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Wenn eine Bruderschaft ...
von Wilhelm Schmidt

LeerZu der Frage, wie es geistig um uns heute bestellt sei, macht der Schweizer Dirigent Ernest Ansermet in seinem Buch. "Les fondements de la musique dans la conscience humaine" (Neuchâtel 1962) die Bemerkung: "An der Schwelle unserer Epoche ist der westliche Mensch als geistiges Wesen und mit ihm die westliche Geschichte, soweit sie vom menschlichen Bewußtsein abhängt, in einen Tunnel eingetreten. Denn es heißt für den Menschen in einen Tunnel und in die Nacht eintreten, wenn er das Bewußtsein der Grundlagen der Dinge und seiner eigenen Existenz verloren hat." Die in diesem Bild (ich meine: zutreffend) beschriebene Abschließung vom Umgebenden bedeutet zugleich die Ausschließung des Vorgegebenen und Vorgebenden (Bestimmenden) aus dem Bewußtsein.

LeerKennzeichnend für die Situation "im Tunnel' ist die Ausschließung Gottes - (daher die eifrige, die wuchernde Produktion von "Götzen" = von "gemachten Göttern"...) also die Ausschließung von "Schöpfung" - (daher das denaturierte Verhältnis zur Natur - und ihre Zerstörung durch das "Gemachte" - durch unsere "Gemächte" . . .) also die Ausschließung von "Erlösung" - (daher die Hoffnungslosigkeit und die eifrige Verfertigung von Hoffnungen - d. h. von Utopien und Utopismen . . .) schließlich die Ausschließung von" Heiligung" - (daher das Leben ohne das, was die Mystiker das "göttliche Licht" nannten - das ist ein "geheimnisloses Leben" und das ist: .sinnloses Leben" - und die allseits betriebene Bemühung der "Sinngebung" - also der "Selbstsinngebung", also des .gemachten", nicht des "einleuchtenden' Sinnes, nicht des "verliehenen", nicht des "genadenden' Sinnes.) Das Leben im Tunnel ist gleichermaßen "entwurzelt und gnadenlos". Man hat, an dieses Bild von Ansermet anschließend, die Frage aufgeworfen: "Hat der Tunnel ein Ende?"

LeerEs gibt Leute, die das bezweifeln. Dann führt der Tunnel in den Tod . . . Dies genau aber ist der Punkt, an dem ich die Aufgabe der Bruderschaft in der gegenwärtigen, Welt zu erkennen vermeine: daran, daß dieser Tunnel ein Ende hat, nicht zu zweifeln - sondern sich und die anvertraute Zeit Gottes gegenwärtig zu halten - in leitourgia, martyria, diakonia und koinonia. Und dies folgendermaßen:

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LeerLeitourgia: Es gilt heute, in dieser Sache - "Gottesverehrung" - eine besondere Schwierigkeit zu bestehen: Gott ist zwar überall und allezeit verehrbar - aber "im Tunnel" fällt das schwerer als "auf dem Berge" . . . Wir erfahren alle deutlich, wie schwer es heute ist, Gottes gewärtig zu sein, Ihn zu "verehren", den "Bund mit Ihm" zu halten . . .

LeerIm Tunnel hallen unsere Worte hohl und gespenstisch zurück: das ist es, was uns an unserer Liturgie heute so betroffen, so bestürzt macht! So daß wir meinen, wir müßten sie lassen. Die Meinung, es liege an der "Form", verkennt die Situation. Die Bedeutung, die wir der Form, also dem Machbaren an der Liturgie beimessen, ist kennzeichnend für diese Verkennung und ist die für die Gegenwart typische "Versuchung".

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LeerMartyria: Welcher Weise ist uns heute Zeugnis geboten? Wir haben vom Apostel die wichtige Weisung angenommen, den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche zu sein; die Bemühung, dieses zu sein, ist allgemein, wie sie allgemein anerkannt. Dringlicher aber als dieses stellt sich uns heute die Forderung, den Juden wie den Griechen ein Apostel Christi zu sein!

