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von Wilhelm Stählin |
Ein verehrter Freund hat Anstoß daran genommen, daß ich in meiner kleinen Notiz über Kirche und Synagoge im Osterheft (S. 84) von „biblischer Nüchternheit” und „unbiblischer Schwärmerei” gesprochen habe. Er schreibt: „Ich muß Dir ganz offen gestehen, daß mir das Wort „biblisch” mehr und mehr problematisch geworden ist. Es erweckt mir zu sehr den Eindruck, als sei die Bibel eine Einheit in geistiger und religiöser Hinsicht. Ist Psalm 137,7-9; Psalm 139,21; Offenbarung 14, 9-11, sind viele andere Stellen, die ich nicht aufzuzählen brauche, biblische „ Nüchternheit”? Ob wir nicht doch allmählich darauf verzichten müssen, die Bibel als Maßstab zu nehmen für das, was richtig und was falsch ist? Mit der Bibel läßt sich. sicherlich alles beweisen, Militarismus und Pazifismus, fanatische Rechthaberei und liebende Toleranz. Wenn wir uns an Jesus orientieren, das heißt an dem, was uns von seinem Geist in der sicher da und dort übermalten Überlieferung entgegenleuchtet, wäre das nicht die wahre Nüchternheit? Es scheint mir verhängnisvoll und mit ein Grund für die Unsicherheit der evangelischen Theologie und Kirche in praktisch-ethischen Fragen, daß nicht Jesus, sondern die „Bibel” letzte Autorität ist.” Da diese Kritik ausdrücklich mit der Frage schließt: „Was meinst Du dazu?”, darf und muß ich ja wohl ehrlich sagen, was ich dazu meine, und bin nun freilich hier genötigt, meinem lieben Freund zu widersprechen, und tue es wohl am besten in der Form der persönlichen Anrede: Vor allem scheint mir, daß Dein Einwand eigentlich das nicht trifft, was ich gesagt habe. Denn es geht nicht darum, ob uns die Bibel in ihrer komplexen Einheit in allen möglichen praktischen Fragen der Gegenwart Autorität sein kann; ich stimme Dir gern darin zu, daß uns hier ein gar nicht eng begrenzter Bereich außerbiblischer Bücher einen vielleicht unmittelbareren und leichter faßbaren Dienst tun kann. Aber ich glaube allerdings, daß zu den einheitlichen Merkmalen der ganzen Bibel eine große Nüchternheit gehört, das heißt der entschiedene Wille, sich über die Wirklichkeit der Welt, über die Natur des Menschen, über persönliche Schicksale und das harte Gesetz der Geschichte nicht zu täuschen und nicht irgendwelchen Illusionen nachzuhängen. Jene unheimlichen Rachegebete in den Psalmen und die grausigen Visionen der Apokalypse sind mir ebenso unheimlich wie Dir; aber gehört es nicht gerade zu der Nüchternheit, die wir von der Bibel zu lernen haben, daß wir uns die Wirklichkeit des göttlichen Zorns und seiner Gerichte nicht verbergen? Umgekehrt ausgedrückt: die von Dir genannten Stellen (die sich beliebig vermehren ließen), widerlegen - so meine ich - in keiner Weise das Wort von der biblischen Nüchternheit, und eine Gottesvorstellung zu pflegen, bei der uns die Schrecklichkeit Gottes erspart werden soll, wurde ich als unbiblische Schwärmerei bezeichnen. Die heute wieder auflebende Neigung, sich an dem historischen Jesus, im Gegensatz zu dessen Deutung im apostolischen Zeugnis, zu orientieren, scheint mir als eine Spätblüte jener Geisteshaltung, die ich die humanistische Illusion nennen möchte, nämlich die Meinung, man könnte unter Überspringung oder Ausschaltung aller Zwischenstadien in der christlichen Überlieferung zu den historischen „Quellen” vordringen und zu ihnen eine unmittelbare Beziehung gewinnen. Die protestantische Theologie ist vielleicht zu allen Zeiten anfällig gewesen für diesen Wunsch, den ich in bewußtem Gegensatz zu Dir als einen Mangel an Nüchternheit und als eine spezifische Form der Schwärmerei empfinde. Ich glaube umgekehrt, daß gerade die ernstliche Betrachtung der ganzen Bibel, in ihrer geschichtlichen Knechtsgestalt mit allen ihren unheimlichen Dingen und auch mit ihren starken Spannungen - wenn man nicht von Widersprüchen reden will - uns zu größerer Nüchternheit verhelfen kann, sowohl der Bibel selbst gegenüber (das ist gesagt gegen jeden Biblizismus) wie allen möglichen Zeiterscheinungen und Modetheorien gegenüber; und