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Von der Kraft, in Gegensätzen zu leben
Zum Gedächtnis von Nikolaus von Cues († 11. 8.1464)
von Gerhard Bartning

LeerUnter den drei geheimnisvollen Geistesriesen an der Schwelle der Neuzeit, deren wir in diesem Jahre zu gedenken haben, - Nicolaus Cusanus, Michelangelo und Shakespeare - ist der Schiffer- und Weingutsbesitzersohn von der Mosel gewiß der sprödeste - der uns am mindesten einzuladen scheint, die Feste seiner Gedanken und Visionen mitzufeiern. Ist er uns nicht durch Jahrzehnte hindurch als ein Fündlein einer rückwärtsgewandten, museal bewahrenden Philosophiegeschichte, bestenfalls als interessanter Vorläufer einer modern relativierenden Weltanschauung, Kosmologie und Religionsvergleichung, häufig aber nur als ein etwas eigenbrötlerischer Frühhumanist und Renaissance-Individualist, als eine Art „unzeitige Geburt” (zu früh für die Reformation der Kirchen- und Völkerwelt des Abendlandes, zu spät für die Innigkeit der deutschen Mystik) angeboten worden?

LeerZwei Züge seines Werkes sind - einigermaßen synchron zu Bedürfnissen und Dringlichkeiten des Zeitgeistes, zu schmerzlich gefühlten Versäumnissen kirchlicher Mitverantwortung am öffentlichen Leben in den letzten Jahren wiederentdeckt worden: der „soziale” und der „ökumenische”. 1959 feierte das einzige aus dem Mittelalter herübergerettete und im Sinne des Stiftes erhaltene Sozialinstitut, das St. Nikolaushospital zu Bernkastel-Kues sein 500jähriges Bestehen. Hierüber haben wir seinerzeit berichtet. (Quatember, Osterheft 1959, S. 105.) Die Einberufung des römischen Konzils durch Johannes XXIII. mußte wiederum daran erinnern, wie die spätmittelalterliche Vision eines umfassenden Reformkonzils durch das erste große theoretische Werk des Cusanus, die „Corcordantia Catholica”, aufgegriffen, umgebildet und zugleich an seine innere Grenze geführt worden ist -, und es ist symptomatisch, daß es ein evangelischer Theologe war, der schon Jahre vor der römischen Konzilsankündigung bei einem katholischen Kirchenhistoriker seine philosophische Dissertation über die Gesellschafts- und Kirchenidee des Cusaners schrieb (Gerd Heinz-Mohr bei Joseph Lenz, „Unitas Christiana”, Paulinus-Verl. Trier 1958). Was hat es auf sich mit diesem seltsamen, vieldeutigen, uns heute neu erregenden Knotenpunkt des Geistes?

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LeerWie die Stichworte, die uns aus der „philosophischen Propädeutik” des früheren Gymnasiallehrplans der Oberstufe als „Wahrzeichen” der großen Philosophengestalten geblieben sein mögen - von Platon die „Idee des Guten” und der Eros des Schönen, von Leibniz die prästabilierte Harmonie der Monadenwesen, von Descartes das Cogito und von Kant der Kategorische Imperativ, ist manchem von Cusanus die coincidentia oppositorum, der Zusammenfall der Gegensätze geblieben. Wort und Begriff muten plausibel, fast elegant an -, fast wie die mathematische Formel, die einen umfassenden Typus von Lösungen aufschließt und repräsentiert. Wer aber bedenkt die Mühsal des Weges, die es dem Sucher und Finder der Formel gekostet hat? Eines Weges zudem, an dessen Anfang nicht die Freude an unverbindlich-spekulierendem Gedankenspiel, sondern die bittere Enttäuschung gescheiterter ost-westkirchlicher Unionsverhandlungen (Cusanus war deswegen als kurialer Bevollmächtigter nach Byzanz entsandt worden) und die Dringlichkeit einer neuen, die neu entdeckte und neu zu entdeckende Welt exakt und doch liebend durchdringenden Meditation stand?

LeerWer irgendeine der neuen schönen lateinischen oder deutschen Auswahlausgaben der „Docta Ignorantia”, der „belehrten Unwissenheit” aufschlägt und sich der klaren geometrischen Symbolfiguren erfreut, wird fast erschrecken vor der Glut des religiösen und sittlichen Reformeifers, der den späteren Kardinallegaten oft durch Tage und durch Wochen nicht aus dem Sattel des „mulus vom Dienst” ließ, vor der Unerbittlichkeit seiner Visitationen, seiner disziplinären und seelsorgerlichen Entscheidungen, vor der Herbheit seiner Kritik an der sichtbaren Gestalt der Kirche bis in die kurialen Gepflogenheiten und den gelegentlichen kurialen Schlendrian hinauf -, vor der Wachheit und Feinnervigkeit seines historischen Gewissens (die ihn als ersten an der Echtheit der sogenannten Konstantinischen Schenkung und der Isidorischen Dekretalen zweifeln ließ).

