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Vorschule des Sakraments
von Wilhelm Stählin

1. Das „Hauptwort”
2. Uhr und Zeit
3. Vom unheiligen Zählen und von heiligen Zahlen
4. Hat der Mensch einen Leib?

2. Uhr und Zeit

LeerDie Uhr ist eine unzweifelhaft nützliche Erfindung, und es ist nicht nur wünschenswert, daß unsere Uhren richtig gehen, sondern auch, daß die Menschen die Freundlichkeit haben, ihre Uhr zu beachten. Das gleiche mögen wir von dem Kalender sagen, und so unbequem die Mahnungen eines Terminkalenders sein können, so unentbehrlich sind sie doch, um den Ablauf unserer Zeit und unsere Verpflichtungen in leidlicher Ordnung zu halten.

LeerAber was ist das für eine Zeit, die wir mit Uhr und Kalender feststellen, messen und ordnen können? Wir haben oft daran erinnert, daß wir die Zeit in zwei verschiedenen Formen, als die strömende und als die kreisende Zeit, erleben. Mit dem einen meinen wir die dahineilende Zeit, die dem Strome gleicht, der nicht bergauf fließen kann, eine unaufhaltsame und nicht umkehrbare Bewegung. Die kreisende Zeit wird erfahren in den regelmäßig sich wiederholenden Rhythmen, in Tag, Mond und Jahr. Unmittelbar erfahren wir den Kreislauf des Tages und des Jahres, und weil das Jahr nicht einfach ein Vielfaches des Tages ist, vielmehr diese in der Natur gegebenen Rhythmen nicht ineinander aufgehen, darum muß jeder Kalender sich bemühen, diese Schwierigkeiten durch eine künstlich geschaffene Ordnung zu überwinden.

LeerUhr und Kalender machen den Versuch, die strömende Zeit mit Hilfe der kreisenden Zeit zu gliedern, zu messen, zu ordnen; wir fragen, „wieviel Uhr es ist”, und damit fragen, an welchem Punkt der dahineilenden Zeit wir stehen.

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LeerDie griechische Sprache hat zwei verschiedene Wörter für die Zeit, chronos, das ist die regelmäßig ablaufende, teilbare und meßbare Zeit, und kairos, das ist die erfüllte Zeit, die sich nicht nach Uhr und Kalender berechnen läßt und weder einfach der Ordnung der strömenden noch der kreisenden Zeit angehört. Die wirkliche Zeit, wie wir sie unmittelbar erleben, ist kein gleichmäßig fließender Strom, sondern ein Wildgewässer mit Wasserfällen, Stromschnellen und ruhigen Seen. Unser persönlicher Bereich kennt Schicksalsstunden, verhängnisvolle oder befruchtende Augenblicke, bei denen es keinen Sinn hätte, auf die Uhr oder den Kalender zu sehen. Und ebenso kennt die Weltgeschichte Knotenpunkte des Zeitenablaufs, Wendepunkte (oder doch eine Wende) der Zeiten. Wann solche erfüllten Stunden schicksalsträchtig auf uns zukommen, läßt sich in keiner Weise berechnen oder voraussagen. Wenn es sehr genaue und zuverlässig wirkende Chronometer, Instrumente zur Messung der Zeit, ihrer Dauer und ihrer Teile gibt, so kann es doch offenbar keinen „Kairometer” geben, weil der Kairos wohl einen geheimnisvollen Rhythmus, aber kein Metrum hat. Die biblische Geschichte ist nicht chronologisch, sondern kairologisch (wenn man dieses Wort bilden darf) interessiert; denn Kairologie ist die Heilsgeschichte der Welt.

LeerDas, was wir Gegenwart nennen, ist eine unheimliche Aufhebung der Zeit. Der Chronos kennt nämlich nur die Vergangenheit als die gewesene, und die Zukunft als die erwartete und noch verborgene Zeit. „Gegenwart” ist ein mathematischer Punkt, der nie greifbar ist. Scheinbar kann die ablaufende Zeit durch Zeitlupe oder Zeitraffer, durch Verlangsamung und Beschleunigung der Bewegung, gebändigt und in einen überschaubaren Zeitraum zusammengeholt und erlebbar gemacht werden, was unserem Blick sonst entgeht. In einem tieferen Sinn kann in der Musik, im Kultus, in der Meditation das Zeitgefühl, das Gefühl für zeitliche Dauer und zeitlichen Ablauf aufgehoben werden, und umgekehrt ist es im Traum und wohl auch in der Todesstunde, wo ein unermeßlicher Inhalt auf einen nicht mehr meßbaren Bruchteil der Zeit zusammengedrängt erfahren wird und wo also gewissermaßen die Zeit stillzustehen scheint.

LeerGibt es eine echte und wirkliche Überwindung des Zeitenablaufs oder vielmehr des messenden und rechnenden Zeitbewußtseins? Vergangenheit und Zukunft ragen immer auch in die Gegenwart und das gegenwärtige Leben hinein: Vergangenheit und vorausschauende Erwartung als Einbeziehung der Vergangenheit und der Zukunft in die Gegenwart. Dabei kann jeder von uns die aufregende Erfahrung bestätigen, daß wir in der Erinnerung kein unmittelbares Wissen um den zeitlichen Abstand haben. Was vor zehn Jahren geschehen ist, kann unserem Gedächtnis ebenso nahe und lebendig sein wie das, was vor einer Stunde geschehen ist; wir wissen verstandesmäßig um den zeitlichen Abstand, aber wir haben kein unmittelbares Gefühl dafür. Genauso kennt die echte Prophetie kein Zeitmaß des Zukünftigen: was morgen geschehen wird und was am Ende der Tage auf uns wartet, wird in eins geschaut: es kommt auf uns zu, aber wann, darüber besagt die prophetische Zukunftsschau nichts.

LeerDiese Erfahrung einer zurückschauenden oder vorausschauenden Gegenwärtigkeit ist das genaue Gegenteil jeder Flucht in Vergangenheit oder Zukunft, um der Gegenwart zu entfliehen. Im 17. Kapitel der Offenbarung St. Johannis wird von dem großen Widersacher und Gegenspieler Christi gesagt: der war und nicht ist und sein wird; das ist die Karikatur der wirklichen Zeit: eine Zeit ohne Gegenwart. Das bloß historische Interesse an dem, was gewesen ist, ist ebenso wie eine utopische Zukunftserwartung ein Symptom jenes Götzendienstes, in dem das Zeitgefühl des Menschen dem Teufel als dem Zerstörer des Kairos verfallen ist.

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LeerDie echte Aufhebung der Zeit ereignet sich im Raum des Mythos und des Kultus. Das an Uhr, Kalender und Historie gebundene Denken muß notwendig alles, was sich nicht „datieren” läßt, als unwirklich ausscheiden. Was sich nicht im Chronos abspielt, spielt sich überhaupt nicht ab. Hier ist kein Raum für Mythos oder Märchen.

LeerEs ist nicht möglich hier, sozusagen nebenbei, erschöpfend davon zu reden, was mythisches Denken ist. Es muß genug sein zu sagen, daß im Mythos die uns alle tragende und angehende Wirklichkeit in Form einer Urgeschichte erzählt und angeschaut wird. Die biblische Schöpfungs- und Paradieses-Geschichte ist das uns alle am unmittelbarsten berührende Beispiel einer solchen „Ur-Geschichte”; es hätte keinen Sinn, sie chronologisch zu fixieren („4000 vor Christus Adam und Eva”, wie es noch in meiner Jugend in biblischen Zeittafeln zu lesen war). Nach einem zeitlichen Abstand zu fragen, widerstreitet dem gegenwärtigen Charakter solcher Erzählungen. Der biblische Begriff der arché (1. Mose 1; Joh. 1, 1) meint nicht einen zeitlichen Anfang, als das erste Glied einer kontinuierlichen Reihe, sondern das principium, das allem Geschehen in der Zeit zugrunde liegt und darum immer auch gegenwärtig geschieht.

LeerIm Kultus wird die Urgeschichte Gegenwart. Das vollziehende Wort der Liturgie verbindet den gegenwärtigen Augenblick mit dem, was „im Anfang” war, und zugleich mit dem, was auf uns zukommt und schon „im Gange” ist. Sie redet von der Menschwerdung Gottes, vom Tod und der Auferstehung Christi nicht als von Ereignissen der Vergangenheit, sondern von dem Ereignis, das wohl einmal an einem bestimmten Punkt der strömenden Zeit, aber zugleich ein für allemal geschehen ist und darum auch hier und jetzt, hier und heute, an uns geschehen will. Wenn das Glaubensbekenntnis sagt exspecto vitam venturi saeculi (Ich warte auf das Leben der zukünftigen Welt), so ist diese Erwartung nicht nur Erwartung einer in unbekannter Ferne liegenden Zukunft, sondern aktuelle Bewegung auf ein Ziel hin, das eben in dieser Bewegung schon gegenwärtig ist. Liturgie ist memoria (Anamnese) und Anbruch des Künftigen, Gedächtnis und Vorwegnahme.

LeerIn diesem Sinn ist das Sakrament die immer neue Vergegenwärtigung (nicht „Wiederholung”!) des Kreuzesopfers des Herrn; wer daran teilhat, geht ein in den Tod und die Auferstehung des Herrn, wird hineingezogen in sein Opfer und hineingezogen in seine noch verborgene Herrlichkeit.

LeerDas Wort „Ewigkeit” kann diese Überwindung der strömenden wie der kreisenden Zeit nur sehr unvollkommen ausdrücken, weil es fast allgemein als unendlich lange Dauer, als Zeit ohne zeitlichen Ablauf verstanden wird, während die entsprechenden Wörter der hebräischen oder griechischen Sprache (olam und aion) die Weltalter, Urzeit und Endzeit, bezeichnen, die sich in dem gegenwärtigen Augenblick berühren, überschneiden und durchdringen. Der „Ewigkeitsgehalt” der Liturgie und insonderheit des Sakraments ist nicht Flucht in eine „Zeit ohne Zeit”, sondern es ist wirkliche Geschichte, aber eben der gegenwärtige Augenblick in einer unlöslichen Verbindung mit dem, was war und was sein wird. Sie ist ein immer neues Werk des Heiligen Geistes, des spiritus creator, und eine Vorwegnahme der himmlischen Hochzeit, die in dem Buch der Offenbarung als das Bild der letzten und endgültigen Vollendung erscheint.

WieskircheLeerIn der Wallfahrtskirche auf der Wies im Bayerischen Alpenvorland ist über dem Portal, vom Altarraum aus sichtbar, ein merkwürdiges Gemälde. An einer geschlossenen Pforte weist ein Genius in das Unerkannte, das sich jenseits dieser Pforte öffnet, während auf der anderen Seite ein müder Greis zu Boden sinkt und Sense und Stundenglas, als die Symbole der vergehenden Zeit, seiner Hand entfallen: es ist der Chronos, die Verkörperung der strömenden und verrinnenden Zeit; und über der Pforte steht das Wort aus dem Buch der Offenbarung: „Non erit tempus” - Es wird keine Zeit mehr sein (Offenb. 10, 6). Hier ist der chronos ganz aufgehoben in dem kairos, in der Zeit Gottes. In diesem Raum, in dem die strömende und kreisende Zeit wesenlos geworden ist, in dem ewigen Heute, in der Gegenwart Gottes, bewegt sich alle Liturgie, in diesem Raum allein kann das Sakrament begangen und erfahren werden.

3. Vom unheiligen Zählen und von heiligen Zahlen

LeerHat die Welt der Zahlen überhaupt etwas zu tun mit der Welt des Glaubens? Welche positive oder negative Verbindung kann bestehen zwischen der Mathematik und dem Bereich des Sakraments?

LeerIn der Bibel findet sich in dieser Hinsicht ein eigentümlicher Widerspruch, den die Überschrift dieses Aufsatzes andeutet: eine entschiedene Abneigung, ja, ein religiöses Bedenken gegen Zählen und Rechnen und zugleich eine starke Betonung der Zahlen und ihrer Geheimnisse. Es scheint, wenn man es einmal so ausdrücken darf, daß die Zahl eine vielfache und in sich widerspruchsvolle Funktion hat, und zwar keineswegs nur in der Bibel.

LeerEs gibt Dinge, die wir zählen können und zählen müssen, unser Geld und anderes, was zu unserem Besitz gehört; der Staat muß vieles zählen, die Einwohner, die verfügbaren Wohnungen, die Arbeitskräfte und Arbeitsplätze in den einzelnen Berufen. Die Kirche ist von der Notwendigkeit, in solcher Weise zu zählen, keineswegs dispensiert: sie zählt in ihrer kirchlichen Statistik die „Seelenzahl” der einzelnen Gemeinden, die Zahl der Anstalten der Inneren Mission und die darin verfügbaren Betten; sie zählt ihre eigenen Leistungen und die Opferwilligkeit der Gemeinde.

LeerIn dieser Statistik drückt sich ein Denken in Quantitäten aus, das die zählbaren und meßbaren Dinge für wert hält, gezählt und gemessen zu werden; so notwendig in vielerlei Beziehungen die Beachtung der Quantität und darum das Zählen ist, so bedenklich wird das quantitative Denken, wenn es sich zum Rang eines letzten Wertmaßstabs erhebt. Die Bibel äußert an vielen Stellen ein entschiedenes Mißtrauen gegen diesen Glauben oder vielmehr Aberglauben an die Wichtigkeit der Zahlen: im 24. Kapitel des 2. Buchs Samuelis wird erzählt, wie David - gegen den Rat seiner Generäle! - die waffenfähige Mannschaft seines Volkes zählen läßt und eben darum, um dieser Zählung willen, von Gott verworfen und gestraft wird, und von Gideon (Richter 7) wird erzählt, wie er von 32000 schließlich nur 500 übrigbehält und mit ihnen den Sieg erringt. (Als ich im Jahre 1938 in der damaligen Zeitschrift „Christentum und Leben” über diese Geschichte einen kleinen Aufsatz unter der Überschrift: „Das Geheimnis der kleinen Zahl” veröffentlicht hatte, wurde wegen dieses Aufsatzes diese Zeitschrift verboten und ich mit dem Verlust meines Amtes bedroht. Gegen die Zahl, das Zählen, durfte man nichts sagen!)

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LeerAber die Kirche sollte mißtrauisch sein gegen alles quantitative Denken. Ich will die mühsame Arbeit einer sorgfältigen kirchlichen Statistik nicht schmähen; aber man sollte die Zahlen nicht so wichtig nehmen und sich nicht durch Statistik täuschen lassen; ein starker Kirchenbesuch, eine geringe Zahl von Kirchenaustritten kann zu einer bösen Selbsttäuschung verführen, und das Wort des Herrn von den Zweien oder Dreien, die in seinem Namen versammelt sind, verrät ein ganz anderes Maß als das Maß der Zahl.

LeerDarum sollten wir uns auch durch die astronomischen Zahlen des Weltalls nicht erschrecken lassen. Wenn vor Gott tausend Jahre sind wie ein Tag, so umspannt seine Hand auch die Millionen von Lichtjahren der Sternenwelten.

LeerDas quantitative Denken gilt schließlich nur dem begrenzten Raum der sichtbaren Welt; messen, zählen und rechnen kommt an Gott nicht heran.

LeerAber schon innerhalb der Zahlenwelt selbst ist die quantitative Größe nicht die einzige, was gilt. Pythagoras (dessen Namen sich uns durch den pythagoräischen Lehrsatz eingeprägt hat) erlebte die Zahlen als innere Bewegung und als Proportion, das heißt als Ausdruck eines Verhältnisses: 1 ist die ungeteilte Einheit und Ganzheit, 2 die Teilung - die Entzweiung in Gegensätze, 3 die Möglichkeit der ersten geschlossenen Gestalt, 4 enthält zwiefache Gegensätzlichkeit, die jeder kreuzförmigen Ordnung zugrunde liegt, 5 ist die Zahl des geheimnisvollen Goldenen Schnittes; ähnliche Geheimnisse stecken in der 6, in der 7, in der 8, in der 12. Natürlich kann dieser proportionale Sinn der Zahlen von ihrem quantitativen Charakter nicht losgelöst werden; es sind Zahlengrößen, die in einer solchen Relation stehen. Aber erst durch ihre Relation zueinander gewinnen die „Größen” eine Bedeutung für die Ordnung der Welt. Man kann sich das an der Musik verdeutlichen: Auf dem Verhältnis von Zahlen, (nicht auf ihrer absoluten Größe) beruhen die Intervalle der Musik, und jede Melodie hat es mit diesem Geheimnis der Zahl nicht als quantitativer Größe, sondern als Proportion zu tun. Nur in der Frage nach der Tonhöhe (die eben z. B. bei allem liturgischen Singen, aber auch sonst nicht festgelegt ist) gewinnt dann auch die (quantitative) Zahl der Schwingungen ihre Bedeutung.

LeerVor Jahren hatte mich das Buch von Albrecht Schäffer über den Tempel der Aphaia auf Ägina sehr intensiv beschäftigt, weil darin die kosmischen Zahlengeheimnisse als das Maß der großen Bauten der antiken Welt enthüllt sind, wobei in der persischen Welt die Zahl 2, in der ägyptischen Welt die Zahl 3, in der griechischen Welt die Zahl 4 und noch verborgen die Zahl 5 eine beherrschende Rolle spielt. Hier überall ist die Zahl kein quantitativer Begriff, sondern die Chiffre für eine bestimmte Relation. Eben darauf beruht auch die platonisch-augustinische Lehre von der Musik als dem tönenden Abbild kosmischer Ordnung. Hierin ist die ebenso seltsam wirkende Meinung begründet, daß ein Staatsmann ein musikalischer Mensch sein müsse, weil er in die feierlichen Rhythmen und Proportionen, die im Kosmos walten, eingeweiht sein muß, um in dieser Welt Ordnung zu schaffen - während ein rein quantitatives Denken nur Unordnung schaffen kann.

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LeerÜber die Bedeutung der Zahl (nicht des Zählens!) in der Bibel könnte man lange und tiefsinnige Betrachtungen anstellen; Ludwig Heitmann hat im „Gottesjahr 1936” auf das Verhältnis der Zahl 3 als der Zahl der Gottheit und 4 als der Zahl der Welt und auf ihre beiden Kombinationen in der Zahl 7 und in der Zahl 12 als der Zahl der Ganzheit und Vollendung hingewiesen; er zeigt an einer Vielzahl von Beispielen, daß die Zahl 40 überall dort auftaucht, wo in den großen Wandlungen der heiligen Geschichte das Gericht und der Tod durch die Welt schreitet und eine neue Verheißung auf Erfüllung wartet; sie ist die heilige Zahl des Wartens auf eine neue Geburt. - Weil das Gotteshaus nicht bloß zweckgebundener Versammlungsraum, sondern architektonisches Gleichnisbild des Offenbarungsgeheimnisses ist, darum haben die Väter auch auf ganz bestimmte Maßverhältnisse, auch im Kirchengebäude, geachtet, auf die Zahl der Säulen und der Gewölbejoche, auf die Zahl der 4 plus 3 Stufen, die zum Altar führen, auf die Zahl der 14 (2 mal 7) Kreuzwegstationen und dergleichen mehr.

LeerVor allem hat die Verehrung der Heiligen Dreieinigkeit Gottes mit der Zahl als solcher quantitativen Größe nichts zu tun, sondern mit der inneren Bewegung, die diese Zahl in sich verbirgt: „Ehre sei dem Vater durch den Sohn in dem Heiligen Geist”. Diese heilige Dreizahl bestimmt auch die innere Struktur des Sakraments; indem hier die naturhaften Gaben des Schöpfers einbezogen werden, hat das Sakrament Anteil an der Leibhaftigkeit der menschlichen Existenz („leiblich Essen und Trinken als das Hauptstück im Sakrament”, wie es im kleinen Katechismus heißt). Aber erst die Vergegenwärtigung Christi und seines Opfers, dessen wir in dieser Feier „eingedenk” sind, und der Heilige Geist als die wirkende Gegenwart Gottes vermögen unser menschliches Reden und Handeln zu einem Sakrament zu machen und das, was ein für alle Male geschehen ist, zur verbindlichen Gegenwart zu wandeln. Und noch einmal, am Ende des Gottesdienstes, liegt der Segen für die ganze Gemeinde in diesem wirksamen Geheimnis des Dreieinigen Gottes.

LeerAus dem gleichen Grunde ist die Frage nach der rechten Zahl der Sakramente so fragwürdig, richtiger gesagt: eine Frage, die nicht wert ist, länger erörtert und beantwortet zu werden. Bis um das Jahr 1000 wußte man nur zu sagen: sacramenta sunt plurirna. Weil alles, was in der Kirche geschieht, an dem Geheimnis, am Mysterium teil hat, hat es keinen Sinn, Sakramente zu zählen: sacramentum non ponit in numero. Das Sakrament hat seinen Ort nicht im Bereich des Zählens. Erst als man im Grunde nicht mehr wußte, was ein Sakrament ist, hat man die Zahlen der Sakramente dogmatisch festgelegt, und, indem die Reformation auf Grund einer polemisch bedingten Definition des Sakraments die Zahl auf 3 und dann auf 2 reduzierte, blieb sie im Bann des gleichen fehlerhaften Denkens. Wie tröstlich, daß in den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche (Ap. Conf. Aug. Art. XIII) der sehr einsichtsvolle Satz steht: kein vernünftiger Mensch wird sich in einen Streit über die Zahl der Sakramente einlassen! Sacramentum non ponit in numero; auch das theologisch begründete Zählen bleibt ein unheiliges Zählen, das an das Geheimnis des Sakramentes nicht heranreicht; um so mehr freilich schwingt das sakramentale Leben der Kirche und auch der Vollzug der Eucharistie in dem geheimnisvollen Rhythmus der dreifaltigen Einheit.

Quatember 1964, S. 115-121

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-29
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