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von Leo A. Zander |
Was ist Orthodoxie? Nicht in ihrer dogmatischen Lehre oder kanonischen Organisation, sondern als Lebenserscheinung, als schöpferischer, sich im Leben durchsetzender Glaube? Die an sich richtigen Definitionen der Orthodoxie als der Kirche der sieben Weltkonzile oder als Tradition der östlichen Kirchenväter sind hier nicht von Nutzen. Viel einleuchtender scheint die Tatsache zu sein, daß im Grunde der Orthodoxie ein Glaube an die Möglichkeit einer Anteilnahme am göttlichen Leben für den Menschen besteht. Von da aus ergibt sich die Verklärung der gesamten Schöpfung, die Theosis (Vergöttlichung) der Menschen, die Omnipräsenz Gottes in der Natur und Geschichte. Diese These ist viel ausgesprochener im Leben der Heiligen, im sakramentalen Leben und im Gottesdienste als in der offiziellen Kirchenlehre akzentuiert. Wenn hier versucht wird, die Orthodoxie in einem Bilde zu fassen, so erscheint sie als ein Diptychon von zwei zusammengekoppelten Ikonen. Die eine ist himmlischer Natur und gibt in symbolischen Formen die Selbstoffenbarung Gottes wieder, die zweite ist die Ikone der Schöpfung, die jene mannigfaltige Selbstoffenbarung Gottes vernimmt und ihm für sie dankt, ihn verehrt, preist, zu ihm strebt, für ihn lebt. Der Ikone der Heiligen Dreieinigkeit, die in die Geheimnisse des innertrinitarischen Lebens einführt, entspricht die Ikone der Deïsis, der Fürbitte, in der die gesamte Schöpfung, durch Maria und Johannes, die Mutter Gottes und den Freund des Bräutigams, vertreten, sich vor dem fleischgewordenen Worte in flehend-vernehmender Haltung beugt. Diese zwei Ikonen gehören so zueinander, daß die eine ohne die andere kaum zu denken ist. Die Selbstoffenbarung Gottes setzt den diese Offenbarung Vernehmenden voraus. Sie kann als eine Frage an den anderen verstanden werden. Eine Frage, die keine Antwort bekommt, bleibt in der Luft hängen; eine Antwort, der keine Frage vorausgeht, ist überhaupt sinnlos. Das ganze Weltgeschehen kann infolgedessen als Dialog zwischen Gott und Mensch angesehen werden. Hier wird diesem Dialog die ikonographische Prägung des Diptychons, der Zusammengehörigkeit der zwei Ikonen, gegeben; dogmatisch kann dieser ganze Komplex in einem Worte gefaßt werden, und dieses Wort heißt „Gottmenschentum”. Das letzte Geheimnis - das der Trinität - kann, sofern es uns offenbart ist und wir darüber sprechen und denken können, als eine Selbstoffenbarung des Vaters verstanden werden. Diese ist in der klassischen Ikone der Trinität (Rubleff) durch Farben, Linien und Haltung der Engel dargestellt: Der Vater offenbart sich selbst im Sohne als Weisheit und im Geiste als Leben, das zugleich Schönheit und Herrlichkeit ist. Aber die Weltgeschichte muß auch ein Ende haben; und dieses ist uns in der Parusie versprochen. Ein Unterpfand des künftigen Reiches besitzt der Mensch in der Kirche. Abgesehen davon, ob wir diese als Volk Gottes, Familie des Vaters, Leib Christi, Braut des Lammes, Kommunion der Heiligen betrachten, bleibt sie immer der Ort der Selbstoffenbarung Gottes: seiner Liebe, seiner Gnade, seiner Weisheit, seiner Herrlichkeit - in der Lehre der Kirche, in ihren Sakramenten, in ihren Gebeten und in allem, was „die außerhalb des Tempels gefeierte Liturgie” genannt wird, die keine Grenzen hat und zu der eigentlich das ganze Leben gehört. Wir können uns jetzt der zweiten Ikone zuwenden, die alle Antworten des Menschen auf Gottes Ruf enthält. Hier erhält das Wort „Orthodoxie” seinen vollen Sinn. Gewöhnlich wird es als „richtiger Glaube” wiedergegeben, was seinem ursprünglichen Sinn nicht entspricht. Doxa ist nicht „Glaube”, sondern „Herrlichkeit”, „Glorie”. Ortho-doxie ist dementsprechend die wahre, die richtige Verherrlichung Gottes. In den Akten eines Konzils im Süden Frankreichs werden homines rectae gloriae erwähnt, die für den Historiker lange Zeit ein Rätsel waren. Schließlich