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Der ganze Mensch
von Walter Uhsadel

LeerEs gehört zu den erfreulichen Erscheinungen unserer Zeit, daß das Interesse am Menschen erwacht ist. Das läßt hoffen, daß die Wirrnis von Ideologien, durch die der Mensch unserer Zeit überflutet, doktrinär und autoritär mißhandelt wird, allmählich überwunden werden wird; denn je realistischer man den Menschen sieht, desto fragwürdiger werden alle abstrakten Systeme, die um ihn werben.

LeerDazu wird freilich auch gehören, daß die Wissenschaften vom Menschen und die Methoden therapeutischer Hilfe zueinander finden. Vorläufig ist ihre Zersplitterung noch groß. In seinem Buch "Die Angstneurose,. . . Einführung in die synoptische Psychotherapie" zeigt Wilhelm Bitter Wege, auf denen die psychotherapeutischen Richtungen zur Zusammenarbeit kommen können. Er zitiert zum Schluß Johannes Neumann, mit dem er sich in seiner Zusammenschau einig weiß: Er (Neumann) stellt einen Fall von Pruritus (Juckreiz) dar, der mit einer Organminderwertigkeit zusammenzuhängen schien und daher nach der Methode der Individualpsychologie Alfred Adlers zu behandeln war. "Aber - so äußert sich Neumann selbst - die Patientin setzte sofort mit einer über 180 Träume umfassenden Traumserie rein archetypischer Symbole an, die ausschließlich mit Kenntnis der komplexen Psychologie Jungs bearbeitet werden konnte." Neumann schließt aus dieser Erfahrung: "Das Ganze der Seele bedarf sowohl der Perspektive der Naturhaftigkeit wie der sozialen Bedingtheit wie der seelischen archetypischen Tiefe, aber sie bedarf nicht minder des metaphysischen Aspektes."

LeerJe bedrängender die seelische Not vieler Menschen wird, desto ernster wird diese Zusammenschau angestrebt werden müssen. Wir werden es uns nicht mehr leisten können, den Weg Freuds (Naturhaftigkeit), Adlers (soziale Bedingtheit) oder Jungs (archetypische Tiefe) je für sich als den allein richtigen zu propagieren. Alle drei gehören zusammen, weil das der Ganzheit des Menschen nach Leib, Seele und Geist entspricht. Dann aber wird die Frage brennend, wodurch alle drei beieinander gehalten werden können. Neumann meint, durch den "metaphysischen Aspekt". Jung würde es vorziehen, vom religiösen Aspekt zu reden, weil er der Überzeugung war, daß alle Probleme des Menschen - mindestens nach dem 35. Lebensjahr - religiöser Natur sind, auch dann, wenn der Patient sich dessen gar nicht bewußt ist. Diese Überzeugung entstammt nicht einer philosophischen Theorie. Sie war durch die Erfahrung des Arztes mit seinen Patienten gewonnen worden. Ihretwegen aber hat Freud seinen Freund Jung verstoßen, ihretwegen gehen heutige Theologen Jung gern aus dem Wege, und ihretwegen hat sich der Neomarxismus einseitig an Freud gehalten, ihn freilich - wie Erich Fromm in Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse gezeigt hat - falsch interpretiert.

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LeerDa wir uns heute in einem weltweiten religiösen Aufbruch befinden, ist damit zu rechnen, daß die religiöse Integration der psychotherapeutischen Richtungen weitergehen wird. Aber heute schon zeichnen sich überraschende und deutliche Wechselbezeichnungen zwischen einer biblisch-christlichen und tiefenpsychologischen Auffassung vom Menschen ab. Auch die Bibel sieht den Menschen in der Einheit und Ganzheit von Leib, Seele und Geist, also in der natürlichen Bedingtheit (Freud), in der Abhängigkeit des seelischen Lebens von sozialer Verflechtung (Adler) und in der geistigen Energetik, die in den archetypischen Symbolen aus der Tiefe des Unbewußten in das Bewußtsein wirkt (Jung). Wenn wir das biblische Menschenbild entfalten wollen, stehen wir allerdings vor einer Schwierigkeit. Die Bibel spricht nämlich nie theoretisch über den Menschen. Aber sie stellt ihn in tausenden von Bildern menschlicher Grundverhältnisse und -verhaltensweisen vor uns hin. Wenn wir uns diesen Bildern vom ersten bis zum letzten Blatt meditativ hingeben und sie sozusagen übereinander kopieren, ergibt sich ein ganz klarer Grundriß, ein Grundbild des Menschen.

