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Abschied von der Kirche - und wohin ?
- Unvollständige Gedanken zur Lage -
von Jürgen Boeckh

LeerDie augenblickliche Kirchenaustrittswelle hat wenig mit Überzeugungen Einzelner zu tun. Selbstverständlich gibt es, wie auch in den vergangenen Jahrzehnten, echte Entscheidungen zum Kirchenaustritt. Für die heutige Lage ist aber, aufs ganze gesehen, ein allgemeines „Unbehagen an der Kirche” kennzeichnend. Dadurch, daß Fernsehen, Rundfunk und Presse - auch die kirchliche Presse - das Thema breit behandeln, werden viele, die von sich aus kaum den Kirchenaustritt erklärt hätten, in diesen Sog mit hineingezogen. Sehr oft wird die Kirchensteuer als Grund des Austrittes angegeben. Aber es gibt wohl nur sehr wenige, die darum austreten, weil sie ein besseres Beitragssystem befürworten. Viele sind auf den Gedanken gebracht worden, daß man hier - auf dem Wege des geringsten Widerstandes - „sparen” kann. Die meisten Ausgetretenen, ob sie die Kirchensteuer als Grund angeben oder nicht, haben sich innerlich längst von der Kirche gelöst - oder sie hatten überhaupt niemals eine Glaubensbindung im christlichen Sinne und eine persönliche Beziehung zu Kirche und Gemeinde.

LeerDas Unbehagen an der Kirche läßt sich zu einem guten Teil durch eine unevangelische Überschätzung der Kirche erklären, die sowohl bei ihren offiziellen Repräsentanten als auch bei christlichen und nichtchristlichen Kritikern kirchlicher Institutionen zu beobachten ist. Während diese von der Kirche quasi Vollkommenheit im Eintreten für Gerechtigkeit - gesellschaftspolitisch verstanden - fordern, haben jene seit dem 2. Weltkrieg im Namen der ganzen Kirche sprechen zu können gemeint, obwohl ihre - zum großen Teil wichtigen - Erkenntnisse weder in den vorfindlichen Gemeinden noch etwa in dem weiteren Kirchenvolk ihre „Deckung” hatten. Die Überschätzung der Kirche zeigt sich aber besonders darin, daß nicht nur „außerhalb”, sondern auch „innerhalb” der Kirche mehr von ihren Strukturen und ihren Aktivitäten die Rede ist als von Jesus, dem Herrn der Kirche, und vom Glauben des Einzelnen.

LeerHinter der ersten Kirchenaustrittswelle vor dem 1. Weltkrieg stand das bewußte Freidenkertum. Die zweite Welle nach dem 1. Weltkrieg wurde durch die Auflösung der Symbiose „Thron und Altar” hervorgerufen - nachdem vorher im deutschen Protestantismus das Staatskirchentum eine absolute Selbstverständlichkeit gewesen war. Die dritte Welle, in der zweiten Hälfte des „Dritten Reiches” hatte wiederum weltanschauliche Gründe, wobei viele sich wie heute dem allgemeinen Trend anschlossen oder gegen ihr Gewissen dem politischen Druck nachgaben. Die jetzige Austrittswelle ist Symptom der Auflösung einer Volkskirche.

LeerDer Mangel der meisten Struktur-Reformpläne liegt darin, daß sie innerhalb des Status quo bleiben; dadurch, daß man alles auf einmal haben oder behalten möchte:

LeerDas Parochialsystem und die lebendige, menschlich miteinander verbundene Gemeinde; die Kirchensteuer und die Freiwilligkeit; die Verschränkung mit der Gesellschaft und die Christlichkeit der Gemeinde; die Zuschüsse des Staates und die Selbständigkeit der Kirche; die Demokratisierung getaufter Kirchensteuerzahler und die mündige Gemeinde der Glaubenden.

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LeerDie Volkskirche - mit einigen Kennzeichen der früheren Staatskirche - ist bei uns am Ende.

Zu ihrer Ablösung stehen verschiedene Modelle zur Diskussion:

Leer1. Die (besonders amerikanisch-) freikirchliche Lösung:

Die Gemeinden sind Freiwilligkeitsgemeinden. Zusätzlich zur Taufe muß jeweils die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde erklärt werden. Die Gemeindeglieder unterwerfen sich einem bestimmten gemeindebezogenen Beitragssystem und einer „Kirchenzucht”. Gesellschaftliche Aktivitäten werden von der Gemeinde oder von Gemeinde-Zusammenschlüssen getragen. Die Repräsentation im großen Kirchenverband und vor der Öffentlichkeit besteht aus hauptamtlichen Dienern der Gemeinde und anderen Gemeindegliedern.

Leer2. Die (besonders russisch-) volkskirchliche Lösung:

Die Kirchen sind Zentren gottesdienstlich-geistlichen Lebens. Jeder, der es begehrt oder für den man es begehrt, wird getauft. Die Kirche ist Kirche für das „gläubige Volk”. Es gibt kein festes Beitragssystem, sondern freiwillige Gaben im Gottesdienst. „Kirchenzucht” gibt es nur für die hauptamtlichen - oder bei weltlichem Beruf - besonders gesegneten Diener der Kirche. Aus diesen allein werden auch die Repräsentanten der Gemeinden in der Gesamtkirche und die Repräsentanten der Gesamtkirche vor der Öffentlichkeit genommen.

