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von Ulrich von Dassel |
Im Oster-Quatember wurden die Leser aufgerufen, zu den unter dem Titel „Wo ist die Grenze?” aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen. Es gehört wohl hierher und wird keine Abschweifung vom Thema bedeuten, wenn ich einige Gedanken niederlege über die Bedrohung von Seele und Geist des modernen Menschen. Ich danke die Anregungen zu meinen Gedanken zwei Vorträgen, die einem großen Kreis von Richtern und Verwaltungsbeamten der Länder Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen im März dieses Jahres in Bad Meinberg geboten wurden und bei denen es um die Frage ging, wie es um den Menschen im technischen Zeitalter bestellt sei: Prof. Brezinka, Innsbruck, sprach über „Erziehung für die Welt von morgen”, Prof. Jores, Hamburg, über „Technische Welt und Zivilisationsschäden”. Der Mensch ist als gottgeschaffenes Wesen zur Freiheit bestimmt. Damit ist ihm Verantwortung auferlegt. Wäre er nur Materie, wäre er ausschließlich naturhaftes Wesen, dann könnte er aus diesem seinem Wesen heraus Verantwortung nicht tragen. Nun aber ist er nicht nur biologisch bestimmt. Ihm sind Seele und Geist verliehen, er verfügt über ein Gefühlsleben, über die Fähigkeit, seinen Willen so oder anders anzusetzen. Er kann sich entscheiden, er ist Person. Es gehört zu seinem Person-Sein, daß der Mensch sich entfaltet, daß er die Kräfte des Geistes und die der Seele entwickelt, pflegt und einsetzt, um innerlich zu wachsen und zu reifen. Darin sollte der Sinn seines Lebens liegen, daß er und damit dieses Leben sich entfaltet. Ein nichtentfaltetes Leben ist ein unerfülltes, und in einem unerfüllten Leben verkümmert der Mensch. Häufig wird dieser Mensch krank. So schreibt der bekannte Nervenarzt und Sozialpathologe Bodamer (Der Mensch ohne Ich, Seite 88) im Anschluß an ein Zitat von Jores, es lasse sich zeigen, wie Krankheit verschiedenster Art dadurch entstehen könne, daß einem Menschen der Sinn seines Lebens abhanden gekommen sei. Ja, der Mensch kann an der Sinnlosigkeit seines Lebens, an der Unfähigkeit zur Lebensentfaltung sterben. Jores berichtete über einen erschreckend hohen Prozentsatz rascher Todesfälle nach dem Ausscheiden von Polizeibeamten in den Jahren 1945/46. In diesem Zusammenhang war vom Pensionierungstod die Rede. Auf der anderen Seite wurde uns warm ums Herz, als der Vortragende darlegte, welch große Bedeutung es für die Lebensentfaltung haben könne, wenn schon das Kind frühzeitig Anregung empfange für eigenes, gestaltendes Tun - etwa im Zeichnen, Modellieren oder Musizieren -, und daß eine echte Beglückung dem Menschen zuteil werde, der seine Kräfte auf ein „Werk” hin anspanne und es dann erlebe, dieses „Werk” hervorzubringen, also aus sich heraus- und hinzustellen. Ich meine: Prof. Jores hätte von einem Sich-Hineinopfern gesprochen und von einem Stück Lebenserfüllung als Frucht solchen Opfers. Bodamer macht darauf aufmerksam, „wie sehr die Umwelt des zivilisierten Großstadtmenschen zu einer Reizumwelt geworden ist, die bis in den Schlaf hinein ihre Erregungen versendet”, und fährt fort: „Es ist die Verwandlung des uns umgebenden Lebensraumes aus einem relativ statischen und stabilen Gefüge in ein dynamisches Gehäuse, das aus sich heraus immer schnellere Bewegungen hervorbringt, sinnbildlich dargestellt am modernen Verkehr. Aber auch dort, wo der Mensch sich in Ruhe befindet, ist er den ruheauflösenden, zerstreuenden Reizen optischer oder akustischer Art so pausenlos ausgesetzt oder gibt sich ihnen selbst so hin, daß er aus der künstlichen Dauererregung nicht mehr herauskommt” (Seite 76).Brezinka („Erziehung für die Welt von morgen” in: „Jugendschutz heute und morgen” Hoheneck-Verlag, Hamm 1962, Seite 11) spricht von dem durch seinen Beruf häufig seelisch verarmten modernen Menschen, der in Gefahr sei, auch seine Freizeit an Mächte zu verlieren, „die ihn nur ausbeuten, die ihn abhängig und unmündig halten wollen”. Die von der modernen städtischen Zivilisation ausströmende Reizüberflutung bedroht die ihr ausgesetzten Menschen mit der ernsten Gefahr des Konformismus, jedoch in einem ganz anderen Sinn, als er meist mit diesem Wort verbunden ist. Gemeint ist hier die Anpassung an Kino, Rundfunk, Illustrierte und Fernsehen. Mittels dieser Anpassung kann der Mensch süchtig werden: er gerät in einen Sog, der ihn zieht und zerrt. So erliegt er nicht nur in immer größerem Umfang der Fülle der an ihn herantretenden Versuchungen, sondern verlangt bald von sich aus nach dieser Kost. Da die Sog-Wirkung um so stärker ist, je weniger Urteilsfähigkeit und Unterscheidungsvermögen der Mensch besitzt, sind Kinder und Jugendliche am meisten gefährdet. Doch sollten wir uns hüten, die für Erwachsene bestehenden Suchtgefahren zu unterschätzen. Ich bin sogar der Meinung, daß selbst Menschen, die sich zur „gebildeten” Schicht rechnen, fernsehsüchtig sein können und oft sind. In einem bedeutenden Sanatorium glaube ich beobachtet zu haben, daß die Patienten etwa zur Hälfte Abend für Abend pünktlich an den Bildschirm eilten, und zwar bin ich überzeugt: zum großen Teil ohne Rücksicht auf das Programm und echtes Interesse an ihm. Offenbar waren diese Menschen weder fähig, etwas mit sich selbst anzufangen, noch vermochten sie der Begegnung mit dem Mitmenschen einen Reiz abzugewinnen. Wahrhaft erschreckende Beispiele für das Ausgeliefertsein der Menschen an ein Massenmedium brachte aber der „Rheinische Merkur” (Nr. 4 vom 26. 1. 1962) unter der Überschrift „Tele-Halstuch und die Folgen”. Es handelte sich um die Francis-Durbridge-Serie über einen Mord, der durch Würgen mittels Halstuches begangen war. In Erwartung der Fortsetzung - so berichtet die Zeitung - schauten in zwei westdeutschen Landesparlamenten die Abgeordneten nervös auf die Uhr, und die Redezeit wurde auf ein Minimum beschränkt, obwohl es im einen Fall um die Entgegennahme einer Regierungserklärung, im anderen um die zweite Lesung des Etats ging. - Nach dem Fernsehen ist wohl die Illustrierte das gefährlichste Massenmedium, während die magnetische Kraft von Rundfunk und Kino schwächer sein mag. Neben diesen hintergründig-substanzbedrohenden Wirkungen der Massenmedien sollten aber auch solche ins Auge gefaßt werden, die man als vordergründig unmittelbare bezeichnen könnte. Es handelt sich einmal um die Reizung zum Verbrechen, zum anderen um die Erzeugung einer Publicity, die dann freilich ihrerseits wieder nach innen wirkt. Jene „Tele-Halstuch-Sendung” hatte den „Erfolg”, daß alsbald nach ihrem Abschluß zwei Fälle „schauerlicher Imitation” sich ereigneten. „In Oberhausen wurde ein vierzigjähriger Mann und in Wilhelmshaven eine sechzehnjährige Schülerin tot aufgefunden. Beide waren mit einem Halstuch erdrosselt worden”. Was die Publicity betrifft, so sind die Dinge nachgerade so weit gediehen, daß die Tagespresse beginnt, Alarm zu schlagen. Es geht in der Tat längst nicht mehr um den bloßen Mangel an Respekt vor der Privatsphäre, der jene indiskreten taktlosen Druckerzeugnisse zu offenbar in Jahren nicht auszuschöpfenden Themen wie „Soraya” oder „Prinzessin Margret” entstehen läßt. Vielmehr geht es um unser aller Schuld an der „unerträglichen Hölle der Publicity”. Unter dieser Überschrift ruft Friedrich Luft uns zur Besinnung („Die Welt” Nr. 184 vom 9. B. 1962): „Vor zwei Jahren machte Brigitte Bardot einen Selbstmordversuch. Am vergangenen Wochenende nahm Marylin Monroe eine Überdosis Schlafmittel und starb. Zwei Stars waren sichtbar so gründlich zerrüttet, daß sie Hand an sich legten und das pervertiert öffentliche Dasein eines Stars wegzuwerfen bereit waren. Ruhm frißt und hat in einer Epoche der rigorosesten, der unnachsichtigen Publicity Züge eines nur scheinbar zivilisierten Kannibalismus gewonnen. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, müßte eine Gesellschaft, die dergleichen Schicksal herausfordert, es möglich macht, heißhungrig fordert und verschleißt, die Augen niederschlagen. Wir alle, nimmt man es ganz ernst, sind mitschuldig.” Was können wir tun, dem Aushöhlungsprozeß zu wehren? Brezinkas abgewogenes Urteil war uns sehr eindrucksvoll und völlig einleuchtend, insbesondere die radikale Ablehnung eines Verdammungsspruchs gegen die Jugend, wie er nicht selten in sentimentaler Erinnerung an die „gute, alte Zeit” laut wird. Sachlich verfehlt und grob ungerecht sei das! In der Tat ist es doch nun einmal so, daß die junge Generation hineinwächst in die technische Welt, in die städtische Zivilisation, die andere vor ihr geschaffen haben, und daß sie den Massenmedien ausgeliefert wird, die sie vorfindet. Wir müssen aber noch zwei Schritte weiter gehen. Es gilt, nüchtern zu erkennen und ehrlich zu bekennen: mit den Massenmedien zu leben, ist unser Schicksal, und der Jugend Askese nur zu predigen, ist sinnlos. Auf der anderen Seite wäre es allerdings verhängnisvoll, sich hierbei zu „beruhigen”, und ebenso verhängnisvoll, mit einer Umgestaltung der Illustrierten, der Fernseh- und der Kinoprogramme zu rechnen. Die Voraussetzungen für eine solche Umgestaltung fehlen in der Tiefe. Auch bleiben ja die Suchtgefahren in jedem Fall bestehen. Was also bleibt zu tun? Ich meine, es gibt dreierlei: das Ausweichen, das Schaffen von Gegengewichten und schließlich nun doch die Askese, freilich nicht die gepredigte, sondern die vorgelebte. Es liegt auf der Hand, daß das Ausweichen und die Askese miteinander zusammenhängen. Ja, wer ausweicht, ist damit schon ein wenig asketisch. Doch möchte ich zunächst beim völligen Ausweichen verbleiben, ohne zu verkennen, daß die Aufgabe, inmitten der Großstadtzivilisation Askese zu üben, weit schwerer ist. Immerhin scheint mit die überaus kritische Einstellung junger Menschen und ihre entschlossene Tat, wie sie mir kürzlich in Dänemark begegnet sind, einmal ein erfreuliches Zeichen unserer Zeit. Die elfjährige Tochter einer auf dem Lande bei Kopenhagen lebenden Familie besuchte eine hervorragende Schule dieser Stadt. Als aber die Klassenkameradinnen immer modesüchtiger und schließlich auch fernsehsüchtig wurden, wurde den Eltern diese Atmosphäre unerträglich, sie nahmen ihre Tochter heraus und steckten sie in die Landschule. Sie soll in „gesunder Luft” aufwachsen! Welche Gegengewichte können uns und den uns Anvertrauten, insonderheit also unseren Kindern und Jugendlichen heilsam sein? Ich kann zunächst anknüpfen an Professor Jores' Ausführungen in Bad Meinberg. Ganz allgemein geht es ja darum, den entschlossenen Kampf anzusagen der Passivität, dem rein rezeptiven Leben, der Beschränkung auf das „Aufnehmen” und immer wieder „Aufnehmen” in unverdaulicher Fülle und Zusammenhanglosigkeit. Stetige Anregung zu eigenem Handeln, eigenem Gestalten, eigenem Erarbeiten ist vonnöten. Auf welchem Gebiet? Das kann nur von Fall zu Fall entschieden werden, je nach Wesensart, Begabung, Neigung, die freilich nicht stets offen zutage liegen. Doch möchte ich ein Gebiet besonders herausgreifen, das ist die Musik, die auch Lores mit Betonung erwähnte. Es ist ein trauriger Irrtum, anzunehmen, daß die Zahl der Unmusikalischen riesengroß sei. Die meisten Menschen haben genug Musik im Blut, um aus der Pflege dieser Gabe reichen Gewinn für ihr ganzes Leben zu ziehen. Man muß nur nach Paul Hindemiths weisem Wort leben: „Musik machen ist besser als Musik hören.” Weiter ist auf das Wandern hinzuweisen. Es ist leider so aus der Mode gekommen, daß Brezinkas Ausführungen über die „Erziehung durch das Wandern” („Erziehung - Kunst des Möglichen” Nr. 25/26 der Schriftenreihe „Weltbild und Erziehung”, Werkbundverlag Würzburg 1960, Seite 124 ff.) heute doppelt lesenswert sind. Es ist dort von den vielseitigen Diensten die Rede, die das Wandern dem jungen Menschen leisten kann, zunächst von der Begegnung mit der Natur: „Das Wandern führt aus der engen künstlichen Welt heraus zur Begegnung mit der Natur. Der Mensch erfährt ihre heilende Kraft in einer Steigerung seines Lebensgefühls, im Durchbruch von Fähigkeiten, die bisher verborgen gewesen sind.”Dann spricht Brezinka davon, daß das Wandern gleichmäßig den ganzen Menschen beansprucht, daß es für das selbständige Handeln, für das Leben aus eigener Kraft eine Fülle von Gelegenheiten bietet, daß der junge Mensch durch die Begegnung mit der Welt sich selbst finden kann, daß das Wandern Raum bietet für die edlen Formen des Abenteuers, daß es andererseits zur Besinnung verhilft: „Das Wandern führt aus dem Lärm in die Stille. In einer Zeit, in der das pausenlose Geschwätz und die Gewöhnung an das Radio jeden Keim eines persönlichen Lebens zu vernichten drohen, muß die Kunst zu schweigen und bei sich zu sein früh genug gelernt werden. Das gelingt am besten in der Einsamkeit einer abgelegenen Landschaft. Die seltenen Zustände echter Ergriffenheit, von denen so viel für die Festigung und Vertiefung der Persönlichkeit abhängt, setzen einen gesammelten Geist voraus, mag der nächste Anstoß ein verdämmerndes Tal, ein Lied, ein Vers oder ein religiöses Erlebnis sein.” „Das Wandern in der Jugendgruppe ist die letzte Vorstufe für das freie Wandern der Freunde und für die einsame Fahrt des reifen Menschen. Ihnen ist das Wandern ein unverlierbarer Bestandteil des Lebens geworden, eine oft bewährte Quelle der Kraft, der Sammlung und des Trostes. Letztlich ist das Wandern ein schönes Gleichnis des menschlichen Lebens, wie es ausgespannt ist zwischen Fortgehen und Ankunft.”Hier finden wir nun schon den Übergang zur religiösen Welt angedeutet. Es mag das Schwierigste sein, ist aber gewiß das Wichtigste: ein Gegengewicht zu schaffen durch Vertiefung und Verstärkung des geistlichen Lebens unserer Jugend. Neben der unmittelbaren hat die mittelbare Wirkung dieser Gegengewichte große Bedeutung. Ich meine dies: wer einmal von ihnen berührt worden ist und ihre heilsame Kraft ständig spürt, erfährt eine großartige Schulung im Unterscheidungsvermögen. Er wird immer sicherer im Erfassen der nach höchsten Maßstäben gültigen Rangordnung der Werte, und es mag wirklich zutreffen, daß die Askese, die auf den ersten Blick so ungeheuer schwierig erscheint, erreichbar ist. So meine ich, über die Askese selbst nicht mehr viel sagen zu müssen. Ich kann mich darauf beschränken, auf Bodamers Bücher (Der Mensch ohne Ich, Herder-Bücherei, Band 21, Seite 131 ff. und Der Weg zur Askese als Überwindung der technischen Welt, Furche-Bücherei, Band 117), hinzuweisen. Schließen möchte ich mit zwei Zitaten aus Eduard Spranger, Macht und Grenzen des Einflusses der Erziehung auf die Zukunft in „Pädagogische Perspektiven” (Heidelberg 1951, Seite 21) und Bodamer, Der Weg zur Askese (Seite 42): „So wie wir heute als Individuen und Völker und Staaten geartet sind, werden wir Europa nicht retten.” „Askese und Gebet - sie allein, als das ganz und gar Weltenthobene, Weltüberschreitende, werden die aus der Schöpfungsordrnung geratene technische Welt Gott unterordnen und damit den Menschen vor denn seelischen Untergang retten.” Quatember 1963, S. 23-28 |
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