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Kirche als Bruderschaft
von Hans Eisenberg

LeerEs muß gleich darauf verwiesen werden, daß "Bruderschaft" kein gängiger Begriff der biblischen Botschaft ist. Das mag gerade heute besonders befremden, wo wir der bruderschaftlichen Gemeinde wieder größere Hoffnungen entgegenbringen. "Bruderschaft" (griech. adelphotes) begegnet uns nur im 1. Petrusbrief (2, 17; 5, 9) und ist auch dort noch durch Luthers Übersetzung verdeckt. Erst bei Beachtung des Textzusammenhangs ist eine Aussage von Rang zu erkennen, auf die noch einzugehen ist. Aufs Ganze der biblischen Verkündigung gesehen, muß die Tatsache hingenommen werden, daß "Bruderschaft" als Gemeinde-Typus der Kirche Jesu Christi keine betonte Erwähnung oder Empfehlung erfährt. Unserem Bedürfnis nach bleibender Gestalt, unserer Neigung zur Ver-"schaftlichung" religiöser Betroffenheit mag das wenig entgegenkommen. Aber es wird seine Gründe haben, daß die biblischen Autoren gerade dann nicht mitspielen, wenn wir unser Sehnen nach Bruderschaft mit den geistlichen Ständen ("Pfarrer-Bruderschaft") oder mit geistlichen Tätigkeiten ("Gebets-Bruderschaft") zu Organisationen zu verknüpfen trachten.

LeerSo machen wir heute auch die ernüchternde Beobachtung, daß der berufsständische Gebrauch des Brudertitels im kirchlichen Bereich, etwa bei Pfarrern und Diakonen, faktisch ausebbt. Ein Bewußtsein für spirituelle Deckung scheint erwacht, wenn man sich lieber der bürgerlichen Umgangsformen bedient, statt einen status quo unkritisch fortzusetzen. Es wird daher sinnvoll sein, zunächst nach der biblischen Begründung des Brudertitels zu fragen, ehe der Versuch gemacht wird, Möglichkeiten, vielleicht sogar Spielregeln des brüderlichen Miteinanders aufzuzeigen.

LeerDie Parabel vom "verlorenen Sohn", die man unter anderem Tenor auch die Parabel vom "heimkehrenden Bruder" nennen könnte, macht in ihrem oft vernachlässigten zweiten Teil deutlich, daß unser ererbtes Bruderbild dem Verständnis des neuen im Wege steht. Die Qualität des infolge seiner Umkehr wieder-geborenen Bruders stößt sich hart mit den bewährten Lebenserfahrungen des Erstgeborenen. Ein altes biblisches Thema klingt hier an: Wer seine Erstgeburt als qualitativen Vorsprung gegen den Mitbruder zum Recht erhebt, geht ihrer leicht verlustig. Er versäumt darüber die Einsicht, daß Geburt immer gottbezogen und daher relativierbar ist, Wiedergeburt wie Erstgeburt. Der Erstgeborene - vergleiche die biblischen Brüderpaare im Alten Testament - bleibt so der im spezifischen Sinne Unwissende. Schon bei den Patriarchen wird die Erstgeburt geheimnisvoll vertauscht. Erst recht nun im neuen Gottesvolk, in dem die alten Verheißungen eingelöst werden.

LeerIm Evangelium hat darum der "Jünger", auch der "Kleine" oder "Geringste" genannt, als diesem Geheimnis Nächster, weil er im Erfahrungsfeld des Sohnes leben darf, vor denen "draußen" den Vorzug, Mitwissender, das heißt wirklicher "Bruder" zu sein. Dieser Titel wird darum im Leben Jesu erst in dem Augenblick den Jüngern zugesprochen, wo sie ihn, als den Erst- und Einziggeborenen der neuen Schöpfung beim Vater wissen (Joh. 20, 17): "Gehe hin zu meinen Brüdern und sage ihnen, ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott."

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LeerDas bedeutet ferner, daß der Brudertitel, biblisch verstanden, nicht ein erworbener oder erwählter, sondern ein verliehener Titel ist. Seine Qualität gründet im Verhalten des Vaters, der in dem Mensch gewordenen Sohn auch dessen Brüder zu sich lädt. Er ist es, der Ring und Festkleid der neuen Sohnschaft und damit der neuen Bruderschaft verleiht, und alle die sind mitgemeint, die kein ererbtes oder selbsterworbenes Erstgeburtsrecht für sich geltend machen.

