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Aus Kirchberg
Hans Carl von Haebler

LeerIch sitze am offenen Fenster meines Zimmers in der Klosterschenke und sehe über die noch vereisten Fischteiche hinweg auf den gegenüberliegenden Waldhang, aus dem am frühen Morgen die Rehe heraustreten. Die Vögel zwitschern, die Spechte hämmern und läuten.

LeerEine geistliche Woche liegt hinter mir. Die Gäste sind abgereist. Ich bleibe noch einige Tage hier und kann ausklingen lassen, was ich gehört und erlebt habe. Wer irgend kann, sollte das tun, auch dann, wenn er einen oder zwei Urlaubstage daran geben muß. Es gibt eilige Leute, die reisen nachts an, tagen bis in die Nacht hinein und schwirren bei einbrechender Nacht wieder auseinander, ohne die Nase an die Luft gesteckt zu haben. Natürlich: Sie haben Termine wahrzunehmen, sie sind zu Hause kaum zu entbehren und haben womöglich noch Arbeitspapiere mitgebracht, um die Tagungspausen auszunutzen. Ein Waldspaziergang wäre für sie ein kaum zu verantwortender Luxus. Aber es ist eben doch ein großer Unterschied, ob ich nach einer solchen Erfrischung die Nonnenempore zum Stundengebet aufsuche oder ob ich eine Sitzung unterbreche, um die Gebetsordnung einzuhalten. Um unserer leiblichen und seelischen Gesundheit willen sollten wir, wenn wir schon die weite Reise nach Kirchberg machen, auch in das Leben der Natur eintauchen, die unser Kloster umgibt.

LeerDie Veranstaltung, an der ich teilnahm, war eine Retraite, zu der Pfarrer Walter Stökl unter der Überschrift „Fasten mit gesalbtem Angesicht” eingeladen hatte. Rund 25 Gäste waren der Einladung gefolgt, Alte und Junge, Männer und Frauen aus dem ganzen deutschen Sprachgebiet. Viel mehr hätten es nicht sein dürfen; denn bei solchen Wochen muß ja der Leiter Kontakt zu den einzelnen Gästen haben, die nicht gekommen sind, um zu diskutieren, sondern um sich Rat zu holen, aufzulockern und ausrichten zu lassen. Es soll hier nicht das Lob Br. Stökls gesungen werden, aber wie der 74jährige am Vorabend seines goldenen Priesterjubiläums seinen Dienst in fröhlicher Bedürfnislosigkeit und gelöster Selbstzucht verrichtete - das war bereits eine Illustration des Themas, das er sich gestellt hatte. Von früh sieben Uhr an nahm er Beichten ab, 8 Uhr feierte er die Messe. Vormittags und nachmittags stellte er - nach anglikanischer Praxis - Meditationsaufgaben, nannte die einschlägigen Bibelstellen und gab die nötigen Winke zur Selbstbesinnung. Vor der Komplet noch eine Gruppenmeditation.

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LeerIn den Pausen nahm er sich spazierengehenderweise der einzelnen Teilnehmer und ihrer Fragen an. Daß er für diese Tage auch während der Mahlzeiten Schweigen anbefohlen hatte, mag den einen oder anderen hart angekommen sein, gehörte aber auch zum Thema: Fasten durch Schweigen. Die alte Übung, während des Essens vorzulesen, wurde wieder ausprobiert und fand - von einer Ausnahme abgesehen - allgemein Anklang. Voraussetzung ist freilich die richtige Auswahl der Lektüre - keine schwere oder aufregende Kost! - und die kräftige Stimme des Vorlesers, die das lästige Klappern mit Tellern und Eßbestecken übertönt.

LeerZum Schluß noch ein Wort zum Thema: Fasten im biblischen Sinne ist etwas anderes als die Fastenkuren, denen man sich auf Anraten des Arztes unterzieht, um im Wohlstand leben zu können. Das leibliche Fasten hat auch eine geistige Dimension, weil Leib, Seele und Geist im Menschen eine Einheit bilden, die nur durch ein abstrahierendes Denken aufgelöst werden kann. Hierüber lese man nach in dem Bändchen „Beten und Fasten”, das Paul Rohleder geschrieben hat und das in Kirchberg zum Preise von DM 1,- bezogen werden kann. Diese Schrift, die einen umfassenden Überblick über Geschichte und Sinn des Fastens gibt, möge den Leser ermutigen, einmal an dem 14tägigen Fasten teilzunehmen, das Kirchberg von Zeit zu Zeit, unter Zuziehung eines erfahrenen Arztes, anbietet.

LeerIn der dreitägigen Retraite ließ sich ein solches Fasten natürlich nicht durchführen. Hier ging es um die rechte Fastengesinnung, wie sie in der Bibel Alten und Neuen Testaments einem Fasten entgegengestellt wird, das der Mensch sich als Verdienst anrechnet: Fasten im Schweigen (Jesus schweigt, wo Reden seinen Sinn verloren hat); Fasten im Tun (Jesus verzichtet auf Gewaltanwendung); Fasten aus Reue (ein Fasten, das weh tut. Ps. 35,13); Fasten als Vorbereitung und Unterstützung des Gebets im Kampf gegen die Dämonen (Matth. 17,21); Fasten als Erfahrung, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt; Fasten mit gesalbtem Angesicht (Matth. 6,16) in Erwartung des kommenden Herrn (des Bräutigams, vgl. Matth. 9,14 f.). Mit diesen Texten und Bildern wurden die Teilnehmer in ihre Zimmer entlassen, um über sie nachzudenken und sie in ihr eigenes Leben zu übersetzen. Eine Fragestunde und ein Abendmahl in der Tischgemeinschaft schloß die Retraite ab.

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LeerAls ich abreiste, hatte sich bereits ein neuer Kreis von Besuchern eingefunden, die mit Dekan Karl Knoch der Frage nachgehen wollten, „wie wir unsere Krankheit und schweren Schicksale, die menschlichen Grausamkeiten und Naturkatastrophen mit unserer Erkenntnis über das Wesen Gottes zusammenbringen können”. Ich habe nur den Anfang der Tagung miterlebt und nicht mehr erfahren, welche Antwort gefunden wurde. Ich hätte keine geben können. Das Leid auf Erden gehört wohl zu den Geheimnissen, die über dieses Leben hinausreichen und die Gott sich vorbehalten hat. Aber ich frage mich, was des Menschen Leben ohne Leid wäre.

LeerDoch nicht hiervon wollte ich reden. Was mir auffiel, war, daß fast nur alte Damen der Einladung gefolgt waren. Alte Damen stehen heute nicht hoch im Kurs. Sie haben keine große Zukunft mehr vor sich. Aber sie wissen als Mütter, Schwestern, Fürsorgerinnen und Lehrerinnen, als Frauen, die besonders schwere Zeiten durchgemacht haben, vermutlich mehr vom Leid auf Erden als diejenigen, die zur Zeit gerade ihre Jugend absolvieren, und es hätte für diese schon etwas herausspringen können, wenn sie an dem Gespräch beteiligt gewesen wären.

LeerDie Generationen kapseln sich mehr und mehr gegeneinander ab. Kirchberg bietet die Möglichkeit, daß sie sich zusammenfinden und zur Wiederherstellung eines vollständigen Menschenbildes gelangen. Möchte von dieser Möglichkeit mehr Gebrauch gemacht werden als bisher.

Quatember 1971, S. 122-123

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-08
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