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Ein tiefenpsychologischer Beitrag zur Deutung der Taufe
Helmut Barz

LeerWie hat sich in den letzten 15 Jahren die Atmosphäre des Gespräches zwischen Theologie und Psychologie verändert! C. G. Jung mußte 1954 (in „Von den Wurzeln des Bewußtseins” p. 580) folgendes schreiben: „Ich glaubte, Naturwissenschaft im besten Sinne zu treiben, Tatsachen festzustellen, zu beobachten, zu klassifizieren, kausale und funktionale Zusammenhänge zu beschreiben, um zum Schlüsse zu entdecken, daß ich mich in einem Netzwerk von Überlegungen verfangen hatte, welche weit über alle Naturwissenschaft hinaus in das Gebiet der Philosophie, der Theologie, der vergleichenden Religionswissenschaft und der Geistesgeschichte überhaupt reichen. Dieser ebenso unvermeidliche wie bedenkliche Übergriff hat mir nicht geringe Besorgnis gemacht.”

LeerHeute kann man die folgende Arbeit, die den Versuch unternimmt, die Taufe vom Standpunkt der Jung'schen Psychologie aus zu deuten, nicht nur ohne Entschuldigung für einen „bedenklichen Übergriff” vorlegen, sondern man darf sogar hoffen, mit dieser Arbeit eine bescheidene Antwort auf einen vehementen theologischen Appell zu geben: „Zur synoptischen Deutung von Mythos, Symbol und Religion” hat Ulrich Mann in den „Theogomischen Tagen” die vier „Deutungswissenschaften” Religionsphilosophie, Religionswissenschaft, Tiefenpsychologie und Theologie aufgerufen und dabei sowohl die Überschneidung, als auch die Selbständigkeit der vier Deutungsbereiche klar gewürdigt.

LeerWir wollen uns in dieser Arbeit auf unseren Bereich beschränken, betrachten also die Taufe als eine komplexe symbolische Handlung, und versuchen, die einzelnen Symbole tiefenpsychologisch zu deuten. Daß diese Deutungen theologisch „falsch” sind, soll uns dabei nicht stören; im Quartett der Deutungswissenschaften, von dem Ulrich Mann spricht, hat zwar jeder auf die drei anderen Stimmen zu hören, aber er muß doch seine eigene Stimme spielen, wenn es zur Harmonie kommen soll. Harmonie wäre in diesem Falle erreicht, wenn die tiefenpsychologische Deutung der Taufe deren theologisches Verständnis bereichern oder gar beleben könnte. Paul Tillich hat - sogar in engem thematischen Zusammenhang mit der Taufe - auf diese Möglichkeit hingewiesen, als er in einem Aufsatz „Das Wasser”, der im „Gottesjahr” 1932 erschien, fragte, ob nicht für uns der „Zugang zu den sakralen Elementen verlorengegangen ist oder nur auf Umwegen der Mythenforschung und Psychoanalyse wieder entdeckt werden kann”.

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LeerWenn wir nach der symbolischen Bedeutung des Wassers suchen, betrachten wir das Wasser, im Sinne von Tillich, nicht „symbolistisch”, wir fragen also nicht: für was könnte das Wasser ein Zeichen sein, sondern wir betrachten es (wieder in Tillichs Sinn) „realistisch”, das heißt, wir fragen nach seiner „natürlichen Mächtigkeit”, durch die es geeignet ist, „Träger einer sakralen Mächtigkeit” zu werden.

LeerDann stellt sich das Wasser als Ursprung und Bedingung des Lebens dar, zugleich aber als leben-vernichtend, tödlich. Es ist ein Element ständiger Wandlung, in sich selbst formlos, aber jeder Form sich anschmiegend. Es ist das ständig Bewegte, selbst noch im Stillstand von jedem Windhauch Gekräuselte, es ist im Lichte schillernd, in der Dunkelheit leuchtend. Seine Tiefe ist abgründig lockend, seine strömende Bewegung mitreißend. Es in sich aufzunehmen, ist belebend, von ihm überschwemmt zu werden, kann den Tod bedeuten. Es vermag die ihm sich nähernde Form zu spiegeln, aber auch eine unheimlich auflösende Kraft ist ihm zu eigen. Es gebiert aus sich heraus ständig Neues, nimmt aber auch alles in sich zurück. Es ist anziehend und wegstoßend zugleich, klar und trübe im Wechsel, sanft und wild in unberechenbarer Wandlung.

