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Der Islam
von Hermann Schneller

LeerUm das Jahr 570 n. Chr. wurde in der Familie der Haschim zu Mekka ein Knabe geboren und Muhammad genannt. In früher Jugend starben ihm Vater und Mütter; Verwandte nahmen sich seiner an und sorgten für ihn, so gut es bei ihrer Armut ging. Mekka war damals schon längst ein religiöser Mittelpunkt des altarabischen Heidentums. Dort stand ein Tempel mit der Kaaba, einem würfelförmigen Gemäuer, in das der schwarze Stein, wohl ein Meteor, eingelassen war. Im heiligen Monat wurde eine Pilgerfahrt zu diesem Heiligtum gemacht. - Der junge Muhammad wurde zunächst Hirte. Mit zwölf Jahren machte er wahrscheinlich eine Reise ins Kulturland und lernte dort die Welt des Judentums und des Christentums kennen.

LeerMit fünfundzwanzig Jahren trat er in den Dienst der reichen Kaufmannswitwe Chadidscha. Er führte eine ihrer Karawanen und kehrte mit reichem Gewinn zurück. Bald darauf heiratete sie ihn und lebte bis zu ihrem Tode in glücklicher Ehe mit ihm. Nun war er zu Wohlstand gelangt und führte die Handelsgeschäfte seiner Frau; aber innerlich war er ein Suchender. Oft zog er sich in die Wüste zurück, wie die altarabischen Gottsucher, die Hanifen. Von ihnen mag er manche Anregung für sein Sinnen bekommen haben; vielleicht verarbeitete er auch jüdische und christliche Gedanken, die damals in Arabien einsickerten. Mit vierzig Jahren hatte er seine erste Offenbarung. Eine große Gestalt befahl ihm zu lesen. Als er darnach weitergehen wollte, hörte er eine Stimme: „O Muhammad, du bist Allahs Gesandter, und ich bin Gabriel!” Von nun an stand ihm fest, daß er von Allah berufen und verpflichtet sei, seine Offenbarungen öffentlich bekanntzumachen. Aber die Mekkaner glaubten nicht an seine Sendung. Muhammad und die wenigen, die sich zu ihm hielten, wurden verfolgt und benachteiligt. Da entschloß er sich im Jahre 622, mit seinen Anhängern nach Madina auszuwandern. Dieses Jahr wurde das Jahr eins der islamischen Zeitrechnung „nach der Auswanderung”.

LeerIn Madina gewann er rasch eine stattliche Zahl von Anhängern. Die dort lebenden Juden, die er für sich zu gewinnen hoffte, versagten sich ihm; da schritt er zu ihrer Ausrottung. Damit wurde er Herr der Stadt. Nun organisierte er seine Gemeinde, leitete selbst das Gebet, brachte mit großem diplomatischem Geschick die Beduinenstämme allmählich zum Anschluß an seine Gemeinde und bereitete die Rückkehr nach Mekka vor. Nach wechselvollen Kämpfen stand er 630 mit einem Heer vor der Stadt. Er zog in Mekka ein, verzichtete aber in weiser Mäßigung auf die Bestrafung seiner Gegner und söhnte sich mit ihnen aus. Dafür machte er nach der Zerstörung der Götzenbilder das alte Mekkaner Heiligtum zum Zentralheiligtum des Islams und übernahm die althergebrachte Pilgerfahrt nach Mekka in sein Zeremonialgesetz. Mekka sollte von nun an von keinem Nichtmuslim mehr betreten werden. 632 vollzog er bei der Pilgerfahrt mit großer Andacht die vorgeschriebenen Zeremonien. Bald darauf starb er in den Armen seiner Lieblingsfrau Aischa, mit Kriegsplänen gegen Byzanz beschäftigt. Seine Anhänger machten den ehrwürdigen Abu Bakr, einen Verwandten Muhammads, zu seinem Nachfolger. Damit war das Amt des Kalifen geschaffen, das erst mit der Abdankung des letzten Türkensultans 1924 erlosch.

