|
- Unvollständige Gedanken zur Lage - von Jürgen Boeckh |
Die augenblickliche Kirchenaustrittswelle hat wenig mit Überzeugungen Einzelner zu tun. Selbstverständlich gibt es, wie auch in den vergangenen Jahrzehnten, echte Entscheidungen zum Kirchenaustritt. Für die heutige Lage ist aber, aufs ganze gesehen, ein allgemeines „Unbehagen an der Kirche” kennzeichnend. Dadurch, daß Fernsehen, Rundfunk und Presse - auch die kirchliche Presse - das Thema breit behandeln, werden viele, die von sich aus kaum den Kirchenaustritt erklärt hätten, in diesen Sog mit hineingezogen. Sehr oft wird die Kirchensteuer als Grund des Austrittes angegeben. Aber es gibt wohl nur sehr wenige, die darum austreten, weil sie ein besseres Beitragssystem befürworten. Viele sind auf den Gedanken gebracht worden, daß man hier - auf dem Wege des geringsten Widerstandes - „sparen” kann. Die meisten Ausgetretenen, ob sie die Kirchensteuer als Grund angeben oder nicht, haben sich innerlich längst von der Kirche gelöst - oder sie hatten überhaupt niemals eine Glaubensbindung im christlichen Sinne und eine persönliche Beziehung zu Kirche und Gemeinde. Zu ihrer Ablösung stehen verschiedene Modelle zur Diskussion: 1. Die (besonders amerikanisch-) freikirchliche Lösung: Die Gemeinden sind Freiwilligkeitsgemeinden. Zusätzlich zur Taufe muß jeweils die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde erklärt werden. Die Gemeindeglieder unterwerfen sich einem bestimmten gemeindebezogenen Beitragssystem und einer „Kirchenzucht”. Gesellschaftliche Aktivitäten werden von der Gemeinde oder von Gemeinde-Zusammenschlüssen getragen. Die Repräsentation im großen Kirchenverband und vor der Öffentlichkeit besteht aus hauptamtlichen Dienern der Gemeinde und anderen Gemeindegliedern. 2. Die (besonders russisch-) volkskirchliche Lösung: Die Kirchen sind Zentren gottesdienstlich-geistlichen Lebens. Jeder, der es begehrt oder für den man es begehrt, wird getauft. Die Kirche ist Kirche für das „gläubige Volk”. Es gibt kein festes Beitragssystem, sondern freiwillige Gaben im Gottesdienst. „Kirchenzucht” gibt es nur für die hauptamtlichen - oder bei weltlichem Beruf - besonders gesegneten Diener der Kirche. Aus diesen allein werden auch die Repräsentanten der Gemeinden in der Gesamtkirche und die Repräsentanten der Gesamtkirche vor der Öffentlichkeit genommen. Gemeinsam ist diesen beiden Lösungen die Trennung von Kirche und Staat und das Fehlen einer Parochialstruktur. 3. Außerdem ist folgende Lösung denkbar, in der die Kirche sich konstituiert in Gemeindezentren ohne Parochialgrenzen sowie in übergemeindlichen Bruderschaften und Dienstgruppen, deren Mitglieder alle in einem festen Engagement stehen, mit bindendem Beitragssystem und „Kirchenzucht”. Diese „Gemeinden” können auch - eventuell im Zusammenschluß - soziale und pädagogische Aufgaben übernehmen, unabhängig von staatlichen Zuschüssen. Die Kirchen sind gottesdienstlich-geistliche Zentren für alle ohne Beitragsverpflichtung, Kirchenzucht für den weiteren Kreis der Interessenten. Mitbestimmung über Gemeindeleben und Gemeindestruktur obliegt nur den Verpflichteten. Keine dieser Lösungen ist von heute auf morgen durchführbar. Je nachdem, welche Lösung Ins Auge gefaßt wird, hat die vorfindliche Gemeinde jedoch heute schon die „Weichen zu stellen”. Das bedeutet: Zu 2. Amtshandlungen der Kirchen werden unabhängig von der Parochialzugehörigkeit durchgeführt bei allen, die sie verlangen, auch bei solchen, die ihren Kirchenaustritt erklärt haben. Kinder- und Gläubigentaufen werden gespendet, wenn sie verlangt werden. Alle getauften Kinder werden zum Abendmahl zugelassen. Die gesellschaftlichen Aktivitäten der Kirchen werden entsprechend dem abnehmenden Steueraufkommen schrittweise dem Staat übergeben (Schulen, Kindergärten, diakonische Werke, Kirchhöfe). Der kirchliche Apparat wird dementsprechend allmählich verkleinert. Die einzelnen Christen werden auf ihre eigene Aufgabe und Verpflichtung zu sozialem Handeln hingewiesen und soweit als möglich dafür gerüstet. Zu 3. Vorhandene kirchliche und gemeindliche Gruppen werden überprüft, inwieweit sie Bruderschaften mit fester Bindung einschließlich Beitragssystem werden können. („Bruderschaften” ist weit zu verstehen: auch Frauen und ganze Familien können dazu gehören.) Die Gemeinderäte in einem geistlichen Zentrum schließen sich als Bruderschaften zusammen. Die Konfirmation wird nur als „Konsekration der Laien” zu einem bestimmten Dienst mit ausdrücklicher Verpflichtung gespendet. Wer sie nicht verlangt, ist als Getaufter dennoch zum Abendmahl zugelassen. Wer haupt- oder ehrenamtlich in einem Kirchenzentrum oder in einer besonderen Dienstgruppe wirkt, verpflichtet sich nicht nur im Sinne einer äußeren Ordnung, sondern ist zu geistlicher Bindung bereit. - Wer zum weiteren Kreis der Nichtkonfirmierten gehört, wird nicht durch Ordnungsvorschriften gehindert, Dienste der Kirche, wie etwa die Beerdigung, in Anspruch zu nehmen. Die Schwierigkeit der Durchführung - vorausgesetzt, daß in einer Gemeinde eine Lösung ins Auge gefaßt wird - liegt darin, daß im landeskirchlichen System, in dem die einzelnen Gemeinden verbunden sind, zur Zeit kaum eine gemeinsame Willensbildung auf eine der drei Lösungen hin zu erwarten ist. Manches spricht jedoch dafür, daß die Großkirchen in ihrer heutigen Form zerfallen, und daß unabhängig von den jetzt noch bestehenden Konfessionsgrenzen sich neue Zusammenschlüsse ergeben. Auf jeden Fall ist es heute bereits notwendig, die eigene Meinungsbildung in Angriff zu nehmen und, soweit wie möglich, ein bestimmtes Ziel in Theorie und Praxis zu verfolgen. Quatember 1971, S. 99-101 © Jürgen Boeckh |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-08 Haftungsausschluss |