LeerZur „realistischen” Betrachtungsweise des Wassers gehört es nun aber auch weiter zu fragen, welche „sakralen Mächtigkeiten” denn diese „natürliche Mächtigkeit” des Wassers mit sich trägt oder nach sich zieht.

LeerWir fragen also bei der Religionswissenschaft (einer Stimme des Mann'schen Quartettes) nach den sakralen Bedeutungen des Wassers im Laufe der Menschheitsgeschichte.

LeerDa hören wir, daß das Wasser als „Urstoff”, aus dem alles andere entsteht, in ungezählten Kosmogonien auftaucht, daß aber auch das Sintflut-Motiv nahezu auf der ganzen Erde erscheint. Diese weltweite mythische Erfahrung, daß im Element des Wassers „die Kosmogonie wiederkehrt in der Eschatologie” (Friedrich Heiler, „Erscheinungsformen und Wesen der Religion”, p. 41) findet sich in knappster Formulierung bei Angelus Silesius: „Die Gottheit ist ein Brunn, aus ihr kommt alles her, und läuft auch wieder hin, drum ist sie auch ein Meer.”

LeerDie Sintflut bedeutet aber nie endgültige Vernichtung des (menschlichen) Lebens, sondern mit den allermeisten Sintflut-Mythen ist eine andere Qualität des Wassers verknüpft: seine reinigende und damit wiederbelebende Funktion. Die meisten Sintfluten bedeuten Neubeginn, Wiedergeburt, Stirb und Werde der Menschheit.

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LeerDiese beiden Grundbedeutungen, die das sakrale Wasser für die Menschheit hat, hat es in sehr vielen Religionen auch für den einzelnen. So stehen Zeugung und Geburt sehr oft unter dem Schutz von Wasser-Dämonen oder -Göttinnen, und noch heute bei uns wird mancherorts den Kindern erzählt, daß die Neugeborenen aus „Kinderteichen” oder „Bubenquellen” geholt würden. Hierher gehören auch die auf der ganzen Erde zu findenden Motive des Lebenswassers, der Heilquellen, der Jungbrunnen etc. - bis hin zu Kneipp-Kuren und anderen „balneologischen” Anwendungen des Wassers in der heutigen Medizin.

LeerAuch die Gestorbenen behalten in vielen Kulten eine enge Beziehung zum Wasser: besonders in wasserarmen Ländern muß „der Durst der Toten” durch Libationen (Trankopfer) gestillt werden (vgl. Lukas 16, 24) oder sie müssen gar im Wasser „gelöst” werden, um neu „aufkeimen” zu können.

LeerDie Menschheit als Ganzes wie auch der einzelne Mensch durchlaufen also gemäß der mythischen Erfahrung einen Kreis, der im Wasser beginnt und im Wasser endet.

LeerDas Wasser hat aber auch eine ganz ausgeprägte Beziehung zu allen mythischen oder magischen Wandlungen - natürlich auf Grund seiner eigenen Wandelbarkeit. Die vielen griechischen Götter oder Dämonen, die die Fähigkeit des Sich-Verwandelns besitzen (Poseidon, Proteus, Nereus, Acheloos, Thetis, Metis, Nemesis und viele andere), stehen alle in engster Beziehung zum Wasser. Auch in vielen Märchen von allen Teilen der Erde ist die verwandelnde Kraft des Wassers bezeugt: man denke an „Brüderchen und Schwesterchen”, wo der Wassertrunk verwandelt, oder an die vielen Verwandlungen durch Wasserbesprengung, die in Tausendundeinernacht vorkommen.

LeerVerwandt mit der verwandelnden Kraft des Wassers ist seine Nähe zum Orakelwesen und seine Fähigkeit, prophetische Gaben zu verleihen. Sibyllen und Propheten haben ihren Sitz häufig bei Quellen oder Grotten, und oft gehört auch der Trank des Heiligen Wassers zu den Vorbereitungen der Prophezeienden.

LeerDas Wasser enthält überhaupt geistige Kräfte. Erinnert sei an die zahlreichen griechischen Begeisterungs- und Musenquellen, die den Trinkenden mit göttlichem Geist aus der Tiefe erfüllten, oder an jenen babylonischen Gott Oannes, der sich, halb Mensch, halb Fisch, aus dem Meere erhob und den Babyloniern ihre ganze Kultur, samt Schrift und Astrologie, aus dem Wasser brachte.

LeerDarin zeigt sich übrigens, daß es verfehlt wäre, das Wasser als nur weibliches Urelement zu betrachten. Zwar überwiegen auf der ganzen Erde die mütterlich-weiblichen Aspekte des Wassers, aber als „Urwasser” der altägyptischen Kosmogonie zum Beispiel enthielt es alle weiblichen und männlichen Keime zu gleicher Zeit in sich.

LeerAuch noch in anderer Hinsicht ist das Wasser ambivalent: es kann nicht nur prophetische und geistige Gaben verleihen, sondern es vermag den Geist auch zu verwirren, zu umnachten: der Wahnsinnige ist auf Griechisch der „von den Nymphen Ergriffene”.

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LeerWir wollen jetzt weiterfragen, in welchen Riten oder Kulten denn nun diese sakrale Mächtigkeit des Wassers gestaltet und begangen wurde. Indem wir das tun, reden wir nicht einer „ritualistischen” Betrachtungsweise des Wassers das Wort. Aus dem bisher Gesagten geht bereits hervor, daß auch die rituelle Verwendung des Wassers durchaus „realistisch”, nämlich auf seine „natürliche Mächtigkeit” bezogen ist, die es befähigt, „Träger einer sakralen Mächtigkeit” zu werden.

LeerDen vornehmsten Platz unter allen Wasserriten nimmt zweifellos das Tauchbad bzw. seine abgeschwächte Form, die kultische Waschung, ein. Wenn man die kultischen Waschungen grundsätzlich zu den Tauchbädern hinzurechnen will (was sicher nicht ganz gerechtfertigt ist, was man aber angesichts der Form des heutigen christlichen Taufaktes, der doch den Anspruch erhebt, „Taufe”, und das heißt: Tauchbad zu sein, kaum unterlassen kann), dann kommt man zu der Feststellung, daß es kaum eine Religion gab oder gibt, in der nicht in irgendeiner Form „getauft” würde.

LeerUnd nicht nur Menschen reinigen sich vor sakralen Vollzügen oder nach irgendwelchen Verunreinigungen im Wasser, sondern auch Götterbilder werden ins Wasser eingetaucht, damit sich ihre positiven Kräfte hier regenerieren können. Und das gilt nicht etwa nur für indische, mexikanische, phrygische, phönizische, kretische Götterstatuen, sondern so verfuhr man auch mit dem Kruzifix, mit Marien-und Heiligenbildern in christlichen Landen, und das, trotz des verständlichen Widerstandes der Kirchen, bis in unser Jahrhundert hinein.

LeerDie christliche Taufe ist also, religionswissenschaftlich betrachtet, eine unter vielen Typen des meistverbreiteten Wasser-Ritus: eben des Tauchbades.

LeerDie einfache Tatsache, daß in den Jahrhunderten vor und nach der Zeitwende kultische Tauchbäder und Waschungen im ganzen Mittelmeerraum und Vorderen Orient so ungemein verbreitet waren, sollte eigentlich den müßigen Streit überflüssig machen, ob die christliche Taufe nur bis auf Johannes den Täufer zurückgehe, ob sie aus der Proselyten-Taufe abzuleiten sei oder ob gar (horribile dictu!) außerjüdische Einflüsse anzunehmen wären; religionsgeschichtlich dürfte diese Frage längst überholt sein, tiefenpsychologisch braucht man sie gar nicht erst zu stellen. Das hat Erich Neumann knapp und klar formuliert: „Wir werden uns daran gewöhnen müssen, die Beeinflussungs- wie die Wandertheorie als sekundär zu betrachten und sie zu ersetzen durch die Tatsache, die Jung entdeckt hat: daß die Archetypen als wirksame Mächte und Bilder in jedem Menschen vorhanden sind und überall da, wo die Schicht des Kollektiven Unbewußten belebt wird, von innen her spontan auftauchen.” („Ursprungsgeschichte des Bewußtseins”, p. 135.)

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LeerDamit gelangen wir zum psychologischen Teil unseres Bemühens. Bisher haben wir ja nur religionsgeschichtliches Material zusammengetragen, das uns die sakrale Mächtigkeit des Wassers und ihre Ausformung in Wasser-Riten vor Augen stellen sollte.

