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Laienrede im Pfarrkonvent
von Heinz Beckmann

LeerWir leben in einem Zeitalter der Resolutionen. Zum Glück zwingt uns niemand, unsere sorgfältig formulierten, demokratisch diskutierten Resolutionen aus den vergangenen Jahren noch einmal zu lesen und zuzusehen, was daraus geworden ist. Sonst könnten wir vor lauter Schwermut überhaupt nicht mehr leben, auch keine Resolutionen mehr verfassen. Vor dreizehn Jahren hat die Lutherische Generalsynode nahezu einstimmig die folgende Resolution verabschiedet, in leider sehr wörtlichem Sinn verabschiedet, wie wir gleich sehen werden. Die Resolution lautete: „Der uferlos gewordene Dienst des Pfarrers bedarf wieder klarer Akzentsetzung. Der Pfarrer muß das gute Gewissen und die Möglichkeit bekommen, sich stärker auf seinen eigentlichen Auftrag zu beschränken und zu konzentrieren. Aller Dienst in der Gemeinde, der nicht ausschließlich dem Pfarrer zukommt, ist Aufgabe der Laien.” Das war eine schöne Resolution, doch leider bloß eine Resolution. Der Dienst des Pfarrers wurde seitdem nur uferloser, und niemand will begreifen, daß ein Strom ohne Ufer versickert oder Schaden stiftet. Schon vor dreizehn Jahren hatten wir in dieser Sache Alarmstufe eins. Heute kümmert sich niemand mehr um den Alarm, aber vielleicht auch niemand mehr um den Pfarrer und dessen Dienst. Ich weiß gar nicht, woher wir eigentlich den Mut nehmen, uns über die Zeit des sogenannten Kulturprotestantismus zu mokieren, als die evangelischen Pfarrer sich mit einem ungeheuren Eifer in die Kulturaufgaben ihrer Zeit stürzten und darüber ihren eigentlichen Auftrag versäumten. Heute nennt man den gleichen eifrigen Betrieb nicht mehr Kulturprotestantismus, sondern Engagement an die Welt. Dabei scheint mir die Vokabel Welt höchst verräterisch zu sein, denn bislang war der Adressat der frohen Botschaft immer noch der Mensch.

LeerDoch ehe wir so streitbar in den Dialog zwischen einem Laien und dem Bild des Pfarrers in unseren Tagen eintreten, möchte ich zur Einstimmung in unser Thema fünf kleine Geschichten erzählen, fünf konkrete Fälle, die geeignet sein könnten, uns nachdenklich zu machen.

LeerDie erste Geschichte: Die Synode der EKD hatte sich für ihre letzte Tagung in Frankfurt den sogenannten Bildungsplan als Hauptthema vorgenommen. Schon frühzeitig protestierte ein vom Rat der EKD berufener Synodaler, der Hamburger Theologieprofessor Helmut Thielicke, gegen dieses allzu weit gefaßte Thema. Er meinte, es sei höchste Zeit, daß die Kirche sich auf ihren Synoden endlich ihren spezifischen Aufgaben zuwende, nämlich der Verkündigung und der Glaubensunterweisung. Helmut Thielicke teilte dann mit, daß er nicht zur Synode kommen werde. Er wolle die Zeit angemessener nutzen, indem er mit einer Gruppe junger Menschen die Glaubensunterweisung in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis fortsetze. Die zweite Geschichte ist sozusagen eine Umkehrung der ersten Geschichte. Vor wenigen Monaten hat in Niedersachsen ein Jugendpfarrer sein kirchliches Amt aufgegeben und ist in den Dienst des städtischen Jugendamtes eingetreten, weil er dort ungleich größere Möglichkeiten einer gedeihlichen Jugendarbeit habe. Diese Geschichte ist eine tückische Geschichte, doch gerade deswegen sehr geeignet, uns die Augen zu öffnen. Der Dienst eines Jugendpfarrers unterscheidet sich in seinen Unternehmungen oft kaum noch von dem Dienst eines staatlichen Jugendamtes, das in der Tat dazu weit größere Möglichkeiten und Mittel hat. Auch scheint es mir bei unserem so laut propagierten Engagement an die Welt allmählich angezeigt zu sein, daß wir dieser Welt mit einigem Respekt begegnen und uns der Segnungen der Säkularisation für die Kirche erfreuen. Die Welt sorgt dafür, daß der Pfarrer sich allen Ernstes auf seinen eigentlichen Auftrag konzentrieren könnte.