LeerGemeinsam ist diesen beiden Lösungen die Trennung von Kirche und Staat und das Fehlen einer Parochialstruktur.

Leer3. Außerdem ist folgende Lösung denkbar, in der die Kirche sich konstituiert in Gemeindezentren ohne Parochialgrenzen sowie in übergemeindlichen Bruderschaften und Dienstgruppen, deren Mitglieder alle in einem festen Engagement stehen, mit bindendem Beitragssystem und „Kirchenzucht”. Diese „Gemeinden” können auch - eventuell im Zusammenschluß - soziale und pädagogische Aufgaben übernehmen, unabhängig von staatlichen Zuschüssen. Die Kirchen sind gottesdienstlich-geistliche Zentren für alle ohne Beitragsverpflichtung, Kirchenzucht für den weiteren Kreis der Interessenten. Mitbestimmung über Gemeindeleben und Gemeindestruktur obliegt nur den Verpflichteten.

LeerKeine dieser Lösungen ist von heute auf morgen durchführbar. Je nachdem, welche Lösung Ins Auge gefaßt wird, hat die vorfindliche Gemeinde jedoch heute schon die „Weichen zu stellen”. Das bedeutet:

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LeerZu 1. Die Kirchenaustrittsbewegung wird als „Gesundschrumpfung” der Kirche weder bedauert noch aufzuhalten versucht (das schließt nicht aus, daß man Einzelnen nachgeht, die aus Gewissensgründen austreten). Die ausschließenden Bestimmungen der kirchlichen Lebensordnungen werden radikal angewandt, unter Umständen werden auch Gemeindeglieder ausgeschlossen. Die (de facto-) Gemeindeglieder werden zu festen Beiträgen zusätzlich zur Kirchensteuer verpflichtet (etwa Abgabe an die Gemeinde in Höhe der offiziellen Kirchensteuer). Die Kindertaufe wird nur als Ausnahme von der Regel (Glaubenstaufe) gespendet. Die gesellschaftlichen Aktivitäten der Kirchen werden allmählich auf jenes Maß reduziert, wie es auch ohne staatliche Zuschüsse und Kirchensteuer der nichtkirchlichen Massen gehalten werden könnte. Zur Zeit noch überschüssige Kirchensteuergelder werden für Entwicklungshilfe und ähnliches verwendet.

LeerZu 2. Amtshandlungen der Kirchen werden unabhängig von der Parochialzugehörigkeit durchgeführt bei allen, die sie verlangen, auch bei solchen, die ihren Kirchenaustritt erklärt haben. Kinder- und Gläubigentaufen werden gespendet, wenn sie verlangt werden. Alle getauften Kinder werden zum Abendmahl zugelassen. Die gesellschaftlichen Aktivitäten der Kirchen werden entsprechend dem abnehmenden Steueraufkommen schrittweise dem Staat übergeben (Schulen, Kindergärten, diakonische Werke, Kirchhöfe). Der kirchliche Apparat wird dementsprechend allmählich verkleinert. Die einzelnen Christen werden auf ihre eigene Aufgabe und Verpflichtung zu sozialem Handeln hingewiesen und soweit als möglich dafür gerüstet.

LeerZu 3. Vorhandene kirchliche und gemeindliche Gruppen werden überprüft, inwieweit sie Bruderschaften mit fester Bindung einschließlich Beitragssystem werden können. („Bruderschaften” ist weit zu verstehen: auch Frauen und ganze Familien können dazu gehören.) Die Gemeinderäte in einem geistlichen Zentrum schließen sich als Bruderschaften zusammen. Die Konfirmation wird nur als „Konsekration der Laien” zu einem bestimmten Dienst mit ausdrücklicher Verpflichtung gespendet. Wer sie nicht verlangt, ist als Getaufter dennoch zum Abendmahl zugelassen. Wer haupt- oder ehrenamtlich in einem Kirchenzentrum oder in einer besonderen Dienstgruppe wirkt, verpflichtet sich nicht nur im Sinne einer äußeren Ordnung, sondern ist zu geistlicher Bindung bereit. - Wer zum weiteren Kreis der Nichtkonfirmierten gehört, wird nicht durch Ordnungsvorschriften gehindert, Dienste der Kirche, wie etwa die Beerdigung, in Anspruch zu nehmen.

LeerDie Schwierigkeit der Durchführung - vorausgesetzt, daß in einer Gemeinde eine Lösung ins Auge gefaßt wird - liegt darin, daß im landeskirchlichen System, in dem die einzelnen Gemeinden verbunden sind, zur Zeit kaum eine gemeinsame Willensbildung auf eine der drei Lösungen hin zu erwarten ist. Manches spricht jedoch dafür, daß die Großkirchen in ihrer heutigen Form zerfallen, und daß unabhängig von den jetzt noch bestehenden Konfessionsgrenzen sich neue Zusammenschlüsse ergeben. Auf jeden Fall ist es heute bereits notwendig, die eigene Meinungsbildung in Angriff zu nehmen und, soweit wie möglich, ein bestimmtes Ziel in Theorie und Praxis zu verfolgen.

Quatember 1971, S. 99-101
© Jürgen Boeckh

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-08
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