LeerJetzt fragen wir: gibt es eine Möglichkeit, innerhalb der Seele eine Entsprechung für jene Mächtigkeit zu finden, die sich phänomenologisch und religionswissenschaftlich als Mächtigkeit des Wassers darstellt? Mit anderen Worten: ist das Wasser repräsentatives Symbol für etwas Seelisches, das früher nicht anders als im Wasser-Symbol erfahren werden konnte, während wir ihm heute vielleicht einen psychologischen Namen geben können?

LeerWer nur ein wenig von Analytischer Psychologie weiß, wird bemerkt haben, daß sämtliche aufgezählten Eigenschaften des Wassers (und wir meinen nicht, irgendwelche wesentlichen ausgelassen zu haben) auch auf den Zentralbegriff der Analytischen Psychologie zutreffen, nämlich: auf das Kollektive Unbewußte. Das Kollektive Unbewußte ist Mutterboden und Urquell allen psychischen Lebens. Es ist der Urstoff, die prima materia, aus der heraus sich, wie in den Kosmogonien aus dem Wasser, alles entwickelt. Männliche und weibliche Qualitäten sind im Kollektiven Unbewußten gleichzeitig enthalten, wenn auch die weiblichen Aspekte quantitativ überwiegen.

LeerAlles bewußte seelische Leben ist auf periodische Rückkehr in das Unbewußte angewiesen, wenn es nicht verdorren soll: „Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande oder im Bewußtsein verharren; er muß sich wieder ins Unbewußtsein flüchten, denn darin liegt seine Wurzel”, wie erstaunlicherweise Goethe am 5. 8. 1810 zu Riemer sagte. Dem entsprechen die heilenden, regenerierenden Kräfte des Wassers, die, wie wir gesehen haben, Menschen und Götterbildern zugute kommen.

LeerDie Beziehung des Wassers zum Orakelwesen und zur Prophetie entspricht genau der Eigenschaft des Unbewußten, daß es sich so gut wie nie diskursiv, sondern fast immer in der orakelhaften Sprache der Träume äußert.

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LeerDas Wasser als das dauernd seine Form wandelnde Element und damit als Mittel der Verwandlung und als Sitz so vieler sich wandelnder Götter und Dämonen: das ist fast wie eine Beschreibung des Kollektiven Unbewußten, das der Ursprung aller seelischer Wandlungsprozesse ist und das den „Sitz” der Archetypen darstellt, jener numinosen Mächte, die in fortwährender Wandlung begriffen sind und deren Wandlungsreihen die Seele durchläuft, wenn sie im Individuationsprozeß begriffen ist.

LeerAber die negativen Eigenschaften des Wasser? Seine Beziehung zu den Toten, zum Wahnsinn? Seine überschwemmende und damit todbringende Übermacht? Nun, wenn man überhaupt versuchen will, eine Hypothese über die „Entstehung” des Kollektiven Unbewußten aufzustellen (was immer unzulänglich bleiben wird, da es letztlich etwas Absolutes, Vorgegebenes, nicht mehr Hinterfragbares darstellt), so kommt man dahin, daß das Kollektive Unbewußte wenigstens teilweise aus der Summe der Erfahrungen unserer Ahnen besteht, daß also in ihm - wie mythologisch im Wasser - die Toten „gelöst” sind. Auch sind wir immer wieder dazu gehalten, den „Durst der Toten” zu löschen, das heißt, uns auf unsere Ahnen zurückzubesinnen, ihnen Energie zuzuwenden, unbewußte seelische Kraft für sie zu vergießen.

LeerUnd was die überschwemmende, zerstörerische Übermacht des Wassers und seine den Wahnsinn bringenden Bewohner angeht: wer im Kollektiven Unbewußten ertrinkt, ist seelisch (und oft auch körperlich) vom Tode bedroht, was am deutlichsten in der Schizophrenie zum Ausdruck kommt, die in ihrem psychologisch faßbaren Aspekt ein „Überschwemmtwerden” vom Unbewußten ist.

LeerWir können also zusammenfassen: Dieselbe „Mächtigkeit” des Wassers, die allen seinen mythischen und sakramentalen Aspekten zugrunde liegt, wird von der Analytischen Psychologie mit dem Namen „das Kollektive Unbewußte” bezeichnet. Das Wasser ist - wie es auch ungezählte Träume heutiger Menschen allnächtlich beweisen - ein Symbol für das Kollektive Unbewußte, wobei der Terminus technicus „Kollektives Unbewußtes” nicht als etwas Letztgültiges verstanden sein will, sondern selbst wieder die Eigenschaft des Symbols hat: durch sich selbst hindurch auf etwas anderes, nicht Ausdrückbares, hinzuweisen.