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LeerAbu Bakr und die späteren Kalifen nahmen Muhammmads Pläne für den Krieg gegen die Ungläubigen, den heiligen Krieg, auf. In beispiellosem Siegeslauf eroberten sie ein großes Reich für den Islam. Sie eroberten Syrien, Babylon und Persien und stießen nach Indien vor. Ganz Afrika nördlich der Sahara und selbst Spanien fiel ihnen zu. Erst Karl Martell machte 732 mit seinem fränkischen Ritterheer ihrem Vormarsch ein Ende. Nach jahrhundertelangen Kämpfen gewannen sie das ganze byzantinische Reich und setzten sich in Südosteuropa fest. In Westchina, Indonesien und Afrika drangen sie missionierend vor. Heute beträgt die Zahl der Anhänger Muhammads um 400 Millionen.

LeerIn den eroberten Gebieten kamen die Araber in Kontakt mit dem Christentum und der hellenistischen Kultur. Rasch lernten sie von den älteren Kulturvölkern; es entstand eine islamische Kultur, zu der neben den Arabern auch die Perser und später die Türken einen bedeutenden Beitrag leisteten. Neben der islamischen Baukunst entstand ein Kunsthandwerk von hoher Qualität. Die Abbasiden in Baghdad waren besondere Förderer von Kunst und Wissenschaft. Eine bedeutende Literatur entstand, auf den Universitäten wurde Aristoteles ins Arabische übersetzt und eifrig studiert und kommentiert; berühmte Mediziner, Mathematiker und Naturwissenschaftler schrieben ihre Werke, die einen bedeutenden Einfluß auf die europäische Gelehrsamkeit des Mittelalters hatten.

LeerDie Theologen begannen mit Koranexegese und islamischer Dogmatik. Es bildete sich eine islamische Orthodoxie, deren Lehrsätze bis heute gelten. Tiefer angelegte Geister wandten sich der Mystik zu, die zwar aus koranischer Wurzel, aber unter Aufnahme christlicher, hellenistischer und persischer Elemente aufwuchs. Viele der islamischen Mystiker, die mit ihren Aussagen nicht auf der orthodoxen Linie blieben und Fasten und Gebet geringachteten, wurden von der Inquisition der Orthodoxen verfolgt und hingerichtet. Dennoch hielt sich die Mystik; ihre Anhänger lebten teils in ihren Häusern, teils sammelten sie sich in Derwischorden, die nach dem Muster christlicher Klöster von einem Scheich geleitet wurden, dem die Insassen völligen Gehorsam schwören mußten. Um sie sammelten sich „Dritte Orden” für im Leben stehende Laien. Damit gewann die islamische Mystik einen stillen, tiefgehenden Einfluß auf die Volksfrömmigkeit.

LeerAls gegen den Beginn der Neuzeit die islamische Kultur verfiel, blieb den Muslimen als wertvollstes Erbe aus der Vergangenheit das heilige Buch, der Koran. Dies Wort könnte mit Lesung oder Rezitation übersetzt werden. Muhammad hatte seine Offenbarungen schriftkundigen Männern, besonders seinem Schreiber Zeid, diktiert. Manche seiner Anhänger hatten auch Teile der Offenbarungen auswendig gelernt. Nach dem unerwarteten Tode Muhammads bekam Zeid den Auftrag, die einzelnen Stücke zu sammeln. Auf Grund dieser Sammlung gab er dann später die kanonische Ausgabe des Korans heraus, der andere, abweichende Fassungen weichen mußten. Das Buch ist in Suren (Kapitel) eingeteilt. Voran steht die „Fatiha”, das kurze Hauptgebet des Islam. Die übrigen Suren sind nach der Länge geordnet, so daß die zweite die längste, die hundertvierzehnte die kürzeste ist.

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LeerAus diesem Buch tritt uns das Bild des Mannes entgegen, der die darin enthaltenen Offenbarungen empfing. Er nennt sich nicht Prophet (Nabi), sondern Gesandter Allahs (Rasul), dasselbe Wort, mit dem im arabischen Neuen Testament die Apostel bezeichnet werden. Muhammad war von der Wirklichkeit seiner Berufung fest überzeugt. Als Gesandter Allahs wollte er nur ein „Prediger und Mahner” sein. Die Tatsache, daß Allah ihn dieser Offenbarungen würdigte, ist seine einzige Beglaubigung. Er lehnte es ab, sich durch Wunder zu legitimieren. In erster Linie fühlte er sich zu den Arabern gesandt, denen er den Koran „in deutlicher arabischer Sprache” brachte. Damit wurden sie den „Schriftbesitzern”, den Juden und Christen, ebenbürtig. Aber sein Anspruch ging weiter. Was er zu sagen hatte, geht alle Menschen an; er ist der Gesandte Allahs an die ganze Welt.

