefühl der Geborgenheit und Wertschätzung zu verschaffen, sie vor Spott und Verachtung zu bewahren, die Jungen zu rücksichtsvollem und ehrerbietigem Verhalten anzuleiten und damit dem Alten die Stellung zukommen zu lassen, die ihm im Gefüge der Generationen gebührt, ohne die ich selber nicht alt werden möchte und ohne die unsere menschliche Kultur verarmt und verflacht?

LeerViele Menschen welken, ohne zu reifen. Ist mir dieses ein Ärgernis oder ein Ansporn auf ihre und meine Reifung bedacht zu sein? Ist der Motor meines Lebens die natürliche Triebhaftigkeit, die im Alter abzusterben oder krankhaft zu wuchern pflegt, oder folgt mein Leben einem höheren Antrieb? Bin ich mir bewußt, daß es davon abhängt, ob ich das Ziel meines Lebens erreiche oder verfehle?

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LeerDas Alter ist ein neuer Lebensabschnitt. Bin ich darauf gefaßt, daß er einschneidende Veränderungen mit sich bringt? Daß die Schärfe der Sinne, die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses, die Beweglichkeit der Glieder, die Leistungsfähigkeit der Organe abnimmt? Daß meine Ehe dann nicht mehr vom Reiz der Erotik beschwingt sein wird, sondern viel ausschließlicher als bisher von einer Liebe getragen sein muß, deren Wesensart die treue Lebensgemeinschaft und die gegenseitige Fürsorge ist? Daß ich als Mutter nicht mehr in meinen Kindern aufgehen darf, sondern sie hergeben muß und selbstlos warten, bis man meine Mütterlichkeit in den Kinderhäusern oder anderswo wieder braucht? Daß ich als Mann von keinem Beruf mehr ausgefüllt bin, sondern mein Lebensabend eine musische Gestaltung erlaubt und verlangt? Habe ich die Elastizität, mich umzustellen und dem Leben eine neue Seite abzugewinnen?

LeerBin ich bereit, den Nachlaß meiner Sinne und Kräfte sowie mein Ausscheiden aus dem öffentlichen Leben und aus dem Arbeitsprozeß nicht nur als eine Verengung meines Aktionsradius zu beklagen, sondern zur Konzentration aufs Wesentliche zu benützen? Habe ich den Mut und die Demut, das Alter bedingungslos anzunehmen, auch wenn mir ein schweres Alter mit Pflegebedürftigkeit und Schmerzen, mit Einsamkeit und Zurücksetzung beschieden sein sollte? Glaube ich der vielbezeugten Erfahrung, »daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen« ?

LeerEs gibt Verhaltensweisen, welche die Reifung erschweren. Bin ich mir der Gefahr bewußt, beim Abnehmen der schöpferischen Fähigkeiten und der unmittelbaren Anpassungsfähigkeit zu erstarren und rechthaberisch, pedantisch und geltungsbedürftig zu werden? Soll alles beim alten bleiben? Benutze ich die Gelegenheit, im Umgang mit meinen Kindern jung zu bleiben und für Neues offen zu sein? Bringe ich so viel Sachlichkeit auf, daß ich in Generationen zu denken vermag? So viel Umsicht, daß ich mich um die Heranbildung des Nachwuchses bemühe? So viel Selbstlosigkeit, daß ich bereit bin, dem nachfolgenden Geschlecht Platz zu machen und die Fortsetzung meines Werkes einem andern zu überlassen? Mit meiner Person in den Hintergrund zu treten und dankbar zu sein für das, was ich im neuen Stand empfangen und tun darf?

LeerBin ich mir der Gefahr bewußt, bei abnehmender Spannkraft zu erschlaffen? Habe ich so viel Selbstzucht, daß ich mich auch im Ruhestand, ja gerade in ihm, nicht gehen lasse, sondern eine Haltung bewahre und an eine Ordnung halte, die mich vor dem Zerfall bewahrt?

LeerBin ich mir der Gefahr bewußt, bei abnehmender Erlebnisfrische und Arbeitsmöglichkeit zu verkümmern? Habe ich so viel Einsicht, daß ich angesichts der drohenden Leere meinem Leben rechtzeitig einen neuen Inhalt gebe? Mit einer ernsthaften Liebhaberei, durch die ich zu meinem eigenen Selbst komme? Mit freiwilligen Liebesdiensten, durch die ich von meinem eigenen Ich loskomme? Bin ich auf der Hut, daß die letzte kostbare Zeit, die mir vergönnt ist, nicht in Nichtigkeiten zerrinnt?

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LeerDas Alter lädt zur Rückschau ein. Folge ich den sich mir aufdrängenden Erinnerungen, meinen Lebensweg als Ganzes zu überschauen? Oder suche ich vor manchen dunklen Punkten meine Augen zu verschließen? Bin ich bereit, ohne Eitelkeit und Rechthaberei meine Erlebnisse und Erfahrungen so zu sichten und zu verarbeiten, daß sie meinem eigenen Reifungsprozeß dienen und auch für andere wertvoll und verwertbar werden? Bin ich bereit, mir aufrichtig einzugestehen, wo ich jemand Dank oder Liebe schuldig geblieben oder durch Unrecht an jemand schuldig geworden bin? Bin ich bereit, solange es noch Zeit ist, Liegengebliebenes zu Ende zu führen, Versäumtes nachzuholen, Verfehltes wieder gutzumachen? Habe ich mir die tröstliche Gewißheit schenken lassen, daß ich da, wo ich selbst nichts mehr gutmachen kann, Gott bitten darf: »Wandle in Segen, was in meiner Hand verdorben ist«?

LeerDas Alter ruft uns zur Einkehr auf. Bin ich bereit, das Nachlassen meiner Sinne und Kräfte als einen Wink hinzunehmen, daß ich nicht mehr alles gesehen, gehört und genossen haben muß, daß ich nicht mehr alle Tagesereignisse im Gedächtnis zu behalten brauche, nicht mehr bei allen Veranstaltungen dabei gewesen sein muß? Daß mein Ausscheiden aus dem amtlichen, öffentlichen und gesellschaftlichen Leben mir Zeit läßt, zu mir selbst zu kommen, nachdem ich so lange nach außen gelebt habe?

LeerDas Alter stellt uns vor Gott. Was ist das Endergebnis meines Lebens? Ist Frucht da, die reifen kann? Treibt mich die Selbsterkenntnis in die Schwermut oder in die Demut? »Dem Demütigen gibt Gott Gnade«. Glaube ich das?

LeerDas Alter mahnt an den Tod. Habe ich schon ernstlich bedacht, daß das Alter nicht nur der Abschluß des irdischen Lebens, sondern die Vorbereitung auf ein anderes Leben sein darf? Die Bibel sagt: »Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.« Habe ich mich persönlich dem christlichen Glauben gestellt, daß es nicht nur verschiedene Lebensstufen, sondern verschiedene Daseinsformen des Menschseins gibt und daß das, was wir Tod nennen, von der anderen Seite her gesehen die Geburt zu einem Leben höherer Art genannt werden darf? Ist in mir selbst etwas zum Leben erwacht, das nicht von dieser Welt ist und das danach drängt, in der ewigen Welt seine Vollendung und Erfüllung zu finden?

Quatember 1962, S. 153-155

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-03
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