LeerZunächst ist zu sagen: die Bibel versteht den Menschen "trichotomisch", dreigliedrig. Dafür gibt es zwei Bibelstellen. Von entscheidender Bedeutung ist für uns die erste, da es keinen Zweifel geben kann (und bei keinem theologischen Forscher gibt), daß hier der Apostel Paulus das neutestamentliche Verständnis des Menschen auf die kürzeste Formel bringt, indem er sagt: "Euer Geist und eure Seele und euer Leib . . ." (1. Thess. 5, 23). Er spricht damit aus, daß der Mensch Leib, Seele und Geist ist, also nicht Leib hat, Seele hat, Geist hat, sondern ist und zwar in Einheit und Ganzheit. Die andere Stelle befindet sich im Hebräerbrief (4, 12). Hier ist davon die Rede, daß das Wort Gottes lebendig und schärfer als ein zweischneidiges Schwert ist und Geist, Seele und Leib (Mark und Bein) durchdringt. Damit ist eindeutig gesagt, daß das Wort Gottes bis in das leibliche Leben reicht.

LeerEs kann also nichts geben, was nur den Geist oder nur die Seele anginge. Da der Mensch Geist, Seele und Leib ist, trifft alles, was ihn in geistiger, seelischer oder leiblicher Hinsicht angeht, seine ganze Existenz. Anders gesagt: Nur-Geistiges, Nur-Seelisches, Nur-Leibliches gibt es nicht. Wer das nicht versteht, hat ein unrealistisches Menschenbild. Das ist die Meinung der Bibel, und das sagt uns von ganz andern Voraussetzungen aus heute die Tiefenpsychologie. Natürlich wird dadurch die Bibel nicht im Sinne der Formel "Die Bibel hat doch recht" glaubwürdiger, aber es zeigt sich uns, daß die Bibel den Menschen auch für unsere Zeit wirklichkeitsnahe sieht.

LeerDie Bibel geht jedoch über dieses Grundbild hinaus. Hier wird sichtbar, inwiefern die Bibel das Wort Johannes Neumanns von dem "metaphysischen Aspekt" oder Carl Giustav Jungs von dem "religiösen" Gepräge aller menschlichen Probleme bestätigt. Mit seinem Geist steht der Mensch nach biblischer Sicht im Bezug zum Geist Gottes. Wenn in der Bibel vom Geist die Rede ist, muß man daher immer genau prüfen, ob der Geist Gottes oder der Geist des Menschen gemeint ist. Durch seinen Geist ist der Mensch an den Geist Gottes verwiesen. Dafür einige Beispiele: "Dieser Geist (Gottes) gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind" (Röm. 8, 16). "Der Geist (Gottes) hilft unserer Schwachheit auf" (V. 26). Entsprechend hat Paul Gerhardt gedichtet: "Sein Geist spricht meinem Geiste manch süßes Trostwort zu."

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LeerDa der Mensch aber nicht nur Geist, sondern auch Leib ist, steht er nach biblischer Sicht auch in Bezug zu allem Leiblichen, das heißt zur Schöpfung Gottes. Er ist Geschöpf unter Geschöpfen. Die Bibel nennt alles Geschaffene "Fleisch". So kann denn der Mensch dem "Fleisch", der bloßen Geschöpflichkeit verfallen. Dann ist er nichts anderes als Kreatur unter Kreaturen und verliert sein eigentlich Menschliches. Deshalb nennt Paulus die Korinther "Fleischliche", allenfalls Säuglinge in Christus, wie denn ja ein Säugling noch nicht sein eigentlich Menschliches entfaltet hat.

LeerZwischen diesen beiden Möglichkeiten, der Beziehung zum Geist Gottes und dem Verfallen in die bloße Geschöpflichkeit, steht der Mensch als Seele. Ist die Seele mit der leiblichen Existenz der bloßen Geschöpflichkeit verfallen, so verliert sie ihre Menschlichkeit. Der bloß "seelische" Mensch (Luther übersetzt "natürliche", die lateinische Bibelübersetzung Vulgata "animalis", d. h. tierhafte) verfällt der Nichtigkeit alles Geschaffenen. Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist der geistige Bezug zum Geiste Gottes. Vom Geiste werden Seele und Leib qualifiziert. Auch der Leib soll Tempel des heiligen Geistes sein (1. Kor. 6, 19). Er darf also nicht der "Fleischlichkeit" preisgegeben werden. Diesem Menschenbilde entsprechen die Sakramente. Sie sind leibhaftes Handeln des Geistes Gottes am ganzen Menschen.

LeerDer Mensch zwischen Geist Gottes und Kreatürlichkeit - und der Mensch vom Geiste Gottes her in seiner geistig-seelisch-leiblichen Existenz geheiligt, das sind die beiden Gesichtspunkte, unter denen alles steht, was die Bibel über den Menschen sagt. Das entspricht der Frage der synoptischen Psychotherapie nach der Kraft, aus der die verschiedenen Methoden der Seelenheilkunde zusammengeführt werden können. Man darf sich deshalb nicht dadurch beirren lassen, daß die Bibel bald vom Geiste, bald von der Seele, bald vom Leibe her vom Menschen redet. Sie meint in jedem Falle den ganzen Menschen; denn sie kennt nicht Geist ohne Seele und Leib, nicht Leib ohne Geist und Seele und nicht Seele, die leiblos und geistlos wäre. Dafür nur drei Beispiele: Wenn Jesus in der Stiftung des Heiligen Abendmahles "mein Leib", "mein Blut" sagt, so bedeutet das: "Ich selbst", dies Brot, dieser Wein bin "Ich selbst" für euch. Wenn Jesus in Gethsemane spricht "Meine Seele ist betrübt", so heißt das: "Ich bin betrübt". Und wenn er am Kreuz betet "Ich befehle meinen Geist. . .", so meint er auch hier sich selbst. "Ich befehle mich in deine Hände". Als viertes Beispiel sei ein Pauluswort hinzugefügt: "daß Christus in meinem Leibe verherrlicht werde" - "Christus in mir. . ." (Phil. 1, 20).

LeerMartin Luther hat in seiner Auslegung des Magnificat (Luk. 1, 46-54) zu der Stelle 1. Thess. 5, 23 gesagt, die Betrachtung des Menschen nach Geist, Seele und Leib richte sich auf den ganzen Menschen und beschreibe seine Natur, wir würden heute sagen: sein Wesen. Aber alle drei "Stücke" (Aspekte) müßten von zwei Seiten gesehen werden, durch die sich ihre Qualität, die "Eigenschaft" des Menschen zeige, nämlich zwischen Geist (Gottes) und Fleisch. Alle drei könnten dem Geist Gottes zugehören oder dem Fleisch verfallen, und das ist für Luther gleichbedeutend mit "gut oder böse sein". Eine bessere Bestätigung des Menschenbildes, das uns heute die Tiefenpsychologie, genauer: die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs, auf Grund rein psychologischer Forschung nahelegt, können wir uns nicht wünschen.

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LeerDabei ergibt sich noch der Vorteil, daß die Tiefenpsychologie vor einem uns bedrängenden Mißverständnis warnt, nämlich die Begriffe gut und böse moralistisch zu verstehen. Der tiefenpsychologisch Geschulte begreift durchaus, warum für Luther alles Gott zugewandte Leben "gut", dagegen alles der bloßen Kreatürlichkeit verfallene "böse" ist. Da wir das Problem nicht im einzelnen erörtern können, mag uns vielleicht die Redewendung "Ich bin dir gut", "Ich bin dir böse" zum tieferen Verstehen dienen. Dazu noch ein paar Worte Johann Tobias Becks (1808-78) aus seinem "Umriß einer biblischen Seelenlehre": "Die Geistigkeit der Seele kann im Sinnlichen allmählich untergehen, wie ihre Sinnlichkeit (= Naturhaftigkeit) im Geistigen allmählich verklärt aufgehen . . ." "Seele hat Geist in sich und über sich, und Seele hