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Das Fest der Christen
von Hans-Rudolf Müller-Schwefe

LeerDie Diskussion über den Gottesdienst hat eine Wendung erfahren. Jahrelang hat die Welt den Christen und haben die Christen sich gegenseitig die Argumente für und gegen diese Mitte des Lebens der Gemeinde um die Ohren geschlagen. Die Anklagen und Forderungen häuften und überschlugen sich. Der Gottesdienst unserer Tage, so lautete zum Beispiel die These, gleicht einer elenden Emigration von Introvertierten aus der Welt; die Gemeinde muß sich bekehren und durch den Gottesdienst zur Immigration in die Welt vorbereiten (Ernst Lange). Oder man fragte: "Ist vielleicht der liturgische Akt und mit ihm das, was Liturgie heißt, so sehr historisch gebunden, antik oder mittelalterlich oder barock, daß man sie der Ehrlichkeit wegen ganz aufgeben müßte?" (Guardini), und versuchte sich in modernen Formen der Lesungen und der Verkündigung. Oder man fand den Stil der Liturgie unmöglich autoritär und übte sich in demokratische Weisen ein, in Diskussionen und Happening. Vor allem empfand man das liturgische Spiel als eine unvertretbare Art, sich die Zeit zu vertreiben und vor dem Einsatz und der Arbeit des Alltags des Christen zu drücken; Gottesdienst ist nur als Beginn einer Aktion in der Welt zu rechtfertigen ("Politisches Nachtgebet", Köln). Schließlich, um die Liste abzuschließen, war für manche die Meßfeier der reinste Hocuspocus, im wörtlichen Sinne des Wortes: Gegenwart Gottes in einem geheimnisvollen Vollzug, das ist unmögliche Magie; sie muß schleunigst der Feier der reinen Menschlichkeit Platz machen. - So klang der Chor der Stimmen, die den Gottesdienst reformieren wollten. Und wer von uns hätte nicht mitgeseufzt und mitgestritten, mitgeeifert und mitexperimentiert.

LeerUnd nun entdeckt man erst, was eigentlich Kultus sein soll. Es ist gegangen wie bei einem mühseligen Aufstieg im Gebirge. Lange hat man sich über den Weg streiten müssen und diese oder jene Spitze für das Ziel gehalten, dem alle Mühe gilt. Plötzlich aber, bei einer Wendung des Weges, erscheint ein fernes weißes Haupt im Kranz von Spitzen, und jedermann weiß unmittelbar gewiß: das ist das Ziel. So diskutierten wie lange über das Wesen des Gottesdienstes. Der eine strebte nach links, er sah die Spitze des Kultes in der Aktion; der andere bog nach rechts ab und suchte die bergende Höhle der Kontemplation oder den Fernblick auf die unerreichbare Höhe. Jetzt aber müssen diese Streitigkeiten unter den Wandernden verstummen. Es geht nicht mehr um die Alternative von Meditation oder Aktion, von mythischer oder rationaler Redeweise, von Emigration oder Immigration, sondern um die Dimension, die beide Pole und Alternativen umfaßt. Noch 1968 in Uppsala konnte es so scheinen, als ob es das Problem sei, wie der "Gottesdienst in einem säkularisierten Zeitalter" auszusehen habe. In der Nacharbeit von Uppsala aber deutet sich an, daß die Frage lautet: ob die Welt in ihrem zeitlichen Prozeß (mit dem Rhythmus von Aktion und Kontemplation, von Produktion und Phantasie, von Materie und Utopie) überhaupt zu einer kultischen Dimension sich öffnet. "Die heutige Generation ... stellt die radikalere Frage, ob Gottesdienst überhaupt möglich sei" (Lukas Vischer). Vilmos Vajta formuliert, was Gottesdienst dann sein kann: "Die Wahrung der echten Weltlichkeit der Welt in Absage an eine in sich geschlossene, ihren progressus verneinende Weltlichkeit, und in der Bejahung ihrer Offenheit als Geheimnis Gottes."

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LeerMan kann diese Wendung besonders gut an Harvey Cox studieren. Er machte sich damit bekannt, daß er für eine unbefangene und konsequente Säkularisierung und Weltveränderung eintrat, und nahm für diese gerade den christlichen Glauben als Schubkraft in Anspruch. Jetzt aber erklärt er: "Ohne meine Unterstreichung des Säkularen aufzugeben, behandle ich hier ein anderes Problemfeld, das Meditation, Mystik, Gebet und Ritual einschließt. ich betone vor allem die zweckfreie Bedeutung von Feier und Liturgie" (Harvey Cox: Das Fest der Narren). Cox sucht nun diese Fest-Dimension des Daseins nicht in der Richtung von Meditation, Spiel und Muße, wie man das bisher im allgemeinen zu tun pflegte, sondern als den Bereich, der Arbeit und Spiel, Aktion und Kontemplation umfaßt.