LeerWir reden nämlich alle mit Eifer mit den Juden auf Jüdisch, mit den Griechen auf dem, was wir für Griechisch halten - aber was? Es genügt nicht, mit denen, die in der Finsternis des Tunnels sitzen, finster zu sein. Das kleinste Licht wäre hier von hohen Gnaden . . .

LeerZeugnis geben jetzt und hier heißt: mit den Gefangenen als die Gefangenen, welche wir nämlich sind, frei zu sein. (Denn die Freiheit bestimmt sich nicht durch Erlaubnis, sondern durch innere Kraft.)

LeerOder: mit den Hungernden als die Hungernden, welche wir sind, hungern: aber als die da "fasten mit gesalbtem Haupt".

LeerOder: wenn Gott sein Antlitz verbirgt, ist es nicht unsere Möglichkeit, daß wir uns mit den "Gottlosen" der Gottlosigkeit ergeben; sondern dann besteht das Zeugnis darin, (nicht Gott anzuklagen, sondern) die Klage vor Gott zu bringen, daß "kein Prophet mehr unter uns ist" (Ps. 74, 9); die Klage nicht mehr verstummen zu lassen, bis "Er den Himmel zerreißt und herabfährt". Dieses ist das "Martyrium des Glaubens": wenn der Himmel verschlossen ist, dem Himmel offen zu bleiben . . . Das ist auch der Sinn der Bitte um den Heiligen Geist". (Sollten wir nicht vermögen, unter diesen Umständen dieses Zeugnis zu geben, müssen wir es lassen - aber wir dürfen nicht unser Unvermögen zum Zeugnis erheben.)

LeerOder: wir haben nicht die Aufgabe, den Zeitgeist zu bezeugen - sondern den Geist Gottes dem Zeitgeist! Denn wie alle Geister hat auch der Zeitgeist sein Heil nur von dem Geist Gottes. Es ist unsere Aufgabe, dem Ansprüche stellenden Zeitgeist zu antworten - auch, wenn es sein muß, im Widerspruch! Wenn dem Zeitgeist nicht mehr widersprochen wird (aus plausiblen Gründen: denn Widerspruch ist selbstverständlich gefährlich - bis zum Martyrium, vor allem dem der Lächerlichkeit), lassen wir ihn in die Irre rasen und werden schuldig an dem Unheil, das er anrichtet. Ich sage nicht: der Zeitgeist ist der Feind und "wir müssen dagegen sein" - sondern ich sage: er ist der Geist der Zeit, welcher wie alles, was zeitlich ist, sein Heil nur in der "Ewigkeit" findet - oder nicht: er ist darum angewiesen auf das Christuszeugnis.

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LeerDiakonia: Mit Diakonie meine ich: die Darbietung des Notwendigen, der Darbietung der notwendigen, notwendenden Hilfe. Welche ist das? Das entscheidet sich an der Diagnose - und zwar casualiter! Damit will ich sagen: das entscheidet sich "von Fall zu Fall" - und nicht "nach System". Die erste Hilfe ist die Befreiung vom Systemzwang. Sie kann nur geschehen in Freiheit vom Systemzwang! Ich meine Folgendes. Es ist leicht festzustellen, welche Not aus welchem System entsteht: aus Kapitalismus, Sozialismus, Materialismus, Spiritualismus, Rassismus usw. Die Not jeweils wird nicht behoben durch die Aufrichtung und Durchsetzung eines Anti-Systems! Das wäre die Not-Lösung der Jünger, nicht des Herrn. Die Notwende muß in jedem System möglich sein - oder sie wird keine sein. (Wie der Glaube in jedem System leben kann - oder er ist keiner. Der Glaube ist system-ungebunden - er muß es sein; wenn er es nicht ist, muß er sich befreien vom Systemzwang.)