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LeerDazu folgt die dritte Geschichte, die Geschichte eines Pfarrers, der seine Gemeinde wissen ließ, daß er für jedermann zu jeder Zeit zu sprechen sei. In seiner Mitteilung an die Gemeinde fügte der Pfarrer hinzu, daß er meist ziemlich spät zu Bett ginge, kaum je vor Mitternacht. Solange also in seinem weithin sichtbaren Pfarrhaus noch Licht brenne, könne man zu ihm kommen, auch noch um Mitternacht. Die vierte Geschichte ist die Geschichte eines Medizinstudenten, der während seines Studiums pflichtgemäß mehrmals auf kurze Zeit in Krankenhäusern arbeitete, daraufhin sein Medizinstudium abbrach und mit dem Studium der Theologie begann. In den Krankenhäusern war ihm das inwendige Elend vieler Menschen heute begegnet, ein Elend, eine schreiende Not, deren Heilung ihm dringlicher erschien als die Heilung der Krankheiten.

LeerDie fünfte Geschichte ist eine ziemlich bekannte Geschichte, jener geheimnisvolle Vorfall nämlich während der ersten Messe des jüngst geweihten Priesters Martin Luther, der während der Messe plötzlich stockte, weil er sich fragte: „Wer ist der, mit dem du da redest?” - weil er also verstört überrascht wurde von der Ungeheuerlichkeit seines Tuns.

LeerDas wären die fünf Geschichten zur Einstimmung in unseren Dialog zwischen einem Laien und dem Bild des Pfarrers heute, und da wir mit der fünften Geschichte gerade an Martin Luther gerieten, muß hier wohl hinzugefügt werden, daß nach dem Willen der Reformation der Laie nicht annähernd so weit entfernt ist vom Pfarrer, wie er es heute zu sein scheint. Nimmt man Luthers Vorstellung von der Kirche als des heiligen Häufleins wirklich ernst, dann kann es sich bei unsrer Betrachtung gar nicht um einen Dialog zwischen zwei ganz verschiedenen Menschenarten oder Christenarten handeln, sondern zuletzt eigentlich nur um eine gemeinsame Besinnung auf den Stand des Christen in dieser Welt. Um der notwendigen Ordnung willen ist der Pfarrer delegiert, nach besonderer Zurüstung in spezifischer Weise den Auftrag des Christen wahrzunehmen. Aus dieser Meinung Luthers vom Amt des Pfarrers haben sich manche moderne Abwertungen des Pfarramtes abgeleitet bis hin zu der seltsamen Verkehrung, die im Pfarramt nur einen Beruf wie jeden anderen, einen Akademikerberuf mit Pensionsberechtigung sehen will. Für diese modernen Auffassungen vom Amt des evangelischen Pfarrers gibt es kein schlimmeres Schreckwort als die katholische Amtsbezeichnung „Priester”. Dies eben wollen viele Pfarrer beileibe nicht sein.

LeerMerkwürdig bleibt dabei nur, daß Martin Luther, sobald er über die gleiche kirchliche Verantwortung des Laien und des Predigers handelt, immer von einem allgemeinen Priestertum spricht. Ein Pfarrer ist demnach schon vor seiner Ordination Priester, er ist Priester als Christ und wird von der Gemeinde nach der Ordination in sein Amt gewählt, gerufen, ausgesondert, um das allgemeine Priestertum in ganz besonderer Weise wahrzunehmen, sein ganzes Leben dranzugehen an dieses Priestertum.