LeerSicherlich aber wird er sich der Bewunderung nicht verschließen können vor einem rasch und heftig verglühenden Menschenleben, über das sein Sekretär und geistiger Testamentsvollstrecker Peter Wimar von Erkelenz die Worte eingraben ließ: „Dilexit Deum, timuit et veneratus est ac illi soli servivit - er liebte, fürchtete und verehrte Gott, und Ihm allein diente er”. (Vgl. G. Heinz-Mohr und W. P. Eckert, „Das Werk des Nicolaus Cusanus”, Wienand-Verlag, Köln 1963, S. 19.) Dem leidenschaftlichen Anhänger des Konzilsgedankens vom Anfang des Basler Konzils wurde der spätere Verfechter des einheitstiftenden und einheitverbürgenden „Petrusamts” nur scheinbar untreu; dem Wiederentdecker von Plautus' Komödien nur scheinbar der Astronom und Kalenderreformer; dem Schüler der niederrheinischen devotio moderna und der Eckhartschen Predigten nur scheinbar der extravertiert-umsichtige Kirchen-und Sozialpolitiker; dem Meister abstraktester, den Neuplatonismus überbietender Gottesgedanken (Gott als das „Können-Sein”, als das „Nicht-Andere”) nur scheinbar der Erfinder eines reizenden und hintergründigen Gesellschaftsspiels (de ludo globi), der fromme Beter und volkstümliche Ausleger des Vaterunsers, der von Ahnungen kommender Katastrophen und Erfüllungen umgetriebene Apokalyptiker (Conjectura de ultimis diebus)!

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LeerWie bescheiden ein Philosoph von seinen Graden die Fähigkeit des menschlichen Gedankens eingeschätzt und eingeordnet hat, des Gedankens, der nur angrenzende, „anrührende”, nie erfassende Kraft haben kann angesichts des letzten Geheimnisses, wenn er auch den „Zusammenfall der Gegensätze” nur als die „Mauer des Paradieses” gelten läßt, innerhalb deren es Gott zu wohnen gefällt (vgl. G. Heinz-Mohr und P. W. Eckert a. a. O., S. 26)! - Dem, der von der Mystik des Hohen Mittelalters herkommt, muß auffallen, daß nie von der Verschmelzung des Seelengründes mit Gott, dem Einsinken der Kreatur ins Überkreatürliche, nie von einem ungeschaffenen „Fünklein” die Rede ist. Die Beziehung der Kreatur zum Creator ist immer trinitarisch bedingt, begrenzt und gehalten. Wohl heißt gelegentlich die Welt oder der Mensch ein Deus creatus, (ein geschaffener Gott), aber immer macht der Zusammenhang deutlich, daß diese Gott-Entsprechung trinitarisch vermittelt ist. Sie ist Verheißung, und sie ist Ziel kreatürlicher Selbstverwirklichung -, nie selbstgenügsamer Besitz. Als Leihgabe der göttlichen Unitrinitas, wie Cusanus so gerne sagt, ist diese Gottentsprechung sogar eindeutig christologisch, ja christo-sakramental zu beschreiben und zu interpretieren. Die Schlüsselstellung, die Cusanus dem Menschen im Kosmos zuweist - in der Nachfolge der späthellenistisch-hermetischen Literatur und vielleicht auch der Kabbalah, jedenfalls auch solcher „Außenseiter” wie Johannes Scotus Eriugena - deckt sich keineswegs mit dem hochgemuten Renaissance-Enthusiasmus des Pico della Mirandola. Sie gilt dem Ebenbild des Logos, dem Mandatar des göttlichen Weltgesetzes, das ein Gesetz der Ordnung und der überwältigenden Schönheit ist.

LeerWeit eilt der grübelnde Gelehrte und ungestüme Tatmensch dem Kopernikus und Giordano Bruno in dem Axiom voraus, daß jede gegenständliche Erkenntnis auf einem Vergleichen von letztlich inkommensurablen Größen beruht und darum nur Grenzwerte der Genauigkeit erreichen kann, also „konjektural”, d. h. vermutend, entwerfend, im „Ermessensspielraum” bleibt. Und dies hat seinen zureichenden Grund in der Seinsstruktur der Welt, die Hinweis- und Rätselcharakter behält, „änigmatisch” bleibt. Es kann also weder ein absoluter Weltmittelpunkt festgestellt werden noch kann es ihn geben. Damit bleibt die cusanische Welt eine offene, eine unverstellte, eine weniger raum- als zeit-betonte Welt. Und sie bleibt auch dort, wo sie das hohe Lied der Kirche als des sakramentalen Leibes Christi singt, völlig „unklerikal”, ja in gewissem Sinne überkirchlich - denn auch die Kirche muß sich offen halten für keimhafte göttliche Erkenntnisse, die in anderen Religionen, nicht nur der klassischen Antike (wie es den Apologeten vertraut war), sondern auch des Islam und Parsismus leben und sie in heiliger Unruhe der eschatologischen Volloffenbarung zutreiben („de Pace Fidei”). Ist dies Ausdruck einer müde relativierenden Religionsvergleichung - oder nicht vielmehr Ausdruck der brennenden, der liebenden Ungeduld, die will, daß „allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen”, bevor der Tag des Herrn uns übereile? Bis jedoch „erschienen ist, was wir sein werden”, gilt es, die Gegensätze auszuhalten und in ihnen sich zu bewähren, ja, wie Cusanus pädagogisch handfest sagen kann, in ihnen „einen festen Stand zu gewinnen” (stabiliter se figere)!

Quatember 1964, S. 112-114

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-29
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