LeerMuhammad verkündigt die Urreligion Abrahams, die allerdings vor ihm schon Noah, dann wieder Mose, David, Salomo und viele andere biblische und außerbiblische Propheten verkündigt hatten. In diese Reihe gehört auch Jesus, der vorletzte der Gesandten Allahs, der somit im Rang unter Muhammad steht. Denn der letzte Gesandte bringt die endgültige Offenbarung, die alle anderen überragt; er ist „das Siegel der Propheten”. Die Urreligion Abrahams hat Muhammad in ihrer Reinheit wieder herzustellen. Schon Abraham war ein Muslim. Mekka ist die Stätte Abrahams; sein Sohn Ismael baute dort das Heiligtum, und „Allah befahl den Menschen, dorthin zu wallfahren”. Abraham verkündete bereits einen strengen Monotheismus, den Muhammad nun übernimmt. Die Heiden, die Allah „Wesen zugesellen”, freveln ebensosehr wie die Christen, die behaupten, Allah habe einen Sohn. Muhammad kann sich das nur irdisch-physisch denken: „Hat denn Allah ein Weib genommen und einen Sohn gezeugt?”

LeerDieser Allah, der einzige, allmächtige, allgegenwärtige, allweise, allwissende und allbarmherzige Gott, ist der Schöpfer Himmels und der Erde, der Pflanzen, Tiere, Menschen, Engel und Geister (Dschinnen). Der Teufel ist ein verstoßener Engel, der Allah ungehorsam war. Seither versucht er, die Menschen irrezuleiten. Die Schöpfung mit ihren Wundern ist für die Menschen ein „deutlicher Beweis” für das Dasein Allahs, den aber die meisten übersehen. Dazu sind sie undankbar und vergessen die Guttaten, die ihnen Allah durch die Schöpfung zukommen läßt. Vom Sündenfall wird auch berichtet, aber er hat nur die Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies zur Folge. Eine Lehre von der Erbsünde liegt Muhammad fern. Am Ende der Tage wird Allah alle Menschen auferwecken. Sie werden vor ihn gestellt und streng gerichtet. Die einen werden zur Hölle verdammt, die anderen ins Paradies aufgenommen. Die Qualen der Hölle und die Freuden des Paradieses werden mit orientalischer Phantasie ausgemalt.

LeerAngesichts dieses strengen Gerichts und der drohenden Höllenstrafen ruft Muhammad zur Buße. Er mahnt die Menschen, die wahre Religion anzunehmen und nicht die vergänglichen Güter dieser Erde zu lieben, die im Verhältnis zu den Freuden des Paradieses dürftig sind.

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LeerMit den Mekkanern, die nicht an Auferstehung und Gericht glauben wollten, und mit allen anderen, die seine Botschaft ablehnten, setzt er sich im Koran ununterbrochen auseinander. Er mahnt, droht, sucht zu überreden. Er erinnert an die schweren Strafen, die Allah einst über die kommen ließ, die den früheren Gesandten nicht glauben wollten. Immer wieder werden die Sintflut, Sodom und Gomorrha, der Untergang der Ägypter im Roten Meer, die Strafen, die Israel in der Wüste trafen, als es Mose ungehorsam war, als warnende Beispiele erzählt, daneben auch Ereignisse aus dem alten Arabien, die wir nicht mehr genau kennen. Die früheren Gesandten Allahs hatten dasselbe Schicksal wie Muhammad. Man glaubte ihnen nicht, sie wurden verlacht, verhöhnt und verspottet. Auch Jesus ging es nicht anders. Gerade in diesen Stücken sehen wir in die leidenschaftlich bewegte Seele des Gesandten Allahs hinein, der für die Ehre Allahs, für die Annahme seiner Offenbarungen und für die Rettung der Menschen vom Gericht eiferte.