LeerSo ist diese Bruderschaft im Transzendenten, biblisch gesprochen: "im Vater", begründet. Alle Lebensimpulse für ihre sichtbare Gestalt wird sie demnach von dort, nicht aus sich selbst erwarten. Anders wird es dagegen mit ihrer konkreten Gestalt sein. Denn hierzu wird sie der irdischen Mutter bedürfen, ohne die jenseitiger Impuls nicht "Fleisch" werden kann.

LeerEs ist in diesem Zusammenhang mehr als bedeutsam, daß der erste Apostel, der die "Brüder" im neuen Sinne existent werden läßt, weiblichen Geschlechtes ist. (Joh. 20, 17). In ihrem läuternden Verzicht darauf, den endlich Gefundenen für sich zu behalten, vernimmt diese "Apostolin der Apostel" ihren, den typischen Namen der Frau, der die "Bitternis" der Erde in sich schließt. Was sie, die Maria aus Magdala, sah und hörte, was durch sie hindurchging, wird konstitutiv für die Gemeinschaft der hier erstmals so genannten "Brüder". Nun nehmen sie das Geheimnis ihrer neuen Existenz in sich auf. Aus dieser grundlegenden Beteiligung der Frau am Wesen und Werden brüderlicher Gemeinschaft werden darum - auch "unter Brüdern" - Folgerungen zu ziehen sein. Derart, daß sich Bruderschaft, die sich männlich "klausuriert", und eine geschlossene Existenz "der Brüder unter sich" erstrebt, ihr biblisches Wesen wie ihre hochzeitlich-schöpferische Fruchtbarkeit in dieser Welt verfehlen muß.

LeerDie apostolische Verkündigung - wir kommen noch einmal auf den 1. Petrusbrief zurück - weiß dieser Gefahr zu begegnen, wenn sie das Kleinod "Bruderschaft" in einem Atemzug nennt mit "tut Ehre jedermann" (nicht nur den "Brüdern"), "fürchtet Gott" und "ehret den König". Das will sagen: Eine Existenz der Christen mitten in der Welt sozialer, religiöser und politischer Probleme gewinnt erst hier das irdische Material für ihr Zeugnis, Brüder des Auferstandenen zu sein. Erst hier hat es Sinn, wie es 1. Petr. 2, 17 wörtlich heißt, "Bruderschaft zu lieben". Denn nur in den irdischen Bitterkeiten leuchtet auf, wie liebenswert sie ist.

LeerWie finden diese exegetischen Erkenntnisse ihren Niederschlag in der bruderschaftlichen Kirche heute, zu der wir, nach manchen Symptomen zu schließen, unterwegs sind? "Der Mut zur kleinen Zahl" sollte nicht als ultima ratio der Epoche "Volkskirche", auch nicht zu sehr unter Berufung auf alttestamentliche "Resttheologie", sondern als neutestamentliches Spezifikum gesehen und geschätzt werden. Wenn gerade der "Kleinen Herde" die Verheißung gilt, dann nur darum, weil von ihr als einer Zelle des Ganzen Wirkungen ausgehen, die der Sprengkraft eines Atoms vergleichbar sind. Um dieser Wirkung willen wird "Bruderschaft" auch "Licht der Welt" und "Salz der Erde" genannt. Das Kraftfeld wird heute weniger an den religiösen Handlungsweisen des Einzelnen als an den Gruppierungen innerhalb einer Gemeinschaft aufgezeigt werden müssen. Diese, so unterschiedlich sie erscheinen, sind doch aufeinander bezogen und bauen gemeinsam ein Ganzes. Vier Möglichkeiten seien herausgegriffen.

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Der Einzelne

LeerWer zu Brüdern sprechen soll - wir setzen noch einmal bei Joh. 20, 17 an - muß den Auferstandenen daseinsbestimmend erfahren haben. Er muß sich seines Suchens im Dunkel begeben haben, weil der Tag ihn eingeholt hat. Er muß den eigenen Namen neu gehört haben. Er muß zu den "Brüdern" hin sich öffnen lassen, um ihnen den Auferstandenen zu bringen. Es sind dies Vorgänge vor dem Beginn des "Tages der Brüder", "da es noch finster war" (Joh. 20, 1). Stunden ohne Kommunikation, Stunden des unter Umständen verzweifelten Suchens. Aus Ratlosigkeit mitgeteilte Fakten führen nicht zur Kommunikation, sondern vereinzeln das bis dahin noch Verbundene. Es sind diese Stunden nicht wegzudenken aus dem "Tag der Brüder". Sie liegen ihrem Tag immer voraus, oder folgen ihm wieder, wie die Nacht dem Tage. Sie sind seine verborgene nächtliche Quelle. Die monastische Weisheit schätzt sie als die Zeiten des Alleinseins vor, mit oder auch auf der Suche nach Gott. Es sind Durchhaltezeiten, auch Ödstrecken. Aber Zeiten ohne Resignation, weil der Tag, der Tag der Brüder, im Kommen ist. Es sind Zeiten der Öffnung für das, was nur kommend gedacht und erlebt wird.

