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von Wilhelm Stählin |
Einige vorläufige Bemerkungen zu einer sehr dringlichen Frage * 1. Ehe man mit einer raschen Verneinung behauptet: nein, es gebe in der evangelischen Kirche kein Lehramt, muß man sich über den Doppelsinn oder vielmehr dreifachen Sinn des Wortes „Lehramt” Rechenschaft geben. a) Was in der heute üblichen theologischen Sprache als „Verkündigung” bezeichnet wird, heißt in der Sprache der reformatorischen Bekenntnisschriften docere evangelium. Wenn auch wahrscheinlich das Wort docere damals in einem etwas gefüllteren Sinn gebraucht worden ist, als ihn unser Wort „lehren” heute hat, so muß doch aus jener Redeweise der Hinweis darauf herausgehört werden, daß die Predigt des Evangeliums notwendig und immer auch ein Moment der Lehre in sich schließt. Ich gebe Landesbischof Dietzfelbinger recht, wenn er kürzlich in einem Rundfunkvortrag gegen die landläufige Klage, unsere Predigten seien zu lehrhaft, gesagt hat, daß die Predigten viel eher darunter leiden, daß sie zu wenig wirkliche Lehre enthalten. Insofern kann es kein Predigtamt geben, das nicht auch ein Lehramt in sich schlösse, und es hat also jeder Pfarrer in seiner Predigttätigkeit zugleich ein Lehramt verantwortlich zu verwalten. b) Das theologische Lehramt dient der Klarheit und Rechenschaft darüber, was in der Kirche zu predigen sei. Ohne diese ständige Beziehung auf jenes docere evangelium im Vollzug der Predigt verliert das Lehramt, wie es an unseren theologischen Fakultäten betrieben wird, ebenso seine Aktualität wie seinen kirchlichen Charakter und verblaßt zu einer unverbindlichen Religionsphilosophie. Was nicht gepredigt werden kann (was nicht lehrhafter Inhalt der kirchlichen Predigt sein kann), kann auch nicht Gegenstand theologischer Lehre sein. c) Bei der Frage, ob es in der evangelischen Kirche ein Lehramt gibt, ist aber wahrscheinlich an ein Drittes gedacht, nämlich an ein Amt der Aufsicht über die Lehre der Kirche und die in ihrer Predigt tatsächlich verkündigte Lehre; ein Wächteramt also, das verantwortlich darüber zu wachen hat, was in der Kirche tatsächlich gelehrt und gepredigt wird, damit die Kirche nicht mit sich selber in Widerspruch gerate und etwas anderes tatsächlich predige, als was sie in ihren offiziellen Glaubensaussagen lehrt. 2. Die Frage wird aber noch erheblich schwieriger, wenn man nicht nur die Vieldeutigkeit des Begriffs Lehramt, sondern auch die Vielschichtigkeit der „Lehre” selbst ins Auge faßt. a) Ebenso der Glaube wie die Predigt sind nicht loszulösen von einem Sachverhalt, auf den sie sich beziehen. Weder kann der rettende Glaube auf eine inhaltlich unbestimmte „Gläubigkeit” reduziert werden, noch darf die Predigt dem Wunsch nach einer erbaulichen Rede nachgeben, bei der man vergeblich fragen müßte, wovon in ihr eigentlich die Rede ist. Es besteht zwar ziemlich allgemein theologisches Einverständnis darin, daß diese Inhalte der Predigt ebenso wie des Glaubens nicht „objektiviert” werden können, daß die „Lehre” also weder in einer Aussage über metaphysische „Gegenstände” noch über angebliche historische „Tatsachen” bestehen kann; aber ebenso sollte allgemein eingesehen und anerkannt sein, daß der Glaube kein inhaltlich unbestimmtes Gefühl und die Predigt nicht eine sich an religiöse Gefühle wendende erbauliche Rede sein kann. Die alte Unterscheidung zwischen fides quae creditur (der Glaube als Aussage über den Inhalt des Glaubens, als Antwort auf die Frage, woran der Glaube glaubt) und fides qua creditur (der Glaube als persönliche Haltung des Vertrauens) ist insofern fragwürdig und bedenklich, als eines nicht ohne das andere gedacht werden kann und darf. b) Aber die Aufgabe des Lehramtes (wie es vorzugsweise in der Predigt verwaltet wird) schließt ja nicht nur die sachliche (dogmatische) Richtigkeit ein, sondern auch das Bemühen, diesen Inhalt, in dem das Lehramt an das Erbe der Kirche (das depositum fidei) gebunden ist, so zu lehren, daß die Angeredeten verstehen, was damit gemeint ist, das heißt die Lehre mit ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen und darauf beziehen können. Insofern schließt jedes Lehramt die ständige Aufgabe einer Übersetzung in andere Sprach- und Denkformen in sich, und die Übersetzung aus einer der biblischen Ursprachen in die jeweilige Volkssprache ist nur ein Teil, nicht einmal der schwierigste Teil dieser Übersetzungsaufgabe. Wenn diese Übersetzung nicht gelingt oder vielleicht nicht einmal als Aufgabe gesehen und bejaht wird, dann kommt es leicht zu jener „lehrhaften Predigt”, von der die Hörer sich nicht persönlich angeredet fühlen; und die dem Protest gegen ein „dogmatisches” Christentum ein relatives Recht gibt (wobei dann freilich das Wesen der Lehre und des Dogmas zutiefst mißverstanden ist.) c) Jenes docere evangelium, das dem Lehramt der Kirche befohlen und anvertraut ist, schließt aber noch eine andere Dimension in sich. Die „Lehre” ist Hinweis auf eine lebendige und dynamische Wirklichkeit, genauer gesagt, auf einen Lebensvorgang, und lehren heißt im Neuen Testament, diesen Lebensvorgang erwecken und den Hörenden dafür empfänglich machen. Die beiden Ableitungen von „zeugen” - Zeugnis und Zeugung - bezeichnen in ihrem inneren Zusammenhang genau diese Kategorie einer geistlichen Zeugung durch Weitergabe einer zeugungskräftigen Wahrheit. Ich zitiere einen Satz, den Albrecht Goes in einem Vortrag über Martin Buber gesagt hat („Mut zur Versöhnung” S. 49): „Es kommt überhaupt nicht darauf an, feste Lehre zu besitzen, sondern darauf, ewige Wirklichkeit zu erkennen und aus ihrer Kraft gegenwärtiger Wirklichkeit standzuhalten.” Die Isolierung der „reinen Lehre” - während das Neue Testament von der gesunden und das heißt heilsamen Lehre redet - bedeutet in dieser Hinsicht eine Abstraktion, in der sich die sachlich korrekte Lehre zu einer gefährlichen Irrlehre entwickeln kann. Ein kirchliches Lehramt - sei es der Pfarrer, sei es der Professoren -, das sich dieses Zusammenhangs und dieser Verantwortung nicht bewußt wäre, wäre mehr im Bereich der Synagoge als im Bereich der christlichen Kirche beheimatet; und gerade im Hinblick darauf ist die Frage, ob es ein dem Wesen des Evangeliums angemessenes Lehramt in der evangelischen Kirche gibt, nicht mit einem so selbstverständlichen „Ja” zu beantworten. 3. Die Frage wird am schwierigsten, wenn sie sich dem Lehramt in dem dritten vorhin beschriebenen Sinn zuwendet, wenn also nach einer Instanz gefragt wird, welche über die Lehre, nicht nur über ihre theoretische Reinheit, sondern über ihre Gesundheit in dem eben beschriebenen Sinn der Lebensnähe und der Lebensvermittlung zu wachen hätte. Wenn auch in den Ordnungen, nach denen in der evangelisch-lutherischen Kirche ein Bischof in sein Amt eingeführt und dazu gesegnet wird, im allgemeinen das, was in dieser Stunde sachlich zu sagen wäre, nach einer fragwürdigen protestantischen Tradition hinter mehr oder weniger passenden Bibelsprüchen zu verschwinden droht, so besteht doch darüber kein Zweifel, daß der Bischof, so wie er selbst an das Bekenntnis seiner Kirche gebunden ist, in seinem Amt über die Reinheit der Verkündigung, über die Gesundheit der Lehre zu wachen hat. Diese mit dem bischöflichen Amt verbundene Verpflichtung kann aber zumeist einfach deswegen praktisch nicht erfüllt werden, weil das Lehramt durch die theologischen Lehrer an den Fakultäten und kirchlichen Hochschulen ausgeübt wird, und zwar mehr in der Bindung an die Maßstäbe einer rationalen Wissenschaftlichkeit als an die Norm jener gesunden und heilsamen Lehre. Ebensowenig oder noch weniger empfiehlt sich der umgekehrte Weg, daß die Bischöfe die eigentliche Lehrautorität praktisch auf die Professoren delegieren und sich also damit abfinden, daß die erschreckende Vielfalt und Gegensätzlichkeit widerstreitender Lehrmeinungen einzelner Professoren-Persönlichkeiten praktisch die Einheit und Gesundheit der Lehre gefährdet und auflöst. Solange die Wissenschaftlichkeit der theologischen Forschung und die Verantwortung für das kirchliche Lehramt als ein Organ zeugender Lebensvermittlung unausgeglichen nebeneinanderstehen, ist die Frage des kirchlichen Lehramtes nicht lösbar. Aber wenn es richtig ist, was uns Hans Dombois auch in anderen, nämlich vor allem kirchenrechtlichen Fragen, gelehrt hat, daß es nämlich zum Wesen kirchlicher Ordnung gehört, daß immer mehrere Instanzen aufeinander bezogen sind, von denen nicht die eine auf die andere zurückgeführt oder aus ihr abgeleitet werden kann (wofür etwa das Verhältnis Schrift und Tradition, Amt und Gemeinde typische Beispiele sind), dann heißt das, auf unserer Frage angewendet, daß sich nur in einer lebendigen Verbindung und einem fruchtbaren Austausch zwischen dem Amt der Kirchenleitung und dem theologischen Lehramt, also praktisch zwischen Bischöfen und Professoren, das heute zumeist fehlende Lehramt in der evangelischen Kirche bilden kann. Anfang Oktober hat in Berlin Spandau - meines Wissens zum ersten Male - ein Gespräch zwischen lutherischen Bischöfen und Professoren der Theologie über die gemeinsame Verantwortung für die Verkündigung der Kirche stattgefunden. Die beiden dort gehaltenen Vorträge von Prof. Conzelmann und Bischof Meyer sind in Nr. 11/1962 der „Lutherischen Monatshefte” veröffentlicht, und darnach hat Bischof Lilje in Nr. 1/1963 der gleichen Monatshefte mit einem Aufsatz über das Verhältnis von Theologie und Kirche in dankenswerter Weise das Gespräch weitergeführt. Alle Beteiligten sind sich darüber klar, daß dieses zwar ein notwendiger Schritt auf einem viel zu selten beschrittenen Wege, aber eben doch nur ein Anfang, freilich nicht gänzlich ohne Hoffnung ist. Lilje schreibt in dem erwähnten Aufsatz u. a.: „Wenn Max Born in einer scharfen Kritik den Philosophen der Gegenwart vorgehalten hat, daß ihr Denkmaterial nicht im entferntesten ausreicht, das gedanklich zu bewältigen, was den Atomphysiker von heute erkenntnismäßig bewegt, wie würde sein Wort dann ausgefallen sein, wenn er es statt an die Philosophen an die Theologen gerichtet hätte?” Reichen die gedanklichen Voraussetzungen der heutigen Theologie aus, um jene Wirklichkeitsbereiche zu erfassen und zu beschreiben, um die es sich bei dem Lehramt, der gesunden Lehre der Kirche handelt? Ohne daß diese Frage in aller ehrlicher Bescheidenheit und in entschlossener Offenheit gestellt wird, kann ich mir eine fruchtbare Fortsetzung des mit soviel gutem Willen begonnenen Gesprächs nicht denken. Das aber ist gleichbedeutend mit der Erkenntnis, daß es sich bei dem „Lehramt” nicht nur um die dogmatische Korrektheit aller Aussagen, sondern ebenso und noch viel mehr um die Vermittlung und Weitergabe von Lebensvorgängen und also um jene seelsorgerliche Verantwortung handelt, die Otto Dibelius in seiner Lobrede auf Paul Tillich (bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels) als das eigentliche Motiv der theologischen Arbeit von Paul Tillich gerühmt hat. Tragen wir diese Verantwortung wirklich gemeinsam? Von der Beantwortung dieser Frage scheint es mir abzuhängen, ob es ein Lehramt in der evangelischen Kirche gibt, geben wird, geben kann. ∗: Auf einem „offenen Abend” des Berneuchener Dienstes in Münster am 12. Januar ds. J. hatte ich auf Verlangen dortiger Freunde einiges zu dieser ebenso wichtigen wie schwierigen Frage gesagt und folge nun einer dringenden Aufforderung, wenn ich hier in Stichworten und thesenartigen Sätzen wiederhole, was ich damals ausgeführt habe. Quatember 1963, S. 117-122 |
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