LeerWenn er aber keinen Glauben fand, so tröstete er sich damit, daß das der Wille Allahs sei. „Allah führt in die Irre, wen er will, und er leitet auf den rechten Weg, wen er will.” Der Unglaube oder Glaube eines Menschen geht also letztlich auf die Bestimmung Allahs zurück. „Einem jeden Menschen haben wir sein Geschick bestimmt”, sagt Allah zu seinem Gesandten. „Wer kann den leiten, den Allah in die Irre entlassen will?” Dies ist die Prädestinationslehre des Islam, die auch die orthodoxe Theologie übernommen hat. Sie ist die Wurzel für den Fatalismus, der später oft die Aktivität der Muslime lahmte.

LeerDiese Hauptgedanken werden im Koran in immer neuen Wendungen wiederholt. Das erscheint uns zunächst als eine Schwäche; in Wirklichkeit ist es die Stärke des Korans. Die wenigen, einfachen Grundgedanken werden auf diese Weise den Gläubigen von Jugend auf eingeprägt und sind später ihr unverlierbarer Besitz.

LeerAuch Erinnerungen an das Neue Testament finden wir im Koran. Gewöhnlich sind sie ungenau. In der Geburtsgeschichte Jesu wird seine Mutter Maria mit Mirjam, der Schwester Moses, verwechselt. Die Apostel sagen zu Jesus: „Bezeuge uns, daß wir wahre Muslime sind.” Jesus nimmt zwar eine Sonderstellung unter den Gesandten Allahs ein: „Jesus, dem Sohne der Maria, gaben wir Wunderkraft und rüsteten ihn mit dem Heiligen Geist aus. Er war das von Gott kommende Wort.” Aber dennoch bleibt er im Rang unter Muhammad.

LeerSehr schroff wendet sich der Gesandte Allahs gegen den Kreuzestod Jesu. Das Wort vom Kreuz ist auch ihm ein Ärgernis. Im Koran wird gelehrt, Gott habe kurz vor der Kreuzigung einen Jesus ähnlichen Mann untergeschoben. Dieser sei dann gekreuzigt worden, während Jesus in den Himmel entrückt wurde. Damit ist auch die Auferstehung Jesu abgelehnt. Diese Lehre erinnert an manche altkirchliche Irrlehren. Die Trinitätslehre der Christen wurde als Tritheismus mißverstanden und zu einer Göttertrias umgedeutet, wie sie im antiken Heidentum vorkommt: Gott, Maria und Jesus. Vom Heiligen Geist wird im Koran nur undeutlich gelehrt. Oft ist mit diesem Ausdruck der Engel Gabriel gemeint.

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LeerDarüber hinaus finden wir in dem heiligen Buch des Islam Bestimmungen über das Zeremonialgesetz, sowie Rechtsbestimmungen, nämlich Eherecht, Sklavenrecht, Strafrecht, Handelsrecht und Anweisungen zum heiligen Krieg. Allah regelt das ganze staatliche und private Leben. Die islamische Gemeinde ist eine vollkommene Theokratie. Das Gesetz über den Abfall findet sich nicht im Koran, ist aber bis heute in Geltung: ein abtrünniger Muslim ist dem Tode verfallen.

LeerIm Koran ist jeder Buchstabe inspiriert. Er stammt aus dem Himmel; bei Gottes Thron steht das Urbuch aller Offenbarungen, die im Koran stehen, auf eine Tafel geschrieben. Deshalb ist das Buch unfehlbar; was darin steht, ist unabänderlich und gilt für alle Zeiten. Diese Lehre gibt dem Islam eine große Starrheit, die kaum zu überbieten ist; darauf beruht aber auch die Überzeugung, der Islam sei allen anderen Religionen überlegen.