LeerNun leben wir heute nicht nur in einer Zeit der Resolutionen, sondern auch der abstrakten Diskussionen und Streitgespräche. Wir sprachen eben von der Ordination. Sie ist ein Fixpunkt solcher abstrakten Auseinandersetzungen, die in diesem Punkt deshalb abstrakt genannt werden müssen, weil sie der Ungeheuerlichkeit des Pfarramtes selbst dann nichts abhandeln könnten, wenn sie die Ordination eines Tages zur Strecke gebracht hätten. Ein Pfarrer, der nicht auf irgendeine Weise und von Zeit zu Zeit immer wieder jenen geheimnisvollen Vorgang bei Luthers erster Messe durchlebt, hat ganz gewiß seinen Beruf verfehlt. Haushalter Gottes zu sein, wie Paulus es an Titus schrieb, scheint mir nun doch bis zur Unerträglichkeit ein außergewöhnlicher Beruf zu sein, und der Laie hat mehr als nur Verständnis für die andauernden Fluchtversuche aus der Ungeheuerlichkeit dieses Amtes, die sich in unseren Tagen vor allem darin bekunden, daß man ein Haushalter der Welt zu werden versucht.

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LeerPrüfen wir doch einmal jene verblichene und vergebliche Resolution der Lutherischen Generalsynode vor dreizehn Jahren und fragen uns, was denn eigentlich die Dienste sind, die ausschließlich dem Pfarrer zukommen, also im Regelfall nicht von Laien wahrgenomen werden können. Das fängt an bei der Verkündigung des Wortes Gottes - was ist das für eine Anmaßung, Gottes Wort verkündigen zu wollen! Eine Ordination, in welcher Form auch immer, will mir dagegen reichlich harmlos erscheinen. Es sind die Dienste des Pfarrers, die ihn aussondern, nicht die Ordination. Ja, die Predigt - das ist auch so ein beliebter Diskussionsgegenstand, und rasch läßt man sich dabei aufs Glatteis führen, weil man nicht merken will, daß die meisten Anwürfe gegen die Predigt heute Anwürfe gegen das Wort Gottes sind, das die Leute nicht mehr hören mögen. Hat man sich erst einmal auf dieses Glatteis begeben, dann befindet man sich ständig in der Gefahr, vom Wort Gottes auf die eigene Meinung umzuschalten - und das ist nun allerdings der denkbar schlimmste Mißbrauch des Gottesdienstes, daß sich ein Prediger auf die Kanzel stellt und den Leuten seine eigene Meinung einredet.

LeerIch fände es herrlich, wenn eines Tages ein Pfarrer auf der Kanzel sagte, er wäre mit seinem Predigttext nicht zurechtgekommen, er könne nicht begreifen, daß so etwas in der Heiligen Schrift stünde, aber es stünde nun einmal dort. Leider erlebt man aber meistens nur den umgekehrten Fall, daß nämlich der Pfarrer zum Lehrmeister der Heiligen Schrift wird, daß er den Predigttext solange umwendet, bis er mit seiner eigenen Meinung übereinstimmt. Natürlich denkt man jetzt sofort an die sogenannte politische Predigt, die zweifellos geboten ist, zumal sie von der Heiligen Schrift herausgefordert wird. Gerade die politische Predigt aber muß unter allen Umständen Verkündigung des Wortes Gottes bleiben, muß notwendiges Wort der Kirche sein und nicht die politische Meinungsäußerung dieses oder jenen Pfarrers.

LeerVielleicht darf ich das an einem konkreten Fall verdeutlichen. Man kann zum Beispiel aus politischen Gründen hier und jetzt verschiedener Meinung sein über die Politik der Rassentrennung in der Südafrikanischen Union - man kann jedoch vom Wort Gottes her nicht verschiedener Meinung sein über die Rolle der Kirche und des allgemeinen Priestertums der Gläubigen in dieser Rassentrennung. Gerade in der Südafrikanischen Union hätten ja Kirche und allgemeines Priestertum Chancen genug, die Rassentrennung zu ihrem Teil aufzuheben, zu überwinden oder zu unterwandern. Aber indem wir das so sagen, müssen wir unsere politische Predigt sehr scharf abgrenzen gegen das gerade unter Christen heute so weit verbreitete politische Pharisäertum. Die südafrikanischen Farmer könnten uns nämlich fragen, wo und wie denn wir eigentlich während des Dritten Reiches die Rolle der Kirche und des allgemeinen Priestertums der Gläubigen auf uns genommen haben als das Kreuz, das uns verheißen wurde für unseren Pilgerweg durch diese vorläufige Welt. Es ist sehr leicht, sich gegenüber den Christen in der Südafrikanischen Union erhaben aufzuspielen in der Frage der Rassentrennung und dabei einfach zu unterschlagen, daß wir in einem weit schlimmeren Fall auf das schändlichste versagt haben.

