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von Jürgen Boeckh |
„Auch Erleuchtungen müssen sein.” Es ist der Aufklärung zu danken, daß sie den Menschen, der mündig sein kann, zum rechten Gebrauch seines Verstandes und zur Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten befreit. Es ist „fromme” Überheblichkeit, wenn behauptet wird: „Wer im Licht des Christuswortes ‚Ich bin das Licht der Welt’ lebt, dem erscheint die ‚Aufklärung’ als eine besondere Art der Finsternis, die das Erdreich des Christus-losen Menschen bedeckt.” (F. Melzer). Es ist „aufklärerische” Überheblichkeit, wenn man meint, Wissen genüge, um wahrhaft Mensch zu sein; wenn wir nur das für wirklich halten, was wir mit unserem Verstand begreifen können. „Ach ja, die heilige Wissenschaft!” Das ist der Stoßseufzer eines Menschen, der an der Grenze des Lebens steht, in der „Krebsstation” von Alexander Solschenizyn. Von einem anderen Kranken, dem Funktionär und seiner Frau, heißt es dagegen: „Beide waren so im Geist des Optimismus erzogen worden, daß sie all diese Fragen (die ein schlechtes Ende aufwerfen würden) lieber im Unklaren ließen.” In einer sowjetischen Zeitschrift wurde vor einiger Zeit festgestellt: Die „verfluchten Fragen” des Lebens (ein Zitat von Dostojewski]) blieben, auch nach einem „breiten geistigen Angriff auf die Religion” - nämlich jene Fragen, die sich dem Menschen durch Kummer und Sorge, durch Leiden und Sterben immer wieder stellen. Menschliche Ratio reicht nicht aus, um sie zu beantworten. Was für die Grenze des irdischen Lebens gilt, das gilt für seine Mitte, für die Erfüllung, die Menschen immer wieder in ihrem „kleinen Glück”, in Liebe und Ehe suchen. Hier werden - in einem bestimmten Bereich - Recht und Grenze der Aufklärung deutlich. Das Recht der Aufklärung liegt darin, daß dem Menschen notwendiges Wissen vermittelt wird, das ihm Freiheit schafft. Aber mit diesem Wissen und mit dieser Freiheit ist die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens - zu dem dann auch das Sterben gehört- noch nicht beantwortet. Da liegt die Grenze der Aufklärung. Das Geheimnis des Lebens kann nicht „aufgeklärt” werden. Das moralische Pathos der Aufklärung liegt in der Absage an jede Form von Heuchelei und damit im Streben nach absoluter Wahrhaftigkeit, deren Maßstab das Gewissen des einzelnen ist. Bei Lessing lesen wir: „Ein Mann, der Unwahrheit, unter entgegengesetzter Überzeugung, in guter Absicht, ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich mehr wert, als ein Mann, der die beste edelste Wahrheit aus Vorurteil, mit Verschreiung seiner Gegner, auf alltägliche Weise verteidiget.” Wahrhaftigkeit ist in den letzten zwei Jahrhunderten ein Leit-Begriff für den Protestantismus geworden. Das bedeutete immer, und jetzt wieder im besonderen Maße, ein Sich-selbst-in-Frage-Stellen. Über dem Streben nach Wahrhaftigkeit steht heute aber offenbar der Wille, Freiheit zu verwirklichen, nicht nur die Freiheit, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen” (Kant). Selbstbestimmung des einzelnen Menschen, Mitbestimmung in den gesellschaftlichen Verhältnissen, Religions- und Gewissensfreiheit - dies alles liegt in der Linie der Freiheit, die schon dem 18. Jahrhundert als Ideal vorschwebte. Aber sowohl Wahrhaftigkeit als menschliche Tugend wie Freiheit - sei es „bürgerliche” oder „sozialistische”, der Unterschied ist nur von relativer Bedeutung - gehören, um eine Unterscheidung Dietrich Bonhoeffers aufzugreifen, nicht zu den „letzten”, sondern zu den „vorletzten Dingen”. Der Christ rechnet damit, daß es Offenbarung gibt. Er fragt nach dem Anspruch der Wahrheit, die wir nicht mitbringen, und wartet auf die Freiheit, die Gott uns schenken will, unabhängig von menschlichen Herrschaftsverhältnissen und Freiheitsräumen. Den Weg zu dieser Freiheit finden wir im Neuen Testament (Joh. 8, 31.32) vorgezeichnet: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit wird euch frei machen.” Die Freiheit, die Christus meint, ist nicht von unserer Vernunft abhängig. Diese letzte Freiheit meint auch Bonhoeffer in seinem schönen Gedicht „Stationen auf dem Wege zur Freiheit”, in dem es schließlich heißt: „Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit, Tod ...” Aufklärung führt nie über Vorletztes hinaus, und wenn sie meint, Letztes erreichen zu können, dann hat sie ihre Grenze nicht erkannt. Die Mündigkeit des Christen und darum auch die Mündigkeit der „Christengemeinde” (falls diese mehr ist als „Bürgergemeinde”) ist ein geistlicher Wert. Sie zeigt sich in