LeerDie zahlreichen biblischen Erinnerungen, die im Koran stehen, füllen ein gut Teil des Buches. Es fällt auf, daß Muhammad nur die fünf Bücher Mose und die Evangelien, allenfalls die Psalmen kannte. Von den Propheten des Alten Bundes und den Aposteln findet sich sehr wenig. Es ist anzunehmen, daß er die Bibel, da er nicht lesen konnte, durch Erzählungen und in Gesprächen kennenlernte. Hier stehen wir vor dem eigentlichen Geheimnis dieses bedeutenden Mannes. Denn die biblischen Erinnerungen wurden ihm zu etwas Neuem, zu letzten, höchsten Offenbarungen, die Allah ihm, und nur ihm, dem Gesandten, gab.

LeerDas islamische Zeremonialgesetz umfaßt fünf Stücke, die fünf Pfeiler der Religion genannt: das Bekenntnis, das Gebet, das Almosengeben, das Fasten und die Wallfahrt nach Mekka. Einfach und für jedermann leicht verständlich ist das Glaubensbekenntnis: Es ist kein Gott außer Allah, und Muhammad ist sein Gesandter. Es ist das einigende Band für alle Muslime in der weiten Welt. Wer zum Islam übertreten will, braucht nur dies Bekenntnis vor einem Zeugen zu sprechen. Das Gebet wird fünfmal am Tage gehalten. Es beginnt mit einer rituellen Waschung der Hände und Arme bis zum Ellbogen und des Gesichts; dann folgt das „Allahu akbar” (Gott ist groß über alles), die erste Sure und andere Stücke aus dem Koran. Das Gebet ist von Gebärden begleitet: Stehen, Knien, Niederwerfen, wobei die Stirn den Boden berührt.

LeerEin Gebetsrufer kündigt vom Minaret die Gebetszeit an. Am Freitagvormittag wird das Gebet gemeinsam in der Moschee gehalten. Vor den Betern steht dann ein „Imam” (Vorbeter, Leiter), der das Gebet leitet. Beim Gebet ist das Angesicht stets in der Richtung nach Mekka gewandt, wo immer sich der Beter befinden mag, zum Zeichen, daß dort das Zentralheiligtum des Islam und sein geistiger Mittelpunkt ist. Freitags sind die Geschäfte nur während des Vormittaggebets geschlossen. Einen eigentlichen Ruhetag kennt der Islam nicht.

LeerDas Almosen, im Koran sehr hoch gewertet, wurde später in eine Armensteuer umgewandelt; sie ist für alle bedürftigen Muslime bestimmt und wird von Armenpflegern verwaltet. Die häufige Mahnung im Koran, der Bedürftigen zu gedenken, zeigt uns einen sozialen Zug im Islam, an den man in der modernen Zeit anknüpfen will.

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LeerDas Fasten ist im Monat Ramadan geboten. Während des ganzen Monats darf von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nicht gegessen, getrunken oder geraucht werden. Im heißen Sommer ist das besonders quälend und weckt den Fanatismus der Fastenden. Während der Nacht ist das Fastengebot aufgehoben. Oft wird dann mehr gegessen und getrunken, als sonst üblich ist. Diese Art zu fasten setzt die Leistungsfähigkeit aller Arbeitenden stark herab, so daß im Fastenmonat durchschnittlich in allen islamischen Ländern weniger geleistet wird als gewöhnlich. Dies ist ein ernstes Problem für eine kommende islamische Industrie.

LeerDie Wallfahrt nach Mekka zu machen ist das Verlangen jedes frommen Muslims. Denn die Wallfahrt tilgt alle vorher begangenen Sünden. Sie ist kostspielig und nicht ganz ungefährlich. Die Umzüge, die barhaupt und mit glattrasiertem Kopf in der glühenden Sonne Arabiens gemacht werden, führen jedes Jahr zu Todesfällen durch Hitzschlag. Aber gerade diese Wallfahrt ist das Herzstück des Islam. In Mekka kommen die Muslime aus der ganzen Welt zusammen; hier erleben sie die große Bruderschaft des Islam und die Kraft ihrer Religion.

LeerHier gibt es eine Koranschule, wo die nichtarabischen Muslime die Sprache des Korans lernen und sich in die islamische Theologie vertiefen können. Als hochgeehrte, meist sehr fanatische Koranlehrer kommen sie in ihre Heimat zurück. Hier sprudelt der Quell, aus dem sich der Islam immer wieder erneuert, von hier gehen jährlich neue Impulse in die weite Welt des Islam aus. Ähnliches ist von der altehrwürdigen Azhar-Universität in Kairo zu sagen, in der es Studenten aus allen Ländern gibt, in denen der Islam Anhänger hat. So gelingt es der Religion des Gesandten Allahs, ohne eine eigentliche Hierarchie die islamische Welt zusammenzuhalten, auszurichten und zu leiten.