LeerGeistliche Erfahrung weiß um die "Nächte der Mönche", ihre Nokturnen, in denen der Tag schon empfangen wird, ihre Vigilien vor den großen Tagen des Gottesjahres, den Hochfesten, die das wandernde Gottesvolk begleiten. Wer diese Zeiten ausläßt und mit dem schon geregelten Tag des gemeinsamen Lebens beginnen möchte, wird sich womöglich im Detail der Bestimmungen festfahren und das Fest des brüderlichen Tages nicht gewinnen.

Die Partnerschaft

LeerDie Partnerschaft umschließt das Bemühen, das Empfangene im Dialog zu klären, ihm zur Artikulation zu verhelfen. Ein erster Arbeitsgang in jener "Logik" des Tageslichtes, das "nun scheint". Es sind hier die gegenseitigen Verständnishilfen gemeint, wo nicht doziert und gepredigt, Wissen gespeichert oder persönliche Erbauung gesucht wird, sondern wo mit erstaunten Rückfragen und Aufhellen das gemeinsame Erfahrnis befestigt wird. Ein absolut paritätisches Rollenspiel, ohne materiellen Vorsprung des einen vor dem anderen, ohne Würdeklassen hierarchischer Ordnung. Man wird an die Emmaus-Jünger erinnert, die anders als in der Ratlosigkeit des Hinweges nach dem Mahle in derHerberge nun aus demErlebten schöpfen: "Brannte nicht unser Herz, als er uns die Schrift öffnete!" Oder man denkt an die Partnerschaft der beiden Jünger, die als die latente Wirkeinheit der "beiden Jünger" die ersten acht Kapitel der Apostelgeschichte ausfüllt, eine Partnerschaft tiefer Bezogenheit aufeinander, ohne daß die beiden dazu öffentlich installiert wären oder sich in gegenseitiger Sympathie "gefunden" hätten. Ihre Partnerschaft beruht auf dem verborgenen Dritten, der sie beieinander hält, ohne es sichtbar zu offenbaren.

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LeerMir scheint, daß das Phänomen der Partnerschaft in der Basis bruderschaftlichen Geschehens nicht fehlen darf; als Prozeß der Aneignung der so entscheidend wichtigen Ostererfahrung, aus der jedes Brudersein schöpft, ist es lebensnotwendig. Hier liegt auch der Sinn jener Praxis Jesu verborgen, seine Jünger "zu je zweien" auszusenden, dio wir vielleicht jetzt wieder zu würdigen beginnen. Denn Partnerschaft ist Bruderschaft im Ansatz. Welchen Stellenwert dieses zellenhafte Geschehen im Leben des ganzen Gottesvolkes hat, wollen die Passagen im Evangelium aufzeigen, die mein Verhalten zu "meinem" Bruder betreffen. Mit "Bruder" ist nicht schlechthin der Mitmensch gemeint, sondern der mir verbindlich zugeordnete Zeit- und Weggenosse im wandernden Gottesvolk. Der also, der mit mir glaubend unterwegs ist. Hier ist die konkrete Partnerschaft von Jesus als so lebensentscheidend für das Ganze bewertet, daß selbst die Gott geschuldete Beziehung hintan zu stehen hat, "wenn dein Bruder etwas gegen dich hat" (Mt. 5, 23 f.). Alle religiös-kultische Praxis, und sei sie nach heiligster Regel geboten, steht solange zurück, bis die "Brüder einträchtig beieinander wohnen". Erst dann verdient das Opfer, Gottesdienst zu heißen.

LeerEs dürfte deutlich geworden sein, daß uns erst in der engen Beziehung der "Zwei", die unter demselben Joche gehen, die Qualität "Bruder" wirklich und unausweichlich auf den Leib rückt. Die Praxis Jesu, die Brüder zu Zweien zusammenzuspannen, ist gewiß nicht prophylaktisch gegen die Vereinsamung der Amtsträger gemeint, sondern konstruktiv, weil zwischen den Zweien der österliche Friede sein Kraftfeld spürbar werden läßt.