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LeerIch denke, es ist mit Händen zu greifen, wieviele andere politische Beispiele hinter diesem einen konkreten Fall aufleuchten. Es geht mir dabei um die Vollmacht der Predigt. Diese Vollmacht macht sich zwar abhängig von den Gaben, von den Talenten des Predigers, niemals jedoch von den persönlichen Überzeugungen des Predigers. Ein nur mäßig begabter Prediger ist kein Grund, nicht zum Gottesdienst zu gehen. Ich fühle mich aber von jedem Gottesdienst dispensiert, in dem ein Prediger die Kanzel mißbraucht, um seine eigenen Meinungen zu verkündigen - oder, um es mit Luther zu sagen: blaue Enten zu predigen.

LeerDas war der erste, ausschließlich dem Pfarrer zukommende Dienst, der Dienst der Wortverkündigung, der beinahe allein schon genügte, um eine volle Berufswoche auszufüllen. Es folgt, um bei der Ordnung zu bleiben, die Austeilung der Sakramente, also Taufe und Abendmahl. In vielen Disputen mit katholischen Gemeinden und Theologen habe ich bei dem dann unvermeidlich auftauchenden Amtsverständnis immer wieder die Frage vorgebracht, ob der evangelische Pfarrer eigentlich lüge oder heuchle, wenn er bei der Austeilung der Sakramente behaupte, daß er dies auf Befehl und an Stelle unsres Herrn Jesus Christus tue. Eine Antwort habe ich darauf niemals bekommen. Es ehrt die katholischen Gesprächspartner, daß sie auf eine solche Frage stocken, zum mindesten zurückscheuen und schweigen. Nur leider ist mir bei dieser scharfen Frage nicht ganz wohl, denn wenn ich mir das sogenannte Amtsverständnis mancher Pfarrer heute anhöre, dann dürfte ich jene scharfe Frage eigentlich gar nicht mehr stellen. Anstelle Jesus Christus etwas zu tun, das läßt sich mit einer gewöhnlichen Berufsausübung nun wirklich nicht zusammenreimen. Es ist zwar merkwürdig, aber es ist so, daß heute der Laie den Pfarrer auf die Außergewöhnlichkeit, auf die Ungeheuerlichkeit seines Amtes aufmerksam machen muß. Und hier wäre ganz still eine Bitte anzufügen an alle jene Pfarrer, die Schwierigkeiten mit dem Sakrament haben, Schwierigkeiten, die zu respektieren sind - aber sie möchten dann doch bitte die Austeilung der Sakramente einem Amtsbruder überlassen. Ich kann und will das nicht beweisen, doch komme ich über das ungute Gefühl nicht hinweg, daß bei mancher Taufe und bei manchem Abendmahl die radikale Ehrlichkeit und die Schärfe des Gewissens beim Pfarrer abgeblendet werden.

LeerBislang haben wir uns nur beim Gottesdienst aufgehalten, wobei das Wörtlein „nur” für meine laienhafte Vorstellung vom Amt des Pfarrers an Blasphemie grenzt, und zwar aus dem einfachen Grund, weil der Pfarrer als der Vater seiner Gemeinde darum besorgt sein müßte, daß die Christen in seiner Gemeinde ihr Leben als Gottesdienst leben. Das können sie aber nur, wenn sie erfahren haben, was Gottesdienst ist. Wir klagen heute mit Recht über den rapiden Schwund an Gottesdienstbesuchern, und so gerät dann der Pfarrer in die Versuchung, den Gottesdienst nicht mehr für vordringlich zu halten, ja eher für ein lästiges Übel, das man um der Gewohnheit willen, um der alten Mütterchen willen noch fortsetzen müsse. In Bremen wurde jüngst das Gemeindezentrum der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde eröffnet, und zwar nicht mit einem Gottesdienst, sondern mit einer Party. In dieser Gemeinde sind die Gottesdienste bereits seit zwei Jahren ohnehin abgeschafft. Nach der Eröffnungs-Party am Samstag traf man sich um die Zeit des sonntäglichen Gottesdienstes zu einem Frühschoppen. Sonst wird in der Gemeinde der Gottesdienst jeweils am Sonntagabend durch sogenannte Seminarreihen zu bestimmten Themen ersetzt. Das alles ist natürlich schick modern, riecht wiederum nach Kulturprotestantismus und erst recht nach der heute so verbreiteten intellektuellen Arroganz. Dafür zeugt schon die Seminarreihe als Ersatzhandlung für den Gottesdienst.