LeerWas im Koran an religiösen und rechtlichen Vorschriften steht, reichte nicht hin, als die islamischen Heere in die Kulturländer im Norden eindrangen; da gab es viele neue Fragen zu lösen, die es auf der arabischen Halbinsel mit ihren einfachen Verhältnissen nicht gegeben hatte. Da erinnerte man sich an den Brauch (Sunna) Muhammads, an das, was er gesagt, gebilligt oder wenigstens nicht verboten hatte. Bald zirkulierten zahllose Aussprüche Muhammads, die man mit der Zeit kritisch sichtete und dann zu Sammlungen zusammenstellte. So entstand neben dem Koran eine Tradition, die bald ebenso kanonisches Ansehen erlangte wie der Koran selbst. Religiöse, ethische und rechtliche Anweisungen wurden, wie auf den Koran, auch auf diese Tradition gestützt. Soweit Koran und Tradition auf bestimmte Fragen keine Antwort gaben, hielt man auch Entscheidungen für kanonisch, die die berühmtesten Gelehrten einer Zeit einhellig getroffen hatten.

LeerNeben der koranischen Frömmigkeit entstand mit der Zeit eine Volksfrömmigkeit, die in vielen Dingen vom Koran abweicht. Sie veränderte vor allem das Bild des Gesandten Allahs. Dieser wollte nur ein Prediger und Mahner sein, ein Mensch, wie alle anderen. Sündlosigkeit nahm er für sich nicht in Anspruch, ein Mittler zwischen Gott und den Seinen wollte er nie sein. Doch suchte schon die islamische Theologie die Sündlosigkeit Muhammads nachzuweisen. Auf diesem Wege ging die Volksfrömmigkeit weiter.

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LeerDer sündlose Muhammad wurde zum Wundertäter; man erzählte von seiner wunderbaren Geburt; man berichtete über seine Himmelsreise, bei der er vor Allah stand und siebzigtausend Gespräche mit ihm führte. Er wurde zum erstgeschaffenen Wesen gemacht, das die Gestalt eines strahlenden Lichtfunkens hatte. Endlich wurde angenommen, daß er für die Seinen Fürbitte einlegen könne, er wurde zum Richter im Endgericht erhoben und „unser Herr Muhammad” genannt. In der Bibel fand man Stellen, die man auf ihn deuten zu können glaubte: 5. Mose 15, 18 und die Verheißung vom Parakleten bei Johannes wurden auf ihn bezogen.

LeerSolche Lehren stehen in schroffem Gegensatz zum Koran und zu dem, was Muhammad selbst sein wollte, aber sie werden im Volk geglaubt. Bei ihrer Entstehung mag die Neigung, Muhammad Christus gleichzustellen, eine Rolle gespielt haben, aber auch die stark betonte Überweltlichkeit Allahs, die einen Mittler zu fordern schien. Auch eine Heiligenverehrung kennt die Volksreligion; Heilige werden an ihren Gräbern verehrt, deren es in islamischen Ländern eine große Zahl gibt. Endlich finden wir in der Volksreligion trotz aller Strenge in den Grundlehren manches Heidnische: Magie, Zauberei und Amulette, die vor allem in den Außengebieten des Islam, in Indonesien und Afrika, zu Hause sind, aber auch im arabischen Raum nicht ganz fehlen.