erwies sich, daß diese homines nichts anderes als ανδρες ορθοδοξοι - orthodoxe Männer, Vertreter des östlichen Christentums waren! Im Lichte dieser Deutung ist es begreiflich, warum die östlichen Patriarchen 1848 auf die Frage des englischen Episkopats antworten konnten, daß die Kirche des Ostens als den wahren Träger und Beschützer der christlichen Wahrheit das gesamte Volk ansehe. Das einfache Volk kann selbstverständlich keine Autorität in den theologischen Streitfragen haben. Aber die Wahrheit, deren Inhalt in seiner intellektuellen Schicht nur den raffiniertesten Theologen verständlich ist, kann in ihrer Wurzel, in ihrem Wesen unmittelbar und intuitiv von einem einfachen Bauern erlebt werden. Wer von den Gelehrten (die ja alle intellektuell sind) kann sich rühmen, das einfache Volk in seinem undifferenzierten Leben zu kennen! Deswegen sind auch die Arbeiten, die der religiösen Psyche des russischen Volkes gewidmet sind, meistens Fehlgriffe. Eine Ausnahme macht der Aufsatz von P. Pascal, La Religion du peuple russe (Revue de Psychologie des Peuples 1947, Nr. 2 und 3, Deutsche Übersetzung im „Kyrios” [Berlin] 1962, Heft 2, S. 69-102). Ich will hier einige Gedanken des Autors aufnehmen: Sehr häufig kennt der Russe die Dogmen nicht. Seine Kenntnis auf dem Gebiete der Religion bezieht er nur zum geringen Teile aus dem Schulunterricht. Aber er hat andere Quellen für das unmittelbare Empfangen der Mysterien des Glaubens: dazu gehören die aus der Familie empfangenen Traditionen, die Liturgie, die Predigt, die Erzählungen der Pilger und die religiöse Malerei. Dasselbe Prinzip regiert in den Beziehungen zu den Nächsten. Der Mensch ist nicht allein. Er hat Brüder, und er schämt sich nicht, die Menschen bei diesem Namen zu nennen. Hieraus ergibt sich ein Interesse für alle Menschen und für ihr Leben, ein Mitgefühl für ihr Unglück, ein Verständnis für ihre Meinungen. Die kostbarste Tugend in den Augen des Volkes ist das Mitleid (jalost). Nirgends äußert sich der Charakter seiner Beziehungen zum „Nächsten” so wie in der Haltung gegenüber den Verurteilten. Für das russische Volk, das christlich und ohne allzu großen Respekt vor den sozialen Einrichtungen ist, bedeutet „verurteilt” nicht notwendigerweise „schuldig”, und das Verbrechen ist nicht das Böse im absoluten und definitiven Sinn, sondern eine Sünde, die nach Verzeihung verlangt, sei sie auch noch so schwer: „Auch der Mörder verbringt nicht seine ganze Zeit mit Töten, er lebt und er fühlt, was auch die anderen Menschen fühlen” (Korolenko). Ein bekannter Scherz behauptet: der Russe kann nur entweder ein Heiliger sein oder ein Lump. Der Kern der Wahrheit in diesem Satze besteht darin, daß die Kategorie des höchsten Wertes für das russische Gewissen immer das Heilige und nicht das Gute, das Moralische oder das Kulturelle bleibt. Das Heilige, das heißt das von Gott Erfüllte, dem Himmel nahe Stehende, das Immanent-Transzendente. Diese Kategorie des Heiligen (die der moderne Mensch mit dem Bereich der Moral, der Willensentscheidungen zu identifizieren geneigt ist) ist viel mehr mit der Kategorie des Schönen verbunden. Die größte Gefahr, vor der der westliche Forscher der russischen Religiosität steht, besteht darin, daß er sie als etwas Exzentrisches, Fremdes, Ungewöhnliches und Übertriebenes ansieht. Nur wenn man die russische Religiosität unter dem Standpunkt der Katholizität des Christentums versteht, erhält sie einen Sinn, einen Wert und eine Belehrung. Nur dann kann sie zu einem Faktor des Lebens werden und vielleicht auch dem westlichen Menschen die geistigen Schätze bringen, nach denen er sich in der Verschlossenheit und Dürre seines Individualismus sehnt. (Auszüge aus „Das russische Volk und der orthodoxe Glaube”, Studium Generale, 15. Jahrgang, Heft 9, Springer-Verlag, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1962). Quatember 1964, S. 22-25 |
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