Glaube, Hoffnung und Liebe und wird allein durch Gottes Heiligen Geist ermöglicht. Zur Mündigkeit der Welt brauchen wir den Heiligen Geist nicht. Ganz gewiß ist es wünschenswert, daß ein mündiger Christ auch ein weltlich mündiger, aufgeklärter Zeitgenosse ist. Seine Mündigkeit als Christ ist nur dann in Frage gestellt, wenn er trotz hinreichenden Verstandes Aufklärung auch in ihren Grenzen verachtet. Aber es gilt auch umgekehrt: Einer, der in nicht selbstverschuldeter - säkularer - Unmündigkeit lebt, kann doch ein mündiger Christ sein, ein Kranker, Alter - und sogar ein Kind. Viele Erwachsene verlieren, was ihnen als Kind noch eigen war, den Glauben, die ungeteilte Hingabe. Jesus hat zu den Kindern nicht gesagt: „So ihr nicht werdet wie die Erwachsenen ...” Er hat zu den Erwachsenen, im Sinne seiner Zeit also mündigen Menschen, gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.” Adolf von Harnack hat dieses Wort einmal als das Größte im Evangelium bezeichnet - und niemand wird bezweifeln, daß dieser bedeutende protestantische Theologe ein aufgeklärter Mensch war. Er war wohl liberal, aber kein Rationalist, denn er wußte um die Grenzen der Wissenschaft. Die Mündigkeit des Christen besteht darin, daß er vor Gott Kind sein kann, daß er mit Jesus den Ewigen als seinen Schöpfer anerkennt und ihn als seinen Vater anruft. Das Kind-Sein des weltlich mündigen, aufgeklärten Menschen vor Gott ist Unmittelbarkeit nach der Reflexion - im Unterschied zur Unmittelbarkeit des Kindes oder des „primitiven” Menschen vor der Reflexion. Hier sind als Zeugen Heinrich von Kleist mit seiner Abhandlung „Über das Marionettentheater” und Sören Kierkegaard mit seiner Unterscheidung verschiedener Existenzstadien (ästhetisches und ethisches Stadium, Religiosität A und Religiosität B) zu nennen. Aufklärung und Selbstbestimmung des Menschen werden von vielen heute als die wichtigste Frucht des Christentums angesehen. Das ist nur insoweit richtig, als es sich um jenen Bereich handelt, der „des Kaisers ist”, nämlich um die vorletzten Dinge. Ein theologischer Außenseiter, Erwin Reisner, schrieb im Jahre 1947, also vor der Welle des Neo-Rationalismus, in seinem Buch „Der Dämon und das Bild”: „Der abendländische Mensch, vor allem der des achtzehnten, neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts meinte die Dämonen überwunden oder richtiger ihre Nichtigkeit, ihr Nichtvorhandensein endlich erkannt zu haben. Aber er hat sie doch tatsächlich nur in der Weise überwunden, wie einer das Licht überwindet, der sich selbst die Augen aussticht. . . Die Heilung, wenn sich hier von einer Heilung überhaupt sprechen läßt, wurde erreicht durch chirurgische Exstirpation des magischen Organs. Das war das Geheimnis der Aufklärung und nicht etwa erst der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, sondern jener, die eigentlich die ganze abendländische Geistigkeit kennzeichnet und spätestens mit der klassischen Antike beginnt. Mit dem klaren Licht von Hellas kam gleichzeitig die metaphysische Finsternis über die Welt. .. Wir sehen die Dämonen nicht, weil wir uns selbst nicht sehen, weil wir nicht durchschauen auf unseren eigenen Grund.” Was Reisner im Blick auf die „Dämonen” sagt, das gilt auch für Gott, den wir mit unseren leiblichen Augen nicht sehen und den auch in früheren Zeiten kein Mensch je gesehen hat. (Joh.1, 18). Im Bereich der letzten Dinge, also dort, wo es um Sinn und Erfüllung unseres Lebens geht, ist die Aufklärung am Ende, und wir können nur noch auf Erleuchtung hoffen. Paul Tillich, der gewiß dem guten Geist der Aufklärung ebenso verpflichtet war wie Adolf von Harnack, schreibt in seiner Systematischen Theologie: „Der göttliche Geist, der die Gläubigen als einzelne oder als Gruppe erleuchtet, bringt ihre erkennende Vernunft in die Offenbarungskorrelation mit dem Ereignis, auf das sich das Christentum begründet.” In der „Krebsstation”, wir müssen noch einmal auf sie zurückkommen, wird von einem Jungen berichtet, der wie üblich schon in der ersten Klasse gelernt hatte, „daß Religion Opium ist, eine dreimal reaktionäre Lehre, nützlich nur für Volksbetrüger.” Nun begegnet er einer „Babuschka”, die seine Fragen beantwortet. Für sie ist Gott Wirklichkeit. Und als die Rede auf Fastenbräuche kommt („Wofür ist sie denn gut, die große Fastenzeit?”), da antwortet sie: „Daß man sich nicht den Bauch stößt, wenn man sich ganz bis zur Erde verneigt. Aber nicht nur deswegen, auch Erleuchtungen müssen sein.” Quatember 1972, S. 9-13 |
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