LeerZwei Bewegungen führte Cox aus. Einmal entdeckte er rein innerweltlich, daß gerade die ernsthafte Arbeit an der Verwandlung der Welt immer schon Imagination voraussetzt. Nur solange der Mensch jede Verwirklichung transzendiert, ist er imstande zu realisieren: "Wie einzelne ein Phantasieleben brauchen, um lebendig zu bleiben, so brauchen Gesellschaften Phantasie, um zu überleben." Die militanten Linken leben in dieser Spannung; und die Neo-Mystiker bewegen sich in der gleichen Konstellation, nur in der umgekehrten Richtung. Sie ziehen aus der Erfahrung, daß noch jede Anstrengung der Vergänglichkeit anheimfällt und Vergangenheit wird, die umgekehrte Folgerung; sie suchen nicht den Ernst der Aktion, sondern die Entlastung im Spiel, Erfüllung an der Realität vorbei. Auch die Theologie unserer Tage ist in diese Alternative eingespannt. Die radikale Theologie, wie Cox die Gott-ist-tot-Theologie nennt, läßt Gott im Augenblick aufgehen, der von jeder Realität entlastet. Die revolutionäre Theologie dagegen sieht alles im Licht einer utopischen Zukunft. Beide aber leben in der Spannung von Verwirklichung und Imagination. Dabei bestreiten diese beiden Richtungen einander, eine jede lebt von der Schwäche der anderen: "Der Fehler der radikalen Theologie war es, die gegenwärtige Erfahrung in einen göttlichen status zu erheben. Die Theologie der Hoffnung kommt einer Identifizierung Gottes mit der Zukunft gefährlich nahe."

LeerDiese Erkenntnis muß in einem zweiten Schritt zum Ziel gebracht werden. Die Versöhnung der beiden widerstreitenden Positionen liegt nicht in einem Ausgleich, sondern in einer "juxtaposition". Gerade indem beide einander bestreiten und nicht überwinden können, öffnet sich eine dritte Dimension, die sie beide umfaßt, die Dimension des "Festes der Narren". Wie der Surrealismus versucht, "die konventionellen Sinngebungen zu zerstören, neue Sinngebungen oder Sinnwidersprüche zu schaffen durch radikale Gegenüberstellung" , so muß und kann die Theologie die religiöse Dimension bezeichnen, indem sie den revolutionären Ernst bricht und den flüchtigen Mystiker an die Wirklichkeit anbindet und in Konfrontation beider den Schnittpunkt der wahren Existenz markiert als extatisches und zugleich absurdes Dasein. Also nicht in der unendlichen Annäherung an die Vollkommenheit oder im Aussteigen aus der Zeit, sondern im Schnittpunkt der Zeiten und Überzeiten liegt der Ort des Festes, des Gottesdienstes. Hier "erscheint Christus als Harlekin: Personifizierung der Festlichkeit und Phantasie". "Der Mann der Schmerzen in der Narrenkappe symbolisiert genau jene Kombination von Spaß und Ernst."

LeerNiemand wird von Cox erwarten, daß er alle Probleme löst, die uns in unserer Zeit mit ihrem Dissensus von Revolution und Weltflucht, Ethizismus und Mystik, Ernst und Spaß aufgegeben sind. Aber in zweierlei Hinsicht treffen seine Hinweise genau

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Leer1. Cox vermeidet die bloße Rückkehr zum Spielcharakter des Daseins. Er eröffnet den Freiraum des Festes in der zerreißenden Spannung von Spiel und Ernst. Wenn Jürgen Moltmann den festlichen Charakter des Daseins durch ein Übersteigen des verzweifelten revolutionären Ernstes in einer Art von Vorspiel der "ersten Freigelassenen der Schöpfung" gewinnen will, dann bleibt er hinter den Erkenntnissen von Cox zurück. Nicht schon das Vorspiel der himmlischen Vollkommenheit kennzeichnet den Gottesdienst genügend, sondern erst das gleichzeitige Austragen der tödlichen Gewichtlosigkeit der Welt im Spiel. Fest, Gottesdienst, das ist nicht einfach das Gegenlager zu Arbeit und Ernst, sondern die Explosion in der Konfrontation beider.