LeerSodann (aufs Genauere denkend): Wir sind (als christliche Bruderschaft, als begrenzte Gruppe, als Gemeinschaft mit begrenzten Möglichkeiten) zum hilfreichen Dienst gefordert mit dem, was uns gegeben ist, mit dem, was wir können! Das heißt, wir sind vor allem dort gefordert, wo wir nicht vertretbar sind. (Logisches Beispiel - also für den Ausdruck, nicht für die Sache: die Unterrichtung meiner Kinder kann ich Andern überlassen, aber in der Vaterschaft bin ich nicht vertretbar! Das heißt nicht, daß das, was die Anderen tun, unnötig oder falsch wäre, aber wenn ich an meinen Kindern die Vaterschaft versäume, wird das, was die Andern an ihnen tun, möglicherweise nicht zu dem, was es sein soll, möglicherweise sogar falsch und schädlich.)

LeerIch wage die Verallgemeinerung: alle Weltzugewandtheit eifrigster Diakonie wird falsch, wenn ihr das "Himmelslicht" fehlt. Es geht nicht um "gute Werke", sondern um die "Früchte des Glaubens". Gute Werke sind von jedermann gefordert -- die Früchte des Glaubens von uns. Konkret: wie man einen Acker bestellt, kann besser der Bauer als der Pfaffe lehren, aber die Ehrfurcht vor der Schöpfung erwecken: das wäre unsere Sache! Oder: "den Tunnel bauen" können andere auch - aber wie man im Tunnel des Lichts harrt: das wäre unsere Sache. Oder: wie man in einem Lande die Wirtschaft organisiert, daß sie floriere, ist anderer Leute Sache - aber daß die Wirtschaft der Freude und der Blüte des Menschen diene und nicht seiner Zerstörung: das wäre rechte Diakonie und unsere Aufgabe.

LeerWir sind nicht vertretbar in der Geduld und dem Glauben der Heiligen (Offb. 13, 10) - und wo dieses fehlt, bleibt der gute Eifer der Anderen fruchtlos, ja, wohl gar falsch und wird gelegentlich verderblich. Der "große Mangel' heute ist nicht in erster Linie der Mangel an Dingen, sondern an Vertrauen, an Liebe, an Zuversicht - daran: sie haben zu können. Selbst die "großen Notfälle" (Völkermord, Flüchtlingselend zu Millionen mit allen Formen härtester Lebensbedrohung) sind nicht bedingt und verursacht durch "Mangel an Dingen", sondern durch Haß, Eigensucht, Rücksichtslosigkeit, durch das, was man tiefsinnig-oberflächlich "Unmenschlichkeit" nennt.

LeerWas aber ist das: "Menschlichkeit"? Es ist die eigentlich menschliche Weise, den "natürlichen Kampf ums Dasein" auf eine übernatürliche Weise zu lösen. Und es ist gerade dies unsere (der Christen) Aufgabe, den übernatürlichen Bezug, die übernatürliche Inanspruchnahme des Menschen im Spiel zu erhalten. Beispiel: Es ist gerade nicht recht geleistete "politische Diakonie", wenn wir in der Politik lediglich mitmischen auf die Weise, wie sie schon ist und das "andere Element", welches wir zu vertreten haben, der Politik vorenthalten. Dann machen wir Politik - gut: das ist jedermanns Recht und Aufgabe. Aber das ist noch nicht "politische Diakonie"! Es ist ein wahrhaft diabolischer Kurzschluß, in diesem ganzen Bereich lediglich mit "Elementen der Humanität" (im landläufigen Sinn gemeint) zu arbeiten (Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit) - so, als wären diese natürlichen Ursprungs und nicht bewirkt durch die "übernatürliche" Inanspruchnahme des Menschen!

LeerUm ein naheliegendes Mißverständnis auszuschließen, sei betont: Es ist kein Zweifel daran ausgesprochen, daß es an vielen Orten der Welt großartige, redliche, stärkste Kräfte gibt, die "Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit" erstreben - und daß das eine gute und große Sache ist, diese Kräfte zu stärken. Aber ich meine: wir versäumen unseren eigentlichen Auftrag in dieser Sache, unser Proprium, wenn wir den Versuch unterlassen oder nur verdunkelt und zaghaft unternehmen, die übernatürliche Bedingtheit von Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zu bezeugen - wobei es nicht unsere Sache ist, das Wagnis dieses Zeugnisses abhängig zu machen von der Aussicht, angenommen zu werden. So wir dieses nicht leisten, sind unsere Bemühungen "heillose" Bemühungen! Denn das Heil ist vom Himmel, nicht aus des Menschen Dichten und Trachten. Das Heil ist vom Himmel: auch für die und denen, die "im Tunnel" sind und den Himmel nicht mehr gewahr werden.

