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Die Psychotherapie und ihre „Anrainer”
von Gerhard Bartning

LeerIm vergangenen Jahr war es Schloß Elmau, das die Freunde und Mitarbeiter der Stuttgarter Gemeinschaft „Arzt und Seelsorger” in seinen weitläufigen Gängen und Hallen beherbergte für die runde Zeit einer Arbeitswoche vom 21. bis zum 28. Oktober. Es hatte mehr als den üblichen „programmatischen” Sinn, wenn Rudolf Daur in seiner Begrüßungsansprache sich auf Paul Tillichs Frankfurter Rede bezog und an die Grenzen erinnerte, die uns von „hüben” und „drüben”, vom ärztlichen wie vom seelsorgerlichen Wirken her gezogen sind. „Grenzgebiete” der Psychotherapie und Seelsorge - birgt nicht schon das Wort die Unvermeidlichkeit der „Grenzüberschreitungen” in sich? Ist nicht schon „der über die Grenze hinaus, der ihrer ansichtig wird” (Hegel)?

LeerWas die Tagung den Teilnehmern mitgab, läßt sich zum wenigsten in einem Überschlag ihrer Grund- und Leitgedanken zusammenfassen. Es teilte sich das Wesentliche in den Übungen mit, zu denen sich fast alle Tagungsgäste in Gruppen versammelten: Übungen im Atmen, in der Bewegungsrhythmik der Gruppe, in konzentrativen Spannungs- und Bewegungsübungen für den einzelnen, im autogenen Training und im Umgang mit der eigenen Stimme und Sprache. Dies alles sollte nicht geschehen und geschah nicht, um die üblichen Schäden zu reparieren, sondern um, über die Einführung des „Subjekts” in die Biologie und Medizin hinaus, zu einer Therapie der mündigen „Person” zu kommen, wie Graf Dürckheim in seinem Grundsatzreferat ausführte.

LeerKrankheit ist nicht einfach Störung der Leistungsfähigkeit, und „Gesundheit”, so wie sie meist verstanden wird, kann „heillose Gesundheit” (Müller-Eckhardt) sein! Und wie der rechte Arzt fast instinktiv vom „Gesamteindruck” des Patienten ausgeht, von der leibhaften Ganzheit seiner Haltung, Gebärde, seines Blicks, seiner Stimme, so hängt das, was wir in unserer Welt sind, die Weise, wie wir „da” sind, weithin davon ab, wie wir uns „unter der Haut fühlen” (Marianne Fuchs, Atemtherapeutin zu Heidelberg). Wiederum können wir nur dann ganz „präsent” sein, wenn wir unser leibhaftes Dasein in jedem Augenblick transzendieren (der Theologe wird sich hierbei der paradoxen Aussage des altkirchlich-christologischen Dogmas erinnern vom Zusammensein der beiden „Naturen”, Daseinsweisen, in der „Person” Christi).

LeerDiese beiden Akzente des ersten Referats kehrten in mannigfachen Varianten in den anderen Referaten und Aussprachen der Tagung wieder. Die Seite der „Präsenz”, des unmittelbar wachen Da-Seins, am deutlichsten in den Besinnungen über Stimme und Sprache (Friso Melzer, Geislingen, und Frohmut Scharenberg-Nallinger, Stuttgart), die Seite und das Moment des „Überstiegs” im Ringen um eine rechte „Fastenordnung” und Askese, wie es in Philipp Dessauers Unterscheidung von „Weltaskese” und „Individualaskese”, in Dr. med. Heuns Bericht über die Fastenübungen seines Sanatoriums in Herborn und in K. B. Ritters Referat über die „Unterstützung der Seelsorge von der Leib-Seite her” deutlich wurde.

LeerWenn der Berichterstatter recht verstanden hat, muß die leibhafte Verwirklichung des Christentums ein „Paradox”, eine Spannungseinheit in Gegensätzen, bewältigen, sonst verflüchtigt sich das „Christentum” in einen Lehrinhalt (Gefahr der nachreformatorischen Orthodoxie!) oder in eine „Weltanschauung” (wiederauflebende Gefahr einer neuen Romantik). Der Rückzug in eine weltverneinende, sinnabtötende Asketik ist uns verwehrt, wird auch kaum mehr ernstlich versucht.