Fraternität

LeerNach dem bisher Gesagten ist nun eine dritte Gruppierung im bruderschaftlichen Ganzen bedeutsam: die 3-5 "besonders Genommenen", in heutiger kommunitärer Praxis bezeichnenderweise " Fraternität" genannt. Im Unterschied zur äußerlich ähnlichen "Gruppen-Praxis" oder "teamwork" ist hier nicht die Arbeitsmethode betont, sondern das Fassungsvermögen der kleinen Mannschaft. Für den Fortgang des Geschehens bedarf es nun einesGefäßes, das Inhalt aufnimmt. Im Evangelium begegnet des öfteren die Wendung: "Und Jesus nahm die Drei (Petrus, Johannes und Jakobus) besonders." Wenn wir die Anlässe betrachten: Verklärung, Auferweckung der Jairus-Tochter und Gethsemane, so sind es in allen Fällen über den Moment hinausweisende Ereignisse, nicht Praktiken, sondern Wahrnehmungen letzter Geheimnisse. Sie werden - so die Verklärung Jesu - auch erst im Osterlicht voll erkannt.

LeerErstaunlich bleibt, daß im Jüngerkreis über die elitäre Bevorzugung einiger weniger nicht reflektiert wird; es handelt sich hier also nicht um Vorgänge unseres sozialen Bewußtseins. "Fraternité" im gleichen Atemzug mit "Egalité" denken zu müssen, ist ein zeitbedingter Zwang der Neuzeit. Das Evangelium denkt hier nicht reaktiv, wenn es überhaupt "denkt". Es folgt einem Lebensimpuls, als dessen Träger die "Brüder" berufen sind. Institutionen oder demokratische Prinzipien berühren die nicht, die aus dem allen herausgerufen werden, um "Brüder" zu sein.

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LeerDie "gesonderten" Brüder treten aus bestimmtem Anlaß aus dem hinteren in das vordere Glied, um später wieder zurückzutreten. Es ist weniger nach ihrer Effektivität als nach ihrer Offenheit zu fragen. Denn ihnen gilt die unbedingte Zusage Jesu, daß er sich den Zweien oder Dreien, die in seinem Namen eine Fraternität bilden, zugesellen werde (Mt. 18, 20). Auch ihrem Gebet ist entsprechendes zugesagt. Der Sinn dieser Stiftung kann nur der sein, daß die an Zahl kleine Herde der Christen schon mit einer knappen Handvoll Menschen letzte Lebensgeheimnisse in der Welt zu vergegenwärtigen vermag. Freilich ist zu beachten, daß das von der kleinen Gruppe Erlebte zum Erfahrungsgut aller wird. Sie, die Gesonderten, sind ja für das Ganze, biblisch gesprochen für die "Zwölf", also für das ganze Gottesvolk, die ganze Kirche, ausgesondert. Ihr Erfahrungsschatz. kann nicht bei ihnen bleiben. Das hieße, ihre Berufung, einem Ganzen zu dienen, aus dem Blick verlieren. So sind die Fraternitäten immer auf das Plenum der Brüder bezogen, das alles integriert, was diesen zuteil wurde.

Die Zwölf

LeerDamit ist auf die vierte und letzte Gruppierung bereits verwiesen, auf das Plenum der Brüder, das mit der Zahl "Zwölf" nicht so sehr eine zahlenmäßige Festlegung erfahren, als deren Funktion aufzeigen soll. Die Zwölf stehen für die Ganzheit des Gottesvolkes, das dazu berufen ist, ein Segen aller Völker zu sein. Darum ist hier von der Sendung "in alle Welt" zu reden, die im Aufleuchten ihrer Einheit besteht.

LeerNach allem bisher Gesagten ist nun nicht mehr die Rückfrage des Berufenen im Alten Bund zu erwarten: "Herr, was soll ich predigen?", auch nicht die kopflastige Problematik unserer heutigen Hermeneutik: "Wie soll ich heute predigen?" Die zu "Brüdern" berufenen Apostel sind niemals Einzelne, die unter der Last des Auftrags verzagen müssen. Sie bezeugen sich als Brüder, das ist ihre Martyria. Sie leben ihre Bruderschaft mitten in der Welt. Ihr Umgang miteinander weist sie aus als Zeugen dessen, der sie berief, heiligte und sandte: "Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr euch brüderlich liebt."

LeerDie herausragende Position des vereinzelten Predigers, wie sie die Kirche des Protestantismus kennzeichnet, sollte sie nicht im Verlust der brüderlichen Dimension ihre Ursache haben? Hier wird Bruderschaft, besonders unter den Amtsträgern, stets nur ersehnt als Tröstung im Einzelamt. Es wird kaum wahrgenommen, daß Bruderschaft ein sich integrierender Bestandteil der "Verkündigung" selbst ist. Das "Seht, wie haben sie einander lieb! " der heidnischen Beobachter frühchristlicher Zeit ist nicht nur als eine rührende Glosse wohlgesonnener Kritiker zu denken. Hier wurde Bruderschaft, die Dienst an und in der Welt ist, wahrgenommen. Erfüllung also dessen, was als Zusage die Geschichte des Gottesvolkes durchzieht-. Von Abraham, dem Einzelnen, angefangen: "Du sollst ein Segen sein allen Völkern!" bis zu dem Zuspruch Jesu an die Seinen: "Ihr seid das Licht der Welt!", "Ihr seid das Salz der Erde". Wohlgemerkt: Ihr!

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LeerAus dieser Sicht von Kirche als Bruderschaft oder Bruderschaft als Kirche können nun einige Folgerungen gezogen werden:

Leer1. Es kann mit Gelassenheit hingenommen werden, daß sich Kirche Jesu Christi in kleinsten Quantitäten ereignen will. Nicht die vage Hoffnung, daß in der "Gesundschrumpfung" der Volkskirche eine Überlebenschance liegen könnte, hat Verheißung, sondern der Mut zur neuen lebendigen Zelle der "Brüder", die sich freilich als Teil eines Ganzen wissen.

Leer2. Die als Lebensäußerungen der einen Kirche verstandenen Aspekte - Martyria, Leiturgia, Diakonia - verlieren ihren Sitz im Leben, wenn sie getrennt voneinander oder einseitig bevorzugt gepflegt werden. Bruderschaft ist Diakonie an der Welt. Sie ist das Gotteslob der neuen Schöpfung. Sie ist der Zeuge des Kyrios, der sie zu nichts als zu seiner Vergegenwärtigung benutzen will. Bruderschaft kann, was ihre Selbstrechtfertigung betrifft, gelassen ihren Tag leben. Sie weiß, daß von den Tagen der Brüder jeder "seine eigene Plage", aber auch seine Salzkraft haben kann.

Leer3. Die "Brüder" sind Kirche als Avantgarde. Sie sind bezogen auf den, der "vor ihnen her gehen" will, um sich ihnen zu zeigen. So ist ihr Blickfeld nach vorn offen. Sie leben nicht nach einer Regel, die sie fest-geschrieben hat, sondern die sie freigibt, damit sie vorwärts eilen können. Ihre Lebensform kann darum nie Modell sein. Sie sind in dieser Hinsicht original und einmalig.

Leer4. Vermöge ihrer ständig geübten Offenheit für den, der kommt, sind sie offen für die Aufgaben ihrer Zeit. Kontemplatio und Aktio sind für sie nicht säuberlich geschieden. Es sind verschiedene Aspekte derselben Offenheit, die in ihren "Nacht- und Tagzeiten" und ihrem "Jahr der Kirche" vereinigt sind.

Leer5. Weil die "Brüder" eine Stiftung des Auferstandenen sind, stehen sie wesenhaft jenseits der Geschlechtergrenze. Man verfehlt diesen eschatologisch bestimmten Tenor, wenn man zeitbedingte soziale Interessen wie Gleichberechtigung von Mann und Frau hier einträgt. "Hier ist nicht Mann noch Weib. . ." Für die Verantwortung der neutestamentlichen Autoren hinsichtlich der sozialen Stellung der Frau gibt es bessere Argumente als unser Paritätsdenken von "Brüdern und Schwestern".

Leer6. Das Gleiche gilt von der zeitgenössischen Neigung, Bruderschaft mit demokratischer Egalität oder mit antiautoritärer Libertät zu verbinden. Das mag für eine mitmenschliche bestimmte "Brüderlichkeit" möglich sein, nicht aber für die als Glaubens-Bruderschaft verstandene, und nur durch den Auferstandenen ermöglichte Lebensgemeinschaft der Brüder. Sie sind und bleiben mitten in der Welt, ohne darum von der Welt zu sein.

Quatember 1972, S. 3-9
© Hans Eisenberg Kommunität Imshausen

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-09
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