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LeerWas „bedeutet” nun in tiefenpsychologischer Sicht die Taufe?

LeerSie bedeutet, daß der Mensch freiwillig und bei vollem Bewußtsein ins Kollektive Unbewußte hinuntertauchen kann, alle Gefahren dieses Hinabtauchens ins Ungewisse auf sich nehmend, um ... ja, doch sicher nicht ohne Sinn!, sondern doch wohl, um dort unten Neues zu erfahren und das Erfahrene mit heraufzubringen, um dadurch erneuert, neugeboren zu werden; um (das klingt in psychologischer Sprache sehr dürr) eine Erweiterung seines Bewußtseins zu erfahren.

LeerDas hat, wenn man es näher bedenkt, sehr weitreichende Konsequenzen. Denn die Taufe nimmt ja unter den christlichen Sakramenten einen ganz hervorragenden Platz ein, indem sie der einmalige, unwiederholbare, aber auch unabdingbare Beginn des Christenlebens ist. Ja, sie ist sogar die vollkommenste imitatio Christi, indem der Christ nicht nur wie Christus (im Jordan), sondern sogar „in Christus” getauft wird, in Christi Taufe stirbt und mit Christus aufersteht, wie Paulus es im 6. Kapitel des Römerbriefes ausführt.

LeerWäre also auch die Jordan-Taufe Christi als ein Hinabsteigen ins Kollektive Unbewußte anzusehen? Würde demnach die imitatio Christi, psychologisch betrachtet, ganz zu Anfang und grundsätzlich verlangen, daß der Christ einen möglichst hohen Grad von Bewußtheit anstrebt, dadurch, daß er in die Tiefe des Unbewußten hinabtaucht, um von dort vertiefte, erweiterte Selbsterkenntnis mitzubringen? Würde also die tiefenpsychologische Interpretation der Taufe letztlich darauf hinauslaufen, zu behaupten, daß das ehrwürdigste Sakrament des Christentums auf „Gnosis” hinzielt? Ja, so ist es. Zwar geben wir zu, daß in der Taufpraxis und -Theologie der heutigen Kirche von einer solchen Auffassung überhaupt nichts mehr zu merken ist, und wir nehmen zur Kenntnis, daß schon Luther von der „natürlichen Mächtigkeit” des Wassers offenbar nicht mehr viel hielt, wenn er in seinem Katechismus schrieb: „Ohne das Wort Gottes ist das Wasser schlecht Wasser und keine Taufe” - aber wir bleiben bei unserer These: wenn man das Wasser überhaupt als einen wesentlichen Bestandteil der Taufe ansehen und es nicht als symbolistische oder ritualistische Verzierung hinwegdeuten will, und wenn man eine tiefenpsychologische Interpretation ernstzunehmen bereit ist, dann meint das Tauchbad Hinabtauchen ins Kollektive Unbewußte, und damit Bewußtseinserweiterung, und das heißt: Selbsterkenntnis.

LeerDiese Deutung der Taufe hat sich uns aus der Betrachtung der natürlichen Mächtigkeit und der aus ihr hervorgehenden sakralen Mächtigkeit des Wassers ergeben. Sie wird für den analytischen Psychologen, der psychotherapeutisch arbeitet, in ungezählten Wasser-Träumen heutiger Menschen bestätigt. Wie können wir aber dem psychologischen Laien diese vielleicht anstößig erscheinenden Thesen glaubwürdig machen?

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LeerWir wollen von folgender Überlegung ausgehen: Wenn die Taufe für das Urchristentum und für die alte Kirche ein lebendiges Symbol war, weil sie sich noch in statu nascendi befand und noch nicht rationalistisch degeneriert war, und wenn ihr symbolischer Gehalt tatsächlich dem von uns herausgearbeiteten Sinn entsprach, dann müßten wir in der altkirchlichen Taufpraxis Hinweise darauf finden, daß das Wasser tatsächlich als Symbol des Unbewußten und nicht nur als Waschmittel oder Grab erfahren (nicht gedacht!) wurde, daß das Untertauchen im Wasser tatsächlich eine lebenbedrohende und den ganzen Menschen umprägende Erfahrung war, und daß die „Wiedergeburt” durch die Taufe als Absterben des alten, unbewußten Zustandes und als Neuentstehung eines erweiterten Bewußtseins gefeiert wurde. Da wir die Taufe psychologisch als einen „Individuationsritus” auffassen, müßten endlich in der kultischen Ausgestaltung der ursprünglichen Taufe Symbole der Ganzheit, beziehungsweise der Gegensatzvereinigung auftauchen, da das Ziel des Individuationsprozesses die möglichst vollständige Verbindung von Bewußtsein und Unbewußtem ist.