LeerDie Stopsignale der Romantik, die vor einer die „Natur” der Welt oder des Menschen „vergewaltigenden” Technik warnen zu müssen meinte, sind längst überfahren. Die vordringende Forschung kann sich nicht selbst zurückpfeifen. Die volle „Präsenz” des forschenden, tätigen, „manipulierenden” Menschen in den technisch-ökonomischen und soziopolitischen Aufgaben der Zeit ist erforderlich, wenn wir am Leben bleiben wollen. Die christliche Askese darf keine Weltbereiche mehr ausschließen (womit sie sie nur einer dämonischen Verselbständigung ausliefern würde).

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LeerUnd doch können wir all diese Aufgaben nicht bestehen ohne Teilverzichte. Wir können weder physisch noch psychisch noch geistig alles aufnehmen und „verarbeiten”, was die heutige Welt auf uns eindringen läßt, wir müssen auswählen, „sieben”, ob wir wollen oder nicht. Zu dieser Art Askese zwingt uns einfach das heutige Dasein. Aber über diesen Zwang hinaus, das Chaos des Weltangebots zu ordnen, von ihm immer wieder Abstand zu gewinnen, müssen wir dem Gebot der Freiheit folgen, das uns Wege suchen und begehen heißt, die das Erleben fruchtbar machen können. Wir müssen frei werden von falschen „Prinzipien” und erkennen, daß Gott uns eines Tages gönnen wird, was wir zunächst aus unserem Leben ausschließen mußten, und anderes wieder versagt, was wir einmal nötig hatten wie das tägliche Brot. (Es wäre reizvoll gewesen, diese Konsequenz vor allem aus der Darstellung Dessauers mit der Zeitenlehre Eugen Rosenstock-Huessys zu vergleichen und zu verbinden!)

LeerVon Ritter mußte sich das übliche protestantische Christentum daran erinnern lassen, daß die wahrhaft verwandelnden Vorgänge und Entscheidungen nicht auf der Ebene der Diskussion und rationalen Klärung des christlichen Glaubensinhalts geschehen. Dies wäre der Ausbesserung eines Risses im Schornstein zu vergleichen - mit der dem verlöschenden Feuer auf der Herdstatt noch nicht aufgeholfen wäre! Weil Christentum leibhaftes Mysterium ist, ist zum Beispiel die Gebärde im Kultus keine entbehrliche Zugabe, sondern eine existentiell notwendige Aussage! Daß in unserem christlichen Kultus der Tanz keine Stätte mehr hat, ist kein Grund für uns, besonders stolz zu sein! Der Ernst der Weltabkehr, wie er in der entsagenden Hingabe an den Ruf Gottes zu einem bestimmten Werk hervortritt, ist nicht möglich durch Zurückweichen vor der Welt, sondern nur aus der „größeren Liebe” heraus! Weil dies so wenig gesehen - und vielleicht auch zu wenig gelebt - wurde, geriet die christliche Askese durch Jahrhunderte hindurch in Mißkredit.

LeerÄhnlich betonte Dessauer, daß nur der Geborgene Askese zu üben vermag. Wer keine Heimat hat, keine Stätte des Glücks, kann nicht verzichten, nicht überlegen sein. Nicht jedem Gast wird der enge und tiefe Zusammenhang klargeworden sein, der zwischen diesen Besinnungen und den Ausführungen Friso Melzers und Frohmut Scharenberg-Nallingers über eine gesunde Sprache und Sprechweise bestand. Ein indisches Urteil über die Sprache eines westlichen Intellektuellen beleuchtet es scharf: „Wie du bist, spricht so laut, daß ich nicht hören kann, was du sagst!” Diese Zusammenhänge finden ihre Bestätigung in der Telefonseelsorge. Stimm-Lage und Stimm-Modulation ist hier das wesentliche Instrument des Gebens und Nehmens von Mensch zu Mensch. Der Inhalt der Beratung erweist sich oft als sekundär und hat bestenfalls katalysatorische, auslösende Kraft - wird aber durch eine zu hohe oder knarrende, durch eine hart-„zupackende” oder konturlos-weiche Stimme völlig paralysiert!

LeerLeider reichten auch die gefüllten sechs Tage nicht aus, um der Frage nachzugehen, wieweit die Stimme und das Sprechen durch falsche Schul-Grammatik ernstlich bedroht wird! Eine Grammatik, die mit dem „Ich” als der ersten Person anfängt, ist falsch, ist unwahr. Die hervorragenden Übungen in den Atemgruppen, der Rhythmik und Bewegungstherapie leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Götterdämmerung der falschen Grammatik unserer Worte - und unseres Wesens!

Quatember 1963, S. 127-128

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-29
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