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LeerAngesichts dieses extremen Falles kann ich nur das wiederholen, was eine ihrer Kirche tief verpflichtete Frau vor der letzten Synodalversammlung der EKD ausgesprochen hat. Sie hatte als evangelische Delegierte an dem katholischen Frauenkongreß in Rom teilgenommen und sagte, sie hätte ihre katholischen Schwestern darum beneidet, daß sie jeden Tag des Kongresses mit einer Messe begannen. Ein Tag, so sagte die Synodale, sei ein ganz andrer Tag, wenn man ihn mit einem Gottesdienst anfinge. Ich erzähle das deswegen, weil wir uns allmählich wohl doch einmal Gedanken darüber machen müßten, ob nicht einer der Gründe für den rapiden Schwund an Gottesdienstbesuchern darin besteht, daß wir zu selten Gottesdienst feiern. Diese eine Stunde am Sonntagmorgen kann man dem lieben Gott ja schließlich auch noch wegnehmen. Wenn aber, um beim Pfarrer zu bleiben, der Pfarrer nicht bereit ist, notfalls auch allein Gottesdienst zu feiern und den Steinen zu predigen - dann allerdings brauchen wir keine Pfarrer mehr, sondern nur noch gescheite Referenten für die Seminarreihe.

LeerInzwischen feiern dann junge Menschen ihren Gottesdienst anderswo. Angesichts gewisser Bewegungen unter jungen Menschen, die vorerst zwielichtig sein mögen und vielleicht als bloße Mode verwehen werden, frage ich mich doch: was machen wir eigentlich, wenn es eines Tages tatsächlich zu einer Erweckungsbewegung kommt? Indem ich so frage, wird mir deutlich, daß wir beinahe alle das Aufkommen einer Erweckungsbewegung für ausgeschlossen halten - vermutlich würde sie uns sogar peinlich berühren. Roger Schutz aber, der Prior der Bruderschaft von Taizé, der beileibe kein Schwärmer ist, doch seit Jahren Umgang hat mit Tausenden von jungen Menschen aus aller Welt, sagt in dem jüngsten Brief aus Taizé: „Der Frühling der Kirche steht vor der Tür!” Was machen wir dann?

LeerAber nun zurück zu den Diensten des Pfarrers, zu denen sofort nach und mit dem Gottesdienst das gehört, was Luther die rechte Seelsorge nennt und folgendermaßen beschreibt: „Besuchung und Tröstung der Pfarrkinder, aller Kranken, aller Kleinmütigen, Angefochtenen, betrübten und bestürzten Gewissen...” - wir kommen also zu dem, was jenen Medizinstudenten in das Theologiestudium trieb. Hier muß ich mich energisch an die Leine nehmen, um nicht ausfällig zu werden. Wenn ich mir anschaue, was in meinem, verhältnismäßig kleinen Umkreis an Nachbarn, Bekannten, Freunden, Berufskollegen und Verwandten heute so los ist an innerem Elend, an barer Ohnmacht und Stümperei gegenüber dem Leben, in der Ehe, mit den Kindern, im Beruf - und schlichtweg auch an offenkundiger, erkannter oder meist nicht erkannter Heilsnot, dann wird mir der ganze Betrieb und Terminkalender eines Pfarrers unsrer Tage unbegreiflich. Der moderne Mensch ist an Anonymität gewöhnt. Ihm geht seine Not nicht leicht über die Lippen. Man muß sie erst aufstöbern - und dies halte ich für eine der größten lebendigen Kräfte der frohen Botschaft, daß sie dort, wo sie recht verkündigt wird, die verborgenen Nöte des Menschen aufstöbert, die ihn am Leben hindern.