LeerUnd schließlich müßte man sogar theologische Aussagen über die Taufe Christi finden, die zum Ausdruck bringen, daß Jesus von Nazareth sich nicht deswegen im Jordan taufen ließ, weil Johannes der Täufer nun mal gerade taufte, sondern weil es zur Voraussetzung seines Erlösungswerkes gehörte, daß er, bevor er den Geist Gottes empfing, den Geist der Wassertiefe in sich mit aufgenommen hatte.

LeerWir wollen uns ein wenig in der patristischen Literatur der ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte umsehen.

LeerNatürlich gab es auch damals schon sehr „trockene” Auffassungen der Taufe, für die das Wasser so gut wie überhaupt keine Rolle spielte. So schreibt etwa Gregor von Nazianz: „Die Kraft der Taufe ist keine andere als die eines Vertrages mit Gott zu einem reineren Wandel.” (Da klingt schon etwas an von der rein „kognitiven Richtung”, die Karl Barth der Taufe zuerkennt.)

LeerAber andere Väter haben in der Taufe mehr als einen „Vertrag” gesehen und deswegen auch gründlicher über das Wasser nachgedacht. So setzt sich Tertullian ausführlich mit dem Tauf -Wasser auseinander und kommt zu dem Schluß, daß es den Täufling nur deswegen heiligen könne, weil es zuvor selbst geheiligt wurde. Wie aber geschah das? In „De Baptismo” erklärt er, daß „das Wasser eben eines der Urelemente sei, aus denen die Welt geschaffen ist und die vor der Weltschöpfung bereits in formloser Gestalt in Gottes Verwahrung ruhten”. An anderer Stelle sagt er, daß gemäß Genesis 1, 2 der Geist Gottes über den Wassern schwebte, wodurch das Wasser seine besondere Qualität erweise, Träger des göttlichen Geistes zu sein.

LeerAber nicht nur als „Urelement” mit besonderer Dignität wird das Wasser anerkannt, sondern Ephraim der Syrer preist es geradezu als „Mutterschoß”, dem „Kinder des Geistes” geboren werden. Und Theodor von Mopsuestia schreibt: „Wie der Schoß der Mutter bei der natürlichen Geburt den Samen aufnimmt, den dann die Hand Gottes zum Menschen formt, so wird auch bei der Taufe das Wasser zum Mutterschoß, aber die Gnade des Heiligen Geistes formt den Getauften, so daß er als neuer Mensch zum zweiten Mal geboren wird.”

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LeerDie Qualität des Wassers als kosmogonisches Urelement und Mutterschoß allen Werdens, die für unsere Deutung des Wassers als Symbol des Kollektiven Unbewußten so wichtig ist, wird also in der patristischen Literatur nachdrücklich anerkannt.

LeerDaß die Taufe nicht nur ein Vertrag, und das Wasser nicht nur zur Reinigung da ist, sondern daß aus dem Wasser etwas „heraufgeholt” werden soll, und daß eben daraus etwas Neues, eine Vereinigung, eine Wiedergeburt entsteht, geht aus einem wunderbaren Hymnus des Ephraim hervor, in dem es in bezug auf Taufe und Täuflinge heißt: „Unvergängliches Brautgemach, nie endendes Glück habt ihr euch aus dem Wasser geholt, ihr geistigen Söhne, in dieser Welt und in jener.”

LeerDie Hochzeitssymbolik der altkirchlichen Taufe ist sehr geeignet, unsere Auffassung zu bestärken, daß die Taufe ein „Individuations-Ritus” sei. Denn der Hieros gamos, die Heilige Hochzeit, ist eines der in der ganzen Menschheit verbreiteten Symbole, in denen die Vereinigung von Bewußtsein und Unbewußtem gefaßt wird. Das reicht bis hin zu jener alchimistischen Bildserie, die Jung als Bilderung des Individuationsprozesses gedeutet hat, bei der die hochzeitliche Vereinigung von König und Königin erst nach gemeinsamen Bad erfolgt.

