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„Wir müssen beten!”
von Jürgen Boeckh

LeerAuf dem John F. Kennedy-Platz vor dem Rathaus Schöneberg waren am Abend des 17. Juni Tausende von Berlinern versammelt. Hier und dort sah man aus der Menschenmenge Plakate herausragen, die eine zerrissene schwarz-rot-goldene Fahne zeigten und daneben die Worte: „Wir müssen beten.” Dieser Aufruf ging von der „action 365” aus, einer Gemeinschaft katholischer junger Männer, die sich im Anschluß an Predigten von P. Leppich an verschiedenen Orten gebildet hat, und auch in Berlin durch mehrere Arbeitsgruppen vertreten ist. Die Bezeichnung „action 365” weist darauf hin, daß die Mitglieder sich verpflichtet haben, an jedem Tag des Jahres einen Abschnitt aus der Heiligen Schrift zu lesen. Für den Abend des 17. Juni hatte die „action 365” zusammen mit der UNA SANCTA-Berlin zu einer evangelisch-katholischen Gebetsstunde in der Paul-Gerhardt-Kirche in der Nähe des Rathauses Schöneberg aufgerufen. Ein besonderes Plakat war an der Rückseite des Fahnenbildes angebracht und lud dazu ein, im Anschluß an die öffentliche Versammlung in der Stille des Gotteshauses zum Gebet zusammen zu kommen. Viele folgten nach Schluß der Veranstaltung dem Zug der Plakatträger. Etwa 1000 evangelische und katholische Christen konnten an der Gebetsstunde teilnehmen, da die benachbarte Alte Dorfkirche durch Lautsprecher angeschlossen war. Lied, Schriftlesung, Psalm, Stille und Gebet bestimmten die Stunde. Lektoren, Vorbeter und Sänger wurden von jungen Männern beider Konfessionen gestellt. Ein katholischer Priester und ein evangelischer Pfarrer hielten je eine kurze Ansprache. Unter anderem hieß es da: Es gibt sichtbare Mauern, die durch äußere Gewalt erhalten werden. Aber es gibt auch unsichtbare Mauern. Sie gehen durch Ehen und Familien, durch Häuser und Arbeitsplätze, durch Gemeinden und durch die große Christenheit. Sie einzureißen, hindert uns keine äußere Gewalt. Zwischen uns kann niemals, wie manche es behaupten, die Wahrheit stehen. Christus ist die Wahrheit. Und Christus verbindet. Wenn etwas zwischen uns steht, dann ist es die Lüge. Wir sind getrennt durch Mauern, die Menschen gebaut haben.

LeerDie Gebetsstunde war ein Zeichen dafür, daß wir miteinander beten können, obwohl in Lehre und Ordnung vieles noch zwischen uns steht.

LeerBei der Vorbereitung wurde uns deutlich, daß es nicht einfach ist, Lieder auszusuchen, die in Text und Melodie bei den katholischen und evangelischen Christen gleich sind. Der Berlin-Brandenburger Ausgabe des Evangelischen Kirchengesangbuches und dem Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Berlin sind zwar 40 Lieder gemeinsam, aber fast immer gibt es im Text oder in der Melodie oder in der Auswahl der Strophen kleine Abweichungen, die das gemeinsame Singen erschweren. Sollte es nicht möglich sein, daß bei einer Neu-Herausgabe der Gesangbücher das gemeinsame Liedgut der Konfessionen aufeinander abgestimmt wird? Auf dem John-F.-Kennedy-Platz war am gleichen Abend auch ein anderes Plakat zu sehen. Es zeigte die am Horizont verschwindende Gestalt eines bestimmten Politikers im deutschen Raum, von einem erhobenen Schaftstiefel vertrieben, und daneben die Aufschrift: „Wir müssen treten!” Einer der Bannerträger, befragt, ob dies als Gegensatz zu den Plakaten gedacht sei, die zum Beten aufforderten, antwortete: „Ja, das ist die Alternative.” Auch eine Gewerkschaftszeitung und ein Studentenblatt hielten es für nötig, gegen den öffentlichen Aufruf zum Gebet zu polemisieren. Die Öffentlichkeitsarbeit der Kirche ist offenbar nur so lange erwünscht oder geduldet, wie diese ihren eigentlichen Auftrag verschweigt! Wenn aber aus christlichen Kreisen daran Anstoß genommen wird, daß ein politischer Gedenktag zum Anlaß für das gemeinsame Gebet von evangelischen und katholischen Christen wird, sollten wir uns an die Zeit vor 25 Jahren erinnern lassen: das politische Geschehen bewegte Reinhold Schneider, als er in seinen Sonetten schrieb: „Wenn Heilige handeln und die Beter kühn / Auf offenem Markte auf die Knie fallen . . .” und „Allein den Betern kann es noch gelingen, / Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten . . .”. Diese Worte werden oft zitiert. Haben wir nicht Grund genug, als „getrennte” Christen uns durch sie zusammenführen zu lassen?

Quatember 1964, S. 173-174

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-12-03
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