LeerIn diesem Dienstbereich des Pfarrers, den man Seelsorge nennt und heute nicht mehr gern groß schreibt, gibt es in Sachen der Verkündigung sogar merkwürdige Wechselwirkungen. Wenn ich landauf und landab, wo ich denn gerade in der Kirchenbank sitze, eine außergewöhnlich gute, fast hätte ich gesagt: eine erleuchtete Predigt höre, so steht hinter einer solchen Predigt meistens und hörbar eine starke Seelsorgepraxis. Der Mann auf der Kanzel hat sein Bild vom heutigen Menschen nicht aus Zeitungen, Zeitschriften, nicht vom Fernsehen oder von problembewußten Akademietagungen heimgetragen, sondern aus der ganz unmittelbaren, täglichen Tuchfühlung mit der menschlichen Wirklichkeit, aus seinem Amt als Menschenfischer.

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LeerSchaut man sich die geballte Not des heutigen Menschen an, dem das Leben, das alltägliche Leben nicht mehr gelingen will - so stößt man immer wieder auf die Tatsache, daß diese bedrängten Menschen ausweglos in ihre Nöte verheddert sind, daß sie keine Distanz finden zu ihren Nöten - auch keine Distanz, um ihre eigene Schuld in und an diesen Nöten zu begreifen. Sie beschuldigen immer nur den anderen, in verstörten Ehen zum Beispiel oder in dem Bruch zwischen den Generationen. Diese Distanz kann ihnen heute in vielen Fällen nicht einmal mehr der Pfarrer geben, denn nicht einmal der Pfarrer kennt noch das, was wir einst geistliches Leben nannten. Ab und an erklingt der Ruf, die Kirche müsse ihre geistlichen Erfahrungen weitergeben an die Welt. Aber die Kirche hat doch gar keine geistlichen Erfahrungen mehr - gerade da ist sie entsetzlich ausgedörrt, weil sie immer auf Welt macht, aber dieser Welt nur helfen könnte, wenn sie auf Kirche machte, Kirche lebte.

LeerWir alle, gescheit wie wir uns haben, registrieren heute einen starken Trend zum Widerstand gegen die völlig rationalisierte, technisierte und geplante Welt - ein heißes Verlangen nach einem anderen Leben, als es die moderne Gesellschaft noch zu bieten vermag - dieser Widerstand, dieses Verlangen wächst, das wissen wir alle. Nur begreifen wir überhaupt nicht, daß dies eine Stunde der Kirche sein könnte, denn wir sind noch mit dem Engagement von gestern beschäftigt, wir sind dem Menschen nicht nahe genug, um mit seismographischer Empfindsamkeit die Vorzeichen eines Erdbebens im inneren Bereich des Menschen wahrzunehmen.

LeerWas aber bedeutet dies für das Amt des Pfarrers. Ich wage es kaum auszusprechen, aber es muß sein: der Pfarrer müßte in dieser hektischen, vor sich selbst davonlaufenden Gesellschaft der einzige Mensch sein, der Zeit hat, sehr viel Zeit, wenn es sein muß, und es muß sein, sobald es um Menschen geht. An diesem Punkt - wenn ich also um des geistlichen Amtes willen darauf bestehe, daß der Pfarrer Zeit hat, würde ich sogar Ungehorsam gegen die kirchlichen Behörden empfehlen, die immer eine Neigung haben, den Pfarrer zu einem pensionsberechtigten Gemeindebeamten zu degradieren. Und zu der Zeit gehört der Ort - der Pfarrer braucht auch den Ort für seine Begegnung mit den Menschen, denn er hat ihnen den einzigen freien Raum anzubieten, der heute verfügbar wäre für den sozusagen inwendigen Menschen. Was ich mit Zeit und Ort meine, darf ich an einem vielleicht überspitzten Beispiel verdeutlichen: Wie wäre es denn, wenn man den Pfarrer um die Stunde des Vesperläutens in seiner Kirche oder in seiner Sakristei wissen dürfte, im Gebet vielleicht und daher wachsam genug, diesen oder jenen Menschen aus seiner Gemeinde nun in besonderer Weise anzuhören, also nicht an seinem Schreibtisch, auf dem ein Telefon steht, und das Telefon klingelt. Das Arbeitszimmer des Pfarrers ist für manche Bedrängnis, zum Beispiel des Gewissens, sicher nicht der rechte Ort - und nun könnte man in die Kirche gehen, wo man den Pfarrer im Stand des geistlichen Lebens weiß - und dort fiele manches von selbst ab, womit der Pfarrer in seinem Arbeitszimmer behelligt wird - es würde manchem Menschen womöglich genügen, sich neben den Pfarrer zu stellen und mit ihm zu beten. Was er eigentlich an den Pfarrer hinreden wollte, wäre dann der Rede nicht mehr wert.

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LeerUnd da wir uns mit dem Pfarrer beim Vesperläuten nun gerade in der Kirche befinden, muß wohl doch auch noch daran erinnert werden, daß der Apostel Paulus in seinem Brief an Titus nicht nur das ungeheuerliche Wort von dem Haushalter Gottes geschrieben hat, sondern auch dies zur Ermahnung: „auf daß sie gesund seien im Glauben!” Mit der Gesundheit im Glauben, scheint mir, scheitert es bei den meisten Christen heute schon beim Kleinen Katechismus - da es aber dort, aus ganz anderen Gründen, oft auch beim Pfarrer scheitert, bestehen keine allzu großen Hoffnungen auf die Gesundheit im Glauben. Es ist, um es deutlich zu sagen, einfach haarsträubend, was heute als angeblich christlicher Glaube geglaubt wird. Damit sind wir weiß Gott miserabel gerüstet auf einen möglichen Frühling der Kirche. Und nun mögen wir wackere Protestanten noch so viele, berechtigte Anstände gegen das unfehlbare Lehramt des Bischofs von Rom haben - das Lehramt in der Gemeinde gehört unbestritten zu den Aufgaben des Pfarrers, eine Aufgabe, die heute beinahe einen Herkules im Augiasstall erfordert, falls der Pfarrer es nicht besser weiß und daher nicht zum Arzt, sondern nur noch zum Kurpfuscher des Glaubens taugt.

LeerAlle Welt redet heute davon, daß die Menschen unsrer Tage, bewußt oder unbewußt, von der Sinnfrage heimgesucht werden. Sehr ernsthafte Wissenschaftler, Ärzte und Fürsorger, die sich weit außerhalb der Kirche in die Pest des Drogenmißbrauchs unter vornehmlich jungen Menschen bücken, kommen immer wieder zu diesem Ergebnis, daß da ein leerer Raum in den jungen Menschen ausgefüllt werden will, daß es die ganz und gar unbeantwortete Sinnfrage sei, die die jungen Menschen krank macht. Nun schätze ich den Ausdruck „Sinnfrage” nicht übermäßig, weil er angesichts der Kirche unterstellt, daß die frohe Botschaft einen ablesbaren, jederzeit griffbereiten und verfügbaren Sinn des Lebens verkündige. Sie verkündigt nichts anderes als das Leben aus Gottes Hand - und das möchten die Menschen gerne sehen, gerne erfahren - so einfach ist das mit dem Pfarramt und dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen. Um der Welt willen, der er helfen möchte, um der Menschen willen, zu denen er gesandt ist, muß der Pfarrer, heute erst recht, ein Geistlicher sein, auch wenn er das gar nicht gerne hört und in vielen Fällen ständig versucht, sich aus dem geistlichen Bereich seines Amtes davonzumachen. So kann denn in einer Laienrede an die Pfarrer eigentlich nichts anderes vorkommen als die brüderliche Bitte: Habt doch den Mut, wieder Pfarrer zu sein, und nicht so viel protestantische Angst, daß wir euch für Geistliche halten könnten. Wir brauchen Geistliche, damit wir gesund und selig werden.

Quatember 1972, S. 19-26

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-10
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