Leer2. Cox stellt die Gestalt Jesu in den Kreuzungspunkt von Spiel und Ernst. Er sieht in ihm den Narren der Welt, der aus der Tragödie eine "Divina Comedia" macht. Er erinnert da an Dante, der "am Ende eines mühseligen Aufstiegs aus dem Inferno, den Chor der Engel den Lobpreis der Dreieinigkeit singen hörte, und 'mi sembiana un riso dell universo' (mir schien es das Lachen des Universums)". Aber Cox weiß - über Dante hinaus? -, daß heute die eigentliche Frage lautet: Wieso ereignet sich in Jesus, in seinem Leben und Sterben nicht nur eine Exstase des Daseins, so wie Bloch sie als Selbsttranszendieren der Existenz versteht, sondern ein Aufbruch aus der Selbstverschlossenheit von Menschen und Kosmos?

LeerDamit ist die entscheidende Frage gestellt, die Frage nach dem Zerbrechen der Selbstverschlossenheit der Welt, wie sie von uns in der Spannung von Ernst und Spiel, von ethischer und ästhetischer Existenz erfahren und verwirklicht wird. ist also unser Gottesdienst eine Veranstaltung, in der der Mensch in seinen Spannungen sich selbst noch einmal übersteigt? Oder ist der Gottesdienst darum ein Fest, weil und indem Jesus unser Leben in seiner Spannung von Ernst und Spiel, von Zeitgespannsein und Zeitaufhebung durch sein Kreuz zum Leben öffnet, indem er es zerbricht und ihm eine Einheit nicht aus sich heraus gibt, sondern als Geschenk der Liebe, und so Spiel und Ernst miteinander versöhnt und ermöglicht?!

LeerHier ist von Moltmann zu reden. Er hat für meinen Geschmack die Zuordnung von Ernst und Spiel im Dasein nicht voll ausgetragen (daran hindert ihn seine Entgegensetzung von Parousia im Sinn der Griechen und Zukunft als Exodus im biblischen Verständnis), aber er kennzeichnet das Aufbrechen der Existenz genau. Das Leben wird nicht ein Spiel, indem der Mensch im Sinn von Karl Marx produktiv wird, bis dann der Umschlag aus der Arbeit in Spiel erfolgt, sondern nur im Sinn von Luther, indem Gott selbst das Leben aufbricht. Luther "findet das Humane schon darin, daß er angenommen und geliebt ist, so wie er ist. Das macht ihn frei von fremden Gesetzen und auch von sich selbst; nämlich in dem Sinne, daß er sich nicht mehr in jenem doppelten Sinne das Leben nehmen' muß, sondern es frei leben und nehmen kann". (Jürgen Moltmann: Die ersten Freigelassenen der Schöpfung.) Gerade wenn das wahr ist und auf die Spannung von Ernst und Spiel angewendet werden darf, dann stellt sich jetzt die Frage radikal: Inwiefern leistet der Gottesdienst im Namen Jesu diesen Durchbruch, diese Befreiung? Zwei Bemerkungen sind hier zu machen.

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Leer1. Unsere Lage entspricht der Situation der Osternacht, in der die Wende geschieht. Wir stehen heute in der Talsohle zwischen Karfreitag und Ostern. Der Tod des Herrn ist Wirklichkeit. Der Ernst der Revolutionäre (wie Judas) und die Flucht in den Wunsch nach Verklärung oder in die Dunkelheit des Schlafes eines Petrus haben ihn an das Kreuz gebracht. Er ist zerbrochen. Die Welt ist dunkler, als sie vorher war. Wie kann dieser unerträgliche Zustand überwunden werden? Die Kirche nimmt den Gläubigen in der Osternacht mit in Sterben und Auferstehen Christi. Sie schildert der Gemeinde zuerst die Sünde und erinnert sie an die Schöpfung und ihre Herrlichkeit. Dann bittet sie Gott, daß er es Licht werden lasse. Das Osterlicht erscheint. Die Gemeinde wird an Noah erinnert, an den Auszug aus Ägypten, an Jona im Walfischbauch und die drei Männer im Feuerofen. Das Osterevangelium wird ihr verkündigt und das Mahl wird gefeiert. Die Kraft dieses Spieles der Osternacht liegt nicht darin, daß der Mensch sein Grab selbst zerbricht, in entlastendem Gelächter oder in mystischen Durchbruch, sondern darin, daß gilt, was berichtet wird, daß Jesus den Zerbruch der Spannung für den Menschen getragen hat und ihn so aus seiner Selbst- und Weltverschlossenheit befreit. Darum feiern wir in dieser Nacht das Gedächtnis unserer Taufe: Die "Tradition", die uns bestimmt, ist das Sterben Christi für uns und die Eröffnung des neuen Lebens. Und darum feiern wir das Heilige Mahl: Die Selbstverschlossenheit der Welt ist zu Ende, die Communio beginnt.