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LeerKoinonia: Sie gehört zu den ursprünglichen Merkmalen christlichen Lebens (Apg. 2, 42) und zu den wesentlichen einer Bruderschaft. Wie wichtig dieses Element "Koinonia" heute ist, wird dadurch verdeutlicht, daß (wenn ich recht unterrichtet bin) in unserem Lebensbereich zu keiner anderen Zeit so viele "Bruderschaften" und Verwandtes neu geschaffen worden sind wie in den beiden letzten Menschenaltern, und daß dieses Wachstum der Zahl weiterhin anhält. Das ist Antwort auf die wachsende Einsamkeit, auf wachsende Einsamkeit in der Masse, auf wachsende Angst in der Einsamkeit. Ist Antwort auf zunehmende Auflösung aller Gebilde - einer Auflösung, welche offenbar in der Tiefe des gegenwärtigen Seins begründet ist.

LeerDiesem Zustand entspricht: Schwund des Vertrauens, der Liebe, der Höflichkeit, des Taktes, der Freundlichkeit, der Rücksicht auf das, "was des Andern ist": welches alles Grundelemente der koinonia sind - das heißt des "Mitseins", des "Für-seins", des "Eins-seins': woraus bekanntlich allein glückliches Leben entspringt . . . Stattdessen tritt ein: tödliche, todbringende Entfremdung aller von allem . . . (Von dieser Auflösung sind alle Gestalten der Gemeinschaft betroffen: Ehe, Familie, Nachbarschaft, Dorf, Stadt, Gemeinde - samt allen Großformen der Gemeinschaft.) Koinonia ist die christliche Antwort auf eine tödliche Gefährdung des Lebens.

LeerWenn eine Bruderschaft nicht mehr weiß, wozu sie da ist, hat sie die Besinnung verloren - oder Schlimmeres: ihre Liebeskraft - und das ist ihre Lebenskraft. Dann wird sie bald erstarren oder sich auflösen und verwesen - oder eine "Ruine" darstellen: an Vergangenes erinnernd, aber in der Gegenwart keine Wohnstätte mehr. "Seht, wie sie einander lieben": das hat einst die heidnische Welt überführt, überzeugt - nicht die theologische oder gar philosophische Argumentation der Christenheit: die hat allezeit nur Gelächter erregt. Heute würde die Wirklichkeit brüderlicher Liebe eine trostlose Welt von ihren schlimmsten Ängsten befreien - (und wohl gar hinreißen!)

LeerWas (angesichts der gegenwärtigen Welt) schon etwas wäre:

LeerEine Bruderschaft, in der man sich aufeinander verlassen könnte - auf das Wort auch wenn einer schweigt - und schon gar auf seine Verschwiegenheit (welche eine starke Form des Vertrauens, der Liebe ist);

Leerin der man sich auf den Takt verlassen könnte; in der man sich des anderen nicht zu erwehren brauchte; in der man gewiß sein dürfte, daß auch das, was des andern ist, etwas ist und "angesehen wird", Rücksicht erfährt; in der die Liebe eindeutig eine höhere Rolle spielt als der Ehrgeiz - und alle weiteren unausgesprochenen Absichten;

Leergar nicht zu sagen, welche Revolution passierte, wenn einer den anderen, den lästigen, trüge ... (und also ernstlich gesonnen wäre, nach dem "Gesetz Christi" zu leben).

Leerlm Grunde nämlich ist in allen Revolutionen Derartiges gemeint und gesucht, ratlos vielleicht und bis ins Gegenteil verkehrt, aber doch ... Freilich, nicht der Sturz des Bestehenden bessert die Lage - sondern daß wir uns, in welcher Lage immer wir sind, einlassen auf das in Ewigkeit Beständige.

Quatember 1972, S. 78-82

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-09
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