LeerAber Männliches und Weibliches sind nicht das einzige Gegensatzpaar, dessen Vereinigung (als Symbol der Vereinigung von Bewußtsein und Unbewußtem) im Umkreis der altkirchlichen Taufe erscheint. Man denke etwa an die bei Cyrill und anderen zu findende Bezeichnung des Taufwassers als „Grab und Mutterschoß zugleich”.

LeerWie verhält es sich nun mit unserer Hypothese, daß auch die immense Gefährlichkeit des freiwilligen Hinabsteigens ins Unbewußte ihre Ausprägung in der Taufsymbolik gefunden haben müßte? Die patristische Literatur weist ein sehr reiches Material auf, das darlegt, mit welchem Aufwand an symbolischen Handlungen die Täuflinge „gefirmt” werden mußten, um die Taufe bestehen zu können. Hierher gehören nicht nur die Exorzismen, auf die wir gleich eingehen werden, sondern hier hat auch die „Siegelung” der Täuflinge ihren Sinn, das heißt die Salbung der Stirn in Kreuzesform bzw. auch Öleinreibungen des ganzen Körpers vor (und manchmal noch zusätzlich nach) der Taufe. Diese Sphragis, dieses Siegel, wird von Cyrill als „heilbringendes Siegel, vor dem die Dämonen erschrecken” bezeichnet. „Es stempelt dich zum Soldaten des himmlischen Königs”, versichert Theodor von Mopsuestia. Auch dient die Ölung dazu, den Taufkandidaten glatt und schlüpfrig zu machen, wie es der Ölung der Ringkämpfer entsprach: er muß „einem guten Athleten gleich mit Öl gesalbt werden, bevor er den Endkampf aufnimmt” (Daniélou). Übrigens ist in unserem Zusammenhang sehr bedeutsam, daß das Öl, wie M. L. v. Franz unter Hinweis auf 1. Joh. 2, 20 hervorhebt, auch „gnosis” bedeutet!

LeerWas die Exorzismen vor der Taufe angeht, so nehmen sie einen überaus großen Raum ein. Schon in der Zeit des Katechumenats beginnend, werden sie bis zur Taufe hin mehrfach wiederholt und finden ihren Höhepunkt in der Abschwörung des Katechumenen an den Satan unmittelbar vor der Taufe.

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LeerFür unseren Zusammenhang ist daran wichtig, wie ungemein plastisch der Teufel vergegenwärtigt wurde. Im Euchologion der Griechen heißt es: „Ein jeder von euch soll, als ob er den Teufel sähe und ihn verabscheue, ihn anblasen . . . Nun steht im Westen der Teufel, knirschend mit den Zähnen, die Haare schüttelnd, in die Hände klatschend, sich in die Lippen beißend, heulend vor Wut über seine Vereinsamung und euch eure Freiheit mißgönnend ... Im Westen steht der Teufel, wo der Anfang der Finsternis ist. Widersaget ihm und blaset ihn an.”

LeerEs besteht kein Zweifel daran, daß die Abschwörung an Satan und sein Gefolge nichts anderes als eine Absage an die heidnischen Götter darstellt, wie es schon Lukian behauptete und wie es die Religionswissenschaft eindeutig bestätigt.

LeerWie man weiß, wurde Christus in der Alten Kirche (in Anlehnung an Malachias 4, 2) gerne als „Sonne der Gerechtigkeit” apostrophiert. Von daher ergibt sich nun die damals sehr weit verbreitete Vergleichung der Taufe Christi mit dem Untergang und Aufgang der Sonne im Meer. So heißt es beispielsweise in einem Fragment des Melito von Sardes: „Wenn die Sonne mit den Sternen und dem Mond sich badet im Ozean, warum sollte da Christus nicht kommen zur Taufe im Jordanfluß?” Oder, bei Athanasios: „Wie nämlich die Sonne vom Westen zum Osten zurückkehrt, so ist auch der Herr von den Tiefen des Hades zum Himmel des Himmels wieder aufgestiegen.”

LeerDie Taufe Christi erweist sich also in der Auffassung der Väter als zugehörig zu jenem auf der ganzen Erde verbreiteten Mythologem der „Nachtmeerfahrt”, in welchem der Held (wie die Sonne) die Tiefe des nächtlichen Meeres zu durchstehen hat, um als ein Erneuerter daraus hervorzugehen, der bis dahin verborgene Erkenntnis erwarb.