Leer2. Aber nun scheint die Osternacht selbst ihren Charakter zu verändern. Jahrhunderte hindurch nahm die Kirche den Gläubigen einfach in ihr Spiel mit. So hat auch Dante alles Wirkliche in seiner Unerbittlichkeit und in seinem Widerspruch in das Licht von Ostern, in das Licht der ewigen Liebe getaucht. Heute aber haben wir den Eindruck, als ob wir Ostern erst noch vor uns hätten, auch im realen Sinn der Bedeutung. Wir sind sozusagen wieder zurückgeworfen in die historische Osternacht, als der Herr tot war und die Verzweiflung total. Karfreitag liegt hinter uns. Wir können es nicht den Juden allein anlasten, daß Jesus tot ist. Wir haben auch selbst gezeigt, daß wir die verborgene Gegenwart Gottes nicht ertragen. In unserer Zeit sieht das wohl so aus, daß wir Gott mit den Waffen der Wissenschaft bekämpfen; wir wischen den Horizont weg. Die Gemeinde kann sich da nicht ausschließen. Zweitausend Jahre Christenheit haben uns alle mitschuldig an dem Tode Jesu und seiner Brüder gemacht. Wie sollen wir also durchbrechen zu der Freiheit und dem Jubel, der Ostern bedeutet? An dieser Stelle muß sich nun unsere Erkenntnis bewähren. Eben unsere Erfahrungen, die wir als Christenheit mit uns selbst gemacht haben, verhindern es, daß wir so einfach zum Osterjubel durchbrechen. Wir selbst können das Grab der Welt nicht sprengen, indem wir uns an den Nächsten verschwenden. Wir können uns nicht selbst entlasten, indem wir im heiligen Spiel die Wandlung von der Selbstverkrampfung zur Gelöstheit aktualisieren. Wir sind darauf angewiesen, daß Gott das Gefängnis öffnet. Vielleicht erkennen wir also heute die Dimension des Gottesdienstes neu. In der Offenbarung beschreibt Johannes im 12. Kapitel, wie das Sonnenweib, vom Drachen verfolgt, in der Wüste ihr Kind zur Welt bringt. Der Sohn wird sogleich nach der Geburt in den Himmel entrückt, zugleich findet in diesem verborgenen Bereich der Wirklichkeit der Kampf Michaels mit dem Drachen statt. Er fegt den Himmel leer mit der Parole: "Niemand ist wie Gott." Aber nun verlagert sich der Kampf auf die Erde. Über ihr wird das große Wehe ausgerufen. Doch über ihr erklingt auch der große Lobpreis Gottes.

LeerWas bedeutet das für unsere Gottesdienste? Die eigentliche Liturgie erklingt im Himmel. Wir können sie vernehmen, wenn wir auf die Zeugen hören und auf den großen Zeugen Gottes, auf Jesus. Vielleicht finden wir darum keine neuen Formen der Liturgie, die tragen, weil jede Form überhaupt nur von jenem himmlischen Gottesdienst getragen und ermächtigt werden kann, den wir hören aus dem Munde der Zeugen. Der Surrealismus wagt es - aus innerer Wahrhaftigkeit und Notwendigkeit -, die Formen der Wirklichkeit und des Traumes gegeneinander zu hetzen und im Zerbrechen auf das Unaussprechliche und Nichtdarstellbare und Unbegreifliche zu verweisen. Die Liturgie unseres Gottesdienstes lebt in den gleichen Dimensionen. Er lebt vom Lobpreis, den nicht wir anstimmen oder durch unser Tun artikulieren, sondern Jesus selbst, dessen Leben und Sterben redet, weil er in jenem Bereich lebt, aus dem heraus die Welt geschaffen wird und ihre Heilung und Öffnung empfängt.

Quatember 1972, S. 73-78

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-09
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