gerade dies war ja für mich der Anlaß von biblischer Nüchternheit und unbiblischer Schwärmerei zu sprechen. Bisweilen werden wir gefragt, was wir gegen den „Biblizismus” auf dem Herzen haben, und manchmal ist uns auch dieser unser unverkennbare Gegensatz zum Biblizismus zum Vorwurf gemacht worden. Was meinen wir, wenn wir mit einem deutlichen Unterton der Sorge und der Polemik von Biblizismus reden? Die Regel, daß die Wortbildungen aus Ismus immer eine bedenkliche Einseitigkeit, eine Verengung und Verfälschung einer an sich richtigen Erkenntnis bezeichnen, gilt auch in der Anwendung auf die Bibel. Die Bindung an die Heilige Schrift, ihr eifriges Studium und die Übung im rechten Umgang mit ihr, sind unter uns unbestritten. Sonst hätten wir uns nicht so intensiv um eine Ordnung der täglichen Lesung der Heiligen Schrift (in Spiekers „Lesung für das Jahr der Kirche”) und um eine Hilfe zum Verständnis der unseren Predigten zugrunde liegenden Texte (in meinen „Predigthilfen”) bemüht. Ein konkretes Beispiel dieses Biblizismus ist der unmittelbare Anlaß dieser Bemerkung. In der Württembergischen Halbmonatsschrift „Für Arbeit und Besinnung” (16. Jahrgang Nr. 8 vom 15. April 1962) ist eine Kritik unserer „Psalmgebete” erschienen, die sich zwar formal gegen die Empfehlung dieser unserer Arbeit durch den Verlag, tatsächlich aber gegen die in diesem Buch wirksamen Grundgedanken selbst wendet. Der Verfasser dieser Kritik, Walter Spohn, erkennt zwar an, daß in dieser Bearbeitung der Psalmen - er redet unzutreffend von einer neuen Übersetzung, was unsere Psalmgebete nicht sind und nicht sein wollen - „sehr viel Sorgfalt und Liebe steckt”, aber er beanstandet, daß wir bestimmte Verse ausgelassen haben, die einen alttestamentlichen Rachegedanken oder auch historische oder geographische Namen enthalten, die für uns keine unmittelbare Bedeutung mehr haben; er meint, daß solche „Abweichungen” „vom Text her nicht vertretbar” seien. Eine solche Bearbeitung der Psalmen habe wohl ihr Recht in dem Kreis, aus dem sie erwachsen ist, aber sie der Gemeinde zum gottesdienstlichen Gebrauch in die Hand zu geben oder auch nur zu empfehlen, dürfte wohl nicht ratsam sein. Das verstehe ich nicht. Wenn eine solche relative Freiheit dem biblischen Text gegenüber in einem engeren Kreis gerechtfertigt ist, warum dann nicht auch in der „Gemeinde”? „Die Gemeinde nimmt ungeprüft an, daß ihr eine textgemäß vollständige Psalmensammlung in die Hand gegeben wird.” Hält es der Verfasser für so selbstverständlich, daß ein Benutzer der Psalmgebete das ausführliche Vorwort nicht liest, worin alles Nötige in jeder wünschenswerten Offenheit und Klarheit gesagt ist? Oder hält er es für notwendig, unsere landeskirchlichen Gemeinden in einer gesetzlichen Unfreiheit gegenüber dem biblischen Buch zu halten, weil sich - vielleicht meint er das? - eine solche landeskirchliche Bibelfrömmigkeit nur in der Form des Biblizismus aufrecht erhalten läßt? Der betende Gebrauch der Psalmen ist für viele heutige Menschen zunächst eine schwierige Sache, zu der sie nicht leicht Zugang und Freudigkeit finden. Ist es wirklich verkehrt und eine Täuschung und Verführung der Gemeinde, wenn wir versuchen, durch solche Kürzungen, Straffungen und leise Änderungen solche Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen und dadurch Freude am Psalmgebet zu wecken? Dieses zu verbieten, und also die in solcher Weise bearbeiteten Psalmgebete nicht zu empfehlen, das ist es, was wir Biblizismus nennen und was wir als eine gesetzliche Unfreiheit bekämpfen. Den Biblizisten gegenüber gilt das gleiche, was der Herr den Schriftgelehrten vorgeworfen hat: „Ihr legt den Leuten ein Joch auf den Hals, das ihr selber nicht tragen könnt.” Es geht mir nicht darum, unsere Arbeit gegenüber einer (nicht unfreundlichen) Kritik zu verteidigen, sondern es geht mir darum, an diesem Beispiel zu zeigen, warum wir um der Liebe zur Bibel willen nicht Biblizisten sein wollen und nicht Biblizisten sein dürfen. Quatember 1962, S. 156-159 |
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