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Mobilität
von Max Schoch

LeerUnter den Büchern von Walter Nigg hat auch eines seltsam den heutigen Menschen fasziniert, das unter dem Titel „Des Pilgers Wiederkehr” an ein paar berühmten und unberühmten Gestalten, am Kesselflicker und Prediger John Bunyan, an dem merkwürdigen Heiligen Benedict Labre und an russischen Pilgern das lebenslang sehnsüchtige Wandern als christliche Haltung dargestellt hat. Er unterstrich den Gegensatz zwischen jenen Ruhelosen und dem auf ein behagliches Dasein erpichten Menschen. Daß jene Lebensbilder den modernen Menschen so sehr angesprochen haben, liegt wohl an einer Disposition dazu. Nigg meinte noch, sich auf das millionenfache Flüchtlingsschicksal beziehen zu müssen. Heute würde er wohl auf die merkwürdige Erscheinung der freiwillig durch die Kontinente ziehenden Jugend hinweisen. Es sind wieder Wanderer da, die zwar technische Mittel zur Beschleunigung ihrer Reisen anwenden, dabei aber wie die „Gyrovagi” (die Schweifenden), denen Benedikts Regel den Kampf ansagte, mittellos und auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen von Amerika und Europa bis nach Hinterindien ziehen. Dieses Vagantentum steht höchst eigenartig in einer doppelten Beziehung zum Prinzip der Hauslosigkeit des jungen Buddha einerseits und zum kosmopolitischen Stil der Gesellschaft von heute andererseits. Es hat darin seinen inneren Widerspruch. Denn das eine ist ein Entsagen auf den bergenden Besitz und das andere ist ein Erobern der Welt. Das Gemeinsame daran ist aber der Stil des Daseins selbst. Der Mensch hat keine Genüge mehr am Wohnen im engen Tal, in der Heimat, im Vaterland. Weit herum zu kommen dient auch nicht mehr bloß der Schulung und Bildung. Es ist zum Statussymbol geworden oder anders gesagt: zu einem Wert. Es fängt an, zum rechten Menschsein selbst zu gehören oder dafür angesehen zu werden.

LeerWalter Dirks hat in seinem Buch „Die Antwort der Mönche” darauf aufmerksam gemacht, daß Benedikt von Nursia mitten in der Zeit der Völkerwanderung, indem er die Mönche zur Seßhaftigkeit aufforderte, dem unsteten Wandern ein Halt gebot. Die „stabilitas loci” (Seßhaftigkeit), die ein Grundsatz seines Ordens war, stellte sich so der Instabilität der Spätantike entgegen, und sie legte den Grund für die anhebende Kultur des Mittelalters. Mit ihr begann das, was für anderthalb Jahrtausende Abendland heißen sollte. Wir erleben in der Expansion der in diesem Abendland geschaffenen technisch-industriellen Welt über den Globus eine Metamorphose des alten Erbes, zu der offenbar auch gehört, daß die führenden Menschen oder diejenigen, welche als die für die Moderne Typischen gelten dürfen, keine „stabilitas loci” mehr kennen.

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LeerDazu gehört die Beobachtung, daß die bildende Kunst, die noch in den Zwanzigerjahren trotz aller Kontakte über die Grenzen hinweg eine vom engeren deutschen, französischen, englischen oder italienischen Kulturkreis beeinflußte Note kannte, heute die nationalen, ja die kontinentalen Bestimmungen abgestreift hat und in New York, Tokio, Paris oder Düsseldorf durchaus die gleiche ist. Selbst das Gedicht und der Roman, obschon an eine Sprachnation gebunden, wohnen nicht mehr in einer einmaligen Landschaft. Sie werden in Form und Inhalt zum Ausdruck eines Menschen, der überall oder nirgends zu Hause ist. Ja, das Nirgends scheint näher und verbreiteter, denkt man an das Unbehagen, das sich in ihnen ausspricht. Der Mensch ohne Behagen ist zum Typus geworden. Er ist der gleiche Mensch, der sich auf Grund des finanziellen Erfolges ein luxuriöses Dasein oft nicht nur an einem Ort, sondern an vielen erlaubt.

LeerNun ist unsere traditionelle Spiritualität, soweit sie überhaupt bewußt gesucht und gepflegt wird, durch das Prinzip der Einkehr, des Zur-Ruhe-Kommens, des Bleibens geprägt. Noch immer scheint uns die Treue zur gewählten Stätte, wie sie ein Kloster darstellt oder eine Kommunität betreut, der ideale Grund für ein geistliches Leben. Allerdings haben einzelne Zeugen des Pietismus, nämlich vor allem seine außerdeutschen, mehr calvinistisch beeinflußten Erweckungsbewegungen, den Gehorsam gegen Gott mit einer Disponibilität verbunden, zu der gerade die Beweglichkeit gehörte. Methodistenprediger und Heilsarmeeoffiziere haben öfter ihren Posten zu wechseln. Es ist das eine Spiritualität, die das Leben vom Ruf und von der Sendung her versteht; diese ist die eigentliche Verbindung zwischen Gott und Mensch. Diese Religiosität ist tiefer mit der Lebensart der Gegenwart verbunden. Sie hat sie in ihren heroischen Zügen wohl gar hervorgebracht. Der Pionier, die Existenz des amerikanischen Farmers an der „Frontier”, der Vorstoß in neue Welten, der auch bei irdisch-weltlichen Zielen zugleich von der Gläubigkeit getragen wurde, die von den Wanderungen Abrahams und Moses, vom Exodus Israels lernte, dies alles hängt mit einer Spiritualität zusammen, die nicht das Prinzip der Ruhe, sondern das der Bewegung in sich trägt.

LeerUnsere geistliche Form wird mit einem Wachdienst verglichen, der an Ort geschieht. Auch die andere Spiritualität begreift sich als ein Wachen. Aber sie versteht die Wache als Bereitschaft, sich in Bewegung setzen zu lassen. Mobilität ist hier selbst zur spirituellen Haltung geworden. Keine Bleibe zu haben und sie auch nicht zu suchen, das entspricht geradezu einem frommen Mißtrauen gegenüber allem, was Welt heißt. Mobilität im Sinne der „disponibilité” wird als Grundsatz des Gehorsams bei den Brüdern von Taizé betont. Sie entspricht einer Erkenntnis, die in den letzten Jahren mehr und mehr zu der theologischen Überzeugung der ökumenischen Bewegung geworden ist, daß das Wesen der Kirche die Teilnahme an der misso Dei sei. Christus setzt die Menschen aufeinander hin in Bewegung.

Quatember 1971, S. 164-165

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-11-07
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