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Das geistliche Wort: Die große Freude
von Wilhelm Stählin

LeerDie Geschichte vom Ostermorgen, wie sie uns der Evangelist Matthäus erzählt, hat in der Tradition der Kirche ihren liturgischen Ort in der nächtlichen Feier der Auferstehung, und wir haben in unserer Ordnung für die Feier der Osternacht diese Tradition beibehalten: In der Messe, die sich an die nächtliche Feier anschließt, wird als Evangelium die Ostergeschichte nach Matthäus gesprochen oder gesungen. Dieses Evangelium enthält die überraschende Wendung, daß die Frauen vom Grab hinweg eilten zu den Jüngern „mit Furcht und großer Freude”. Dieser Ausdruck „große Freude” klingt uns im Ohr aus der Weihnachtsgeschichte von den Hirten auf dem Felde, zu denen der im Lichtglanz erscheinende Bote des Herrn sprach: „Ich verkündige euch große Freude”. Wer jemals die Historie von der Geburt des Herrn, wie sie Heinrich Schütz vertont hat, auf sich hat wirken lassen, wird nie vergessen, mit welchem überschwänglichen Jubel Heinrich Schütz diese Worte unterstrichen hat: „große Freude”. Aber auch von den Hirten, zu denen die Botschaft von der großen Freude kam, heißt es unmittelbar vorher: „Sie fürchteten sich sehr”. Das Wort von der großen Freude steht am Beginn und am Ende der evangelischen Geschichte; das ganze Evangelium ist gleichsam eingerahmt von dieser großen Freude; aber beidemal steht die große Freude in der engsten Nachbarschaft der großen Furcht.

LeerWovor haben sich die Hirten auf dem Felde und die Frauen am Grab „gefürchtet”? Es drohte ihnen doch, menschlich gesprochen, keine Gefahr, und es gab nichts, wovor sie sich hätten fürchten müssen. Aber diese „Furcht” greift tiefer als die Furcht vor irgendeiner bedrohlichen Gefahr. Hier wie dort waren die Menschen, jene Hirten und diese Frauen, in der Tiefe ihrer Existenz erschüttert von dem, was sie gesehen und gehört hatten. „Die Klarheit des Herrn”, wie Luther übersetzt hat, ist eine sehr abschwächende Redeweise für das, was den Hirten widerfahren war: Der Lichtglanz der himmlischen Majestät umstrahlte sie. Wie sollten sie nicht erschrecken und sich fürchten in solcher Begegnung? Und von der „Gestalt” des Engels, der den Frauen im Grab des Herrn erschien, heißt es: was von ihm zu sehen war, war nur zu vergleichen einem Blitz. Wie sollten sie nicht zu Tode erschrecken, wenn in der dunklen Grabkammer statt des Leichnams, um des willen sie gekommen waren, das blendende Licht eines Blitzes sie traf? Und das Wort, das sie „aus des Engels Munde” vernahmen, ist jedenfalls nur geeignet, in der Erschütterung dieses unerträglichen Glanzes ihre ganze bisherige Welt versinken zu lassen.

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LeerDenn wenn der Engel sagt: Er, den ihr lieb hattet, und dem ihr hier an der Stätte des Todes Ehre und Liebe erweisen wolltet, „ist nicht hier”, dann ist mit diesem „Hier” nicht nur das Grab, die Stätte des Todes, gemeint, sondern die ganze vertraute sichtbare Welt, jeder Ort, den man aufsuchen könnte; es gibt kein „dort”, zu dem man aus diesem entleerten „Hier” fliehen könnte. Von jedem anderen Ort würde es ebenso heißen, daß Er „hier” nicht sei. Aber wie soll der Mensch dem begegnen, was keinen Ort hat in dieser sichtbaren Welt, kein Hier oder Da, wo man es suchen und sehen kann? Wo sollen sie selber, die erschrockenen Frauen, mit ihrer Liebe bleiben, wenn der, den sie suchen und den sie ehren wollen, weder hier noch irgendwo ist, nicht mehr im irdischen Raum, nicht mehr im Bereich dessen, was man sehen und erfahren kann?

LeerIn gewissem Sinn bedeutet die Botschaft des Engels an die Hirten das genaue Gegenteil. Denn sie werden auf den Weg gewiesen, auf den Weg nach Bethlehem: „Da werdet ihr finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.” Es heißt von diesen Hirten nach der genauen Übersetzung: „Laßt uns nun hinübergehen bis nach Bethlehem” (transeamus usque Bethlehem); als ob das ein weiter und schwieriger Weg wäre. Aber wieviel weiter und wieviel schwieriger ist der Weg, der jenen Frauen zugemutet wird, nicht von einem Grab hinweg an einen anderen Ort, sondern aus jedem Hier und Dort in eine Wirklichkeit ohne Ort in dieser Welt! Aber auch jene Hirten hatten Grund genug zu erschrecken; denn das Wort von dem „Heiland”, eigentlich heißt es „Retter”, der „heute geboren ist”, läßt die ganze ausweglose und hoffnungslose Misere der Menschheit in Leiden und Tod und Sünde und Schuld ahnen, unter der sie alle seufzen, auch wenn sie sich über die Tiefe dieser Not noch täuschen.

LeerWenn wir aus dem wahrhaft Erschreckenden und Furchtbaren eine freundliche Idylle mit süßer pastoraler Musik machen, dann betrügen wir uns nicht nur um die Furcht, sondern auch um die große Freude der Weihnachtsbotschaft. Denn billiger ist die große Freude nicht zu haben. Haben wir überhaupt ein Organ für die große Freude der Weihnachtsbotschaft und für die noch größere Freude der Osternacht? Wollen wir die Freude um einen billigeren Preis haben, als daß wir erschrecken und uns sehr fürchten, weil wir armselige Menschen sind? Haben wir vielleicht die große Freude verloren, weil wir das Grauen, das Goethe für der Menschheit bestes Teil gehalten hat, ausschalten, überblenden und übertönen wollten? Sind wir blind geworden für das „große Wunder”, das Gott getan hat, weil wir nicht mehr „die mühseligen Sünder” sein wollen, die wir doch sind?

LeerSolange wir Menschen sind, wird immer beides miteinander verbunden sein, Furcht und große Freude; und nur den zu Tode Erschrockenen wird erlaubt und geboten: „Fürchtet euch nicht!”

Quatember 1972, S. 65-66

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-10
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