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von Wilhelm Stählin |
In dem herrlichen Chorgestühl, das Jörg Syrlin in den siebenziger Jahren des 15. Jahrhunderts für das Münster in Ulm geschnitzt hat, sind auf beiden Seiten je drei Reihen von Gestalten übereinander angeordnet; Apostel und Märtyrer, Propheten und eine Anzahl von Sibyllen; das große Gegenstück zu diesem Werk deutscher Gotik ist die großartige Darstellung der Sibyllen, die Michelangelo in die Gemälde an der Decke der sixtinischen Kapelle einbezogen hat. In beiden Fällen liegt dem Werk des Künstlers eine nicht von ihm selbst ausgedachte, sondern vorgefundene und vorgegebene theologische Anschauung zugrunde, die auch außerbiblischen Gestalten ihren Platz und Rang unter den Trägern göttlicher Offenbarung einräumt. Jene legendären Sibyllen, deren Weissagungen in der jüdischen apokalyptischen Literatur der letzten vorchristlichen Jahrhunderte eine erhebliche Rolle gespielt hatten, wurden dann im Bereich des Christentums in Gestalt sibyllinischer Bücher tradiert und galten als Vertreter einer außerchristlichen (und außerbiblischen) Prophetie. Ihre Aufnahme in die christliche Vorstellung von prophetischer Erkenntnis entspricht der von den Vätern der alten Kirche vertretenen Überzeugung, daß die gesamte Welt vor- und außerchristlicher Religion zum Evangelium nicht nur in dem Verhältnis eines ausschließlichen Gegensatzes steht, daß vielmehr der göttliche Logos (von Luther mit „Wort” übersetzt), der in Christus Fleisch geworden ist, auch in der Welt außerhalb der biblischen Offenbarung als logos spermatikos, als Same der göttlichen Wahrheit wirksam geworden ist. Vielleicht das bemerkenswerteste Dokument dieses Glaubens an die universale Weite der in Christus erschienenen göttlichen Wahrheit ist die Unbefangenheit, mit der die Kirche der ersten Jahrhunderte in ihrer Symbolsprache auch vor- und außerchristliche Elemente in sich aufgenommen und assimiliert hat. Die ältesten christlichen Bauwerke Roms enthalten eine Fülle von Beispielen für diese Anerkennung und Assimilation vorchristlicher Vorstellungen und Zeichen. Die Weitschaft dieses universalen Glaubens steht in entschiedenem Gegensatz zu dem Versuch (der uns ja aus der Theologie nur allzu gut bekannt ist), die Autorität der Heiligen Schrift und der biblischen Offenbarung dadurch zu stützen, daß man sie aus dem Gesamtkomplex religiöser Menschheitsentwicklung isolierte und die jedem Forscher einsichtigen Zusammenhänge und Anklänge geflissentlich leugnete oder jedenfalls sich gegen die Tragweite solcher Erkenntnis verschloß. Die heute längst überholte und überwundene Redeweise, die alle außerbiblische Religion unter der Bezeichnung „Heidentum” zusammenschloß, war der Ausdruck jener schroffen Gegensätzlichkeit und Überheblichkeit, die gewiß keiner Sibylle einen Platz neben Aposteln und Propheten im Raum einer christlichen Kirche verstattet hätte. Das Wichtigste, um nicht zu sagen Aufregendste dabei ist, daß der Gott, den Bileam befragt, mit dem Gottesnamen Jahwe bezeichnet wird; es ist der Gott, der sich Mose bei der Erscheinung im brennenden Busch (2. Mose 3) als der Gott seiner Väter zu erkennen gegeben hat, und er ist eben nicht nur wie andere national oder landschaftlich begrenzte Gottheiten der Gott „seines” Volkes, sondern er ist wirklich Gott und Herr schlechthin, der auch von dem mit Zauberkraft begabten Mann am Euphrat befragt wird und ihm seine Weisungen gibt. Die Abgesandten aus Moab kehren mit dem negativen Bescheid zurück zu Balak. Eine zweite Delegation kommt mit noch dringenderer Bitte, und nun erlaubt „Gott” dem Bileam dem Ruf zu folgen: „Doch was ich dir sagen werden, das sollst du tun.” Zum Entsetzen Balaks aber spricht der Mann aus dem Osten nicht Fluch, sondern Segen über Israel aus. „Wie soll ich fluchen, wem Gott nicht flucht? Muß ich nicht das reden, was mir der Herr in den Mund gibt?” Auch der zweimal wiederholte Versuch, ob nicht vielleicht an einem anderen Ort doch der erhoffte Fluch über Israel ausgesprochen werden könnte, ändert nichts an dem Segen, den Bileam auf Gottes Geheiß und offenbar unter einem Zwang, dem er nicht widerstehen kann, über Israel spricht. Bileams Segenssprüche (Kap. 23. 24) haben etwas von jenen sibyllinischen Orakeln an sich; eine eigentümliche und unwiderstehliche Art von Inspiration, dieses will der Erzähler jener Geschichte offenbar sagen, legt dem „Zauberer” Worte in den Mund, die nicht seine Worte sind. Ausdrücklich heißt es, daß Bileam nun nicht mehr auf Zauberei ausging (24, 1); das heißt: er vermag nun nicht mehr seine Kraft zu segnen oder zu verfluchen in den Dienst seiner eigenen Zwecke zu stellen (dieses versteht der Verfasser offenbar unter Zauberei), sondern er spricht „als der Hörer göttlicher Rede, der des Allmächtigen Offenbarung sieht, dem die Augen geöffnet werden, wenn er niederkniet” (24, 4). Daß diese Segenssprüche einem Mann wie Bileam in den Mund gelegt sind, ist das unmißverständliche Bekenntnis dazu, daß auch Menschen, die gänzlich außerhalb Israels beheimatet sind und von dem Volk Israel nichts wissen, Offenbarung und Weisung von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs empfangen und daß Gott auch den „heidnischen Zauberer” in seinen Dienst stellt; freilich, indem er ihm seine eigenmächtigen und selbstsüchtigen Zauberkünste verwehrt und ihn zum Sprachrohr und Vollstrecker Seines eigenen Ratschlusses macht. Aber Bileams Geschichte geht noch einen Schritt darüber hinaus. Auf dem Wege zu Balak verwehrt ein Engel dem Reisenden den Weg. Er freilich sieht ihn nicht, aber der Esel, auf dem er reitet, erschrickt vor der numinosen Erscheinung (so wie ja manchmal Tiere eine Witterung haben für Dinge, die „in der Luft liegen” und die wahrzunehmen die menschlichen Organe zu plump sind), und auch die Schläge des erbosten Reiters können den Krampf nicht lösen, in dem das Tier erstarrt. Erst als die Eselin zu reden anfängt, um den eigensinnigen und unbarmherzigen Herrn zu schelten, sieht Bileam den Engel, der ihm den Weg versperrt. Die Legende von der redenden Eselin ist oft, und, wie mir scheint, mit gutem Recht, auf das Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Leib, dem „Bruder Esel”, gedeutet worden. Früher und gründlicher als der in seinem Eigensinn verkrampfte Mensch verspürt der Leib die warnende und wehrende Stimme Gottes, der dem Menschen auf seinem selbsterwählten Weg widersteht, und die „Schläge”, mit denen der Mensch dann seinen Brüder Esel reizen und zwingen möchte - es sind dann vielleicht starker Kaffee, Zigaretten oder Tabletten irgendwelcher Art -, können den Engel nicht veranlassen, den Weg freizugeben. Aber so bedeutsam dieser Zug der Geschichte sein mag, im Zusammenhang mit unserer Betrachtung ist ein anderes noch wichtiger: nicht nur der Mann vom Euphrat, sondern auch die „unvernünftige Kreatur”, steht unter göttlicher Weisung, und es kann sein, daß der Bruder Esel sieht, was der Mensch, verblendet durch seine Zauberei, nicht sieht, und in seiner Weise deutlicher als der Mensch die Grenze erspürt, die Gottes Wille jeder menschlichen Willkür und Eigenmächtigkeit setzt. Man sage nicht, es sei uns schwerlich erlaubt, aus einer erbaulichen Legende so weittragende Schlüsse zu ziehen. Aber wenn die Israeliten ihren Kindern diese Geschichte erzählten, so wollten sie damit doch wohl eine Wahrheit aussprechen, die ihnen gewiß war und die wir nicht ungestraft vergessen oder verleugnen: Gott, der Vater Jesu Christi, ist der Herr aller Welt, und auch in außerbiblischem, außerchristlichem Bereich wird seine Stimme vernehmbar. Jene Bildschnitzer und Maler, die das Bild der Sibyllen für den Raum des Heiligtums gestalteten, haben etwas theologisch Richtiges (das sie selbst nicht ausgedacht hatten) gemeint und mit ihrer Kunst bezeugt. Das sibyllinische Orakel und die Segenssprüche Bileams haben ihren Ort neben den Propheten, durch die der Heilige Geist geredet hat. Quatember 1963, S. 60-62 |
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