LeerAuch der Islam ist kein einheitliches Gebilde mehr. Die große Spaltung entstand schon in der Frühzeit, als es zu einem Gegensatz zwischen den Anhängern einer Nachfolge der Familie des Propheten und anderen kam, die auch Kalifen aus anderen Familien zulassen wollten. Die ersteren, die „Schi'a”, sonderten sich von den übrigen ab. Ihr Gebiet ist vor allem Iran. Neben dem besonderen Trauermonat für Ali, einem Vetter Muhammads, der nicht zur Thronfolge zugelassen wurde, haben sie die Lehre vom Imam, der kommen soll, um das Recht, das heißt die legitime Nachfolge wieder herzustellen, und dem man göttliche Eigenschaften beilegte. Von den anderen sektenhaften Abspaltungen mag nur die wichtigste genannt werden, die Ahmadije. Ihr Gründer, Mirza Ghulam Ahmad Kadian (1880), hielt sich für den Messias der Christen; durch ihn sollten alle Religionen in dieser Welt auf islamischer Grundlage zu einer einzigen zusammengefaßt werden. Die Ahmadije, die einen großen Missionseifer entwickelt, arbeitet in Afrika, Amerika und Europa, immerhin mit einigem Erfolg. Der orthodoxe Islam lehnt die Ahmadije ab.

LeerEndlich ist noch die puritanische Reformbewegung der Wahabiten zu nennen, die in Arabien viele Anhänger hat und alles ablehnt, was nicht vom Koran geboten und im Urislam üblich war, und der Senussiorden, eine straff organisierte, missionarisch eingestellte Ordensgemeinschaft mit stark antieuropäischen Neigungen. In dieser Bewegung, wie sonst in Nord- und Ostafrika, finden wir den Mahdi-Glauben, die Hoffnung, daß am Ende der Tage ein „Mahdi”, ein Zurechtbringer, erscheinen werde. Zuweilen wird Jesus mit diesem Mahdi in eins gesetzt.

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LeerWir haben den Islam als eine Gesetzesreligion kennengelernt. Aus dem Koran und der Tradition gibt es eine Unzahl von Vorschriften, die der Muslim halten soll. Ein Laie kann da nicht immer durchfinden, er braucht die Hilfe eines Sachverständigen, eines Mufti, Koranlehrers oder Scheichs, der ihm seinen Rat gibt. Wo das Gesetz erfüllt wird, bekommt ein frommer Muslim freilich großen Lohn: „Allah gibt jedem nach seinem Verdienst übergroße Belohnung.” Aber es ist schwer zu wissen, ob man alles getan hat, was man hätte tun sollen, und wer weiß, was Allah über einen bestimmt hat? Dennoch hat der Islam ein großes Selbstbewußtsein, das sich auf jeden einzelnen Muslim überträgt. Gerade heute, nach dem politischen Aufstieg der islamischen Länder, hat die Religion Muhammads einen großen Auftrieb bekommen. Mit neuem Eifer wird gebetet und gefastet, die Armensteuer bezahlt und nach Mekka gewallfahrtet. Das islamische Selbstbewußtsein ist gewachsen, und die Hoffnung hat sich belebt, daß die Zeit nicht weit ist, wo alle Menschen zur grünen Fahne Muhammads schwören werden.

LeerFreilich hat der Islam auch schwere Proben vor sich. Es läßt sich noch nicht sagen, wie die islamische Welt mit der Technisierung fertig wird, die auf sie zukommt. Die jungen Muslime haben sich mit dem westlichen Gedankengut und mit dem östlichen Materialismus auseinanderzusetzen. Werden sie dabei ihrem Glauben treu bleiben? Wird der Koran auch im Umbruch der Zeiten die Grundlage für alle kommenden Entscheidungen sein können? Und letztlich liegt doch über dem Islam ein tief er Ernst. Die Gerichtspredigt des Propheten ist unvergessen; die Unsicherheit des ewigen Schicksals lastet auf vielen. Der fromme Muslim ist ein Knecht Allahs, aber nicht sein geliebtes Kind. Viele hehre Namen hat der Koran für Allah, aber den Vaternamen kennt er nicht.

LeerHeute, wo viele Studenten aus den islamischen Ländern unter uns leben und die Ahmadijemission islamische Gedanken verbreitet, müssen wir uns mit dem Islam auseinandersetzen und ihn immer besser kennenlernen. Wir sollten es mit der Achtung tun, die der Muslim verdient, der mit solcher Hingabe Allah dienen will. Denn das ist Islam: völlige Hingabe an Gottes Willen. Davon kann auch das Abendland etwas lernen.

Quatember 1963, S- 100-107

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-29
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