LeerDas bedeutet also, daß die Alte Kirche der Jordan-Taufe Christi eine unerhörte Wichtigkeit zugemessen hat: sie ist gleichbedeutend mit der (ersten) Höllenfahrt Christi, sie beinhaltet die Erforschung und Überwindung der „Unterwelt” und ist als solche Voraussetzung für die Annahme durch den Vater und das Herabkommen des Heiligen Geistes!

LeerDie „Nachtmeerfahrt”, die in psychologischer Sprache Hinabtauchen ins Unbewußte zum Zwecke der Bewußtseinserweiterung und Selbsterkenntnis bedeutet, war also, in der Sicht der Alten Kirche, ein konstituierendes Element der Heilstat Christi - dargestellt in seiner Taufe. „Da aber die Köpfe des Drachen zermalmt werden mußten, stieg Jesus in den Jordan hinab und fesselte den Starken ...” heißt es bei Cyrill. Und bei Ignatius von Antiochien findet sich sogar die Formulierung, daß Jesus deswegen „geboren und getauft werden mußte, um durch sein Leiden das Wasser zu reinigen”.

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LeerGeraten wir nun aber nicht mit unserer Deutung der Taufe als Individuationsritus in Verlegenheit? Zwar dürfte es uns gelungen sein nachzuweisen, daß die altkirchliche Taufe mehr als ein „Vertrag mit Gott zu einem reineren Wandel” war und daß in ihr die natürliche und sakrale „Mächtigkeit” des Wassers (und damit: des Unbewußten) sehr ernst genommen wurde; aber wird nicht den heidnischen Göttern (die wir psychologisch als die Archetypen des Kollektiven Unbewußten bezeichnen müssen) gerade abgeschworen? Werden nicht „die Köpfe des Drachens zermalmt” und „der Starke gefesselt”? Mit anderen Worten: war nicht die Taufe in der Alten Kirche eine Absage an die Macht des Unbewußten, während sie doch heute dessen Integration bedeuten müßte?

LeerDiese Differenz ist zuzugeben, aber sie entspricht genau der Differenz zwischen unserer heutigen Bewußtseinslage und der Bewußtseinslage der Christen vor fast 2000 Jahren. Das Christentum hatte, psychologisch betrachtet, zur Zeit seiner Entstehung die Aufgabe, die in der ausgehenden Spätantike ins Uferlose zerfließenden Projektionen des Selbst in den Focus des einen, dreieinigen Gottes zu sammeln und gleichzeitig die unzweideutige Lichtnatur dieses zentralen Archetypus gegenüber allem mystischen Zwielicht aufs stärkste zu betonen; um so bewunderungswürdiger ist es, daß das Durchschreiten des Pandämoniums der anderen Archetypen als entscheidende Voraussetzung zur Erleuchtung oder zur „Gnosis” in der Taufe betont wurde. Daß dieses Durchschreiten als ein „Überwinden” oder gar als eine „Vernichtung” der unbewußten Mächte erlebt werden mußte, erscheint durchaus verständlich, wenn man bedenkt, wie ungeheuer groß damals die Gefahr eines Rückfalls in einen unbewußteren Zustand (das heißt zum Beispiel: in „Vielgötterei”) noch gewesen sein muß.

LeerFür uns Heutige dürfte das anders sein. Wir können nicht mehr alles, was uns bei der Hadesfahrt ins Unbewußte begegnet, als zu Satan und seinem Gefolge gehörig verdammen, sondern wir müssen uns damit auseinandersetzen als mit Mächten unserer eigenen Seele, für die wir selbst verantwortlich sind. Außerdem dürfen wir hoffen, daß uns beim Hinabtauchen ins Wasser des Unbewußten, so Gott will, auch Schätze zuteil werden könnten, die nirgends anders als dort zu finden sind, und von denen Ephraim der Syrer sagt:

Leer„Christus, die Natur, die nicht stirbt, kleidete sich in einen sterblichen Körper, tauchte unter und brachte aus dem Wasser hervor den Schatz des Lebens der Stammeltern.”

(Quellenangaben und Nachweise der Zitate können beim Verfasser angefordert werden.)

Quatember 1971, S. 147-156

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-08
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