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„Zwischen uns die Wahrheit”
von Wilhelm Schmidt

LeerMit Verwunderung haben wir die Kunde vernommen, daß es die Wahrheit sei, welche zwischen uns stehe, uns scheide und trenne - uns, für welche von allen Betern der Vollmächtigste gebetet hat, „daß sie alle eins seien” - und nicht nur gebetet, sondern mit unbezweifelbarer Autorität bestätigt hat: „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die Du mir gegeben hast, daß sie eines seien, gleichwie wir eins sind -”, geheiligt in der Wahrheit. Mit Bestürzung haben wir das Wort gehört, die Wahrheit sei es, welche Brüder voneinander trenne - so unerbittlich, daß sie einander Brot und Segen verweigern, welche doch nicht einmal dem Gast und Fremdling (unter Heiden nicht!) verweigert werden, sondern nur dem Feind: und dem mit dem Recht der Gewohnheit nur dort, wohin noch nicht die Botschaft gedrungen ist: liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen. Was also muß sich zugetragen haben - fragen wir, in der Seele erschrocken -, welcher Tag des Zorns, welches schreckliche Gericht muß angebrochen sein, wenn die Wahrheit die Bruderschaft in Christo zerschlägt? Es wird jedermann verständlich sein, daß der Schrecken einen Ausweg sucht: indem er den Satz, die Wahrheit stehe trennend zwischen uns Christen, nach seiner Wahrheit befragt.

LeerWas auch immer selbst unter Brüdern strittig sein mag: unangefochten gilt in allen Bezirken der Christenheit der Satz, daß die Wahrheit nur eine sei - und nur eine sein kann: denn zu deutlich und eindeutig ist auf die Pilatusfrage: Was ist Wahrheit? die Antwort gegeben: „Ich bin die Wahrheit.” Und wie ein Herr, so ist nur eine Wahrheit. Gesetzt nun selbst, es gelänge aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz der Nachweis, daß ein Mensch unserer Lande, dessen Vorfahren vor 400 Jahren in einer Ortschaft lebten, deren weltliches Regiment sich - möglicherweise aus wichtigen politischen oder auch sehr wirtschaftlichen Gründen - der Reformation anschloß, daß ein solcher Mensch die Wahrheit Gottes als etwas ganz anderes erfahre als einer, dessen Vorfahren zu besagter Zeit unter einem Herrn zu leben hatten, der, aus welchen Gründen immer, lieber kaisertreu und katholisch blieb; gesetzt also selbst, es gelänge der deprimierende Nachweis, daß der Mensch sehr viel mehr als er selber - das Produkt seiner Partei sei: auch dann noch ist die Wahrheit die eine und selbige. Verschieden ist die Weise, wie wir, was wir begriffen haben, ausdrücken. Verschieden auch ist die Kunst, mit unserem Leben zu bewahrheiten, was wir als wahr erkannt. Die Wahrheit selber aber bleibt uns allen gemeinsam. Sie bleibt auch wahr, wenn wir sie selbst falsch verstehen. Denn wahr ist, was Gottes ist, nicht, was ich begriffen habe. Ach, wie wären wir arm, wenn nur das Begriffene wahr wäre!

LeerWas also zwischen uns steht, ist unser Verstand: das will ich glauben! Unser Verstand aber ist begrenzt, und diese Begrenzung ist auch uns allen gemeinsam - obwohl es da Unterschiede gibt. Aber wer will sich schon offen dazu bekennen, daß er den anderen für den Dümmeren hält? Und sei er es! Unter Christen soll nicht die Weise sein, den Irrenden auszuhungern. Sondern ihnen gebietet der Apostel: „Keiner sei wider den andern. Vergebet, wie euch vergeben ist. Nehmet euch untereinander auf, wie euch Christus aufgenommen hat zum Lobe des Vaters.”

LeerDie Wahrheit ist das Geheimnis Gottes und ist das Leben: daß sie Waffe im Bruderkrieg sein könne, spottet ihrer. Wenn die Liebe zur Wahrheit einen Hader erregt, der den heilig gespendeten, heilig gebotenen Bund christlicher Bruderschaft sprengt, dann sind weder Liebe noch Wahrheit im Spiel, sondern Eigensucht und Irrtum. Der Geist entfremdet sich der Wahrheit, wenn die Liebe zur Wahrheit gegen die Wahrheit der Liebe auftritt. In einer christlichen Theologie sind Wahrheit und Liebe nicht zu trennen. Wenn sie trennbar erscheinen, wenn es so scheint, daß um der einen willen die andere aufgegeben werden müsse, sind sie beide verwechselt: die Liebe sowohl, als auch die Wahrheit. Denn die Liebe ist die Wahrheit Gottes, und die Wahrheit ist wahrhaftig liebenswert. „Die Liebe”, sagt der Apostel, „freut sich der Wahrheit.” Und wir sind gewarnt und haben ernsten Grund, Verdacht zu schöpfen, wenn unter uns Christen der Glanz der Freude verdunkelt wird, wenn es unter uns Christen unliebenswürdig zugeht.

LeerNun ist freilich einem jeden, der bei Sinnen ist, wohl bekannt, daß unter uns Brüdern Christi - Streit herrscht um der Wahrheit willen. Und es ist auch kein rechter Zweifel daran möglich, daß der reine Spiegel, mit dem die Engel das klare Licht göttlicher Majestät widerspiegeln, unter uns Menschen zersplittert ist - mit der Einheit der Kirche zersplittert ist. Das ist ein großes Leid. Aber es wird zur Torheit, wenn wir uns aufführen wie Schulbuben, die mit Spiegelscherben, welche doch die ganze große Sonne widerstrahlen, einander blenden. Sondern unsere Sache wäre der gemeinsame Lobgesang über das helle Licht der himmlischen Sonne, welche unsere Finsternis erleuchtet. Was da ärgert, ist nicht das Licht, sondern der Mißbrauch. Was immer uns trennt: die Wahrheit kann es nicht sein. Aber der Irrtum. Was immer uns trennt: bei Sinnen sind wir erst, wenn wir uns freuen, gemeinsam, der Wahrheit.

Quatember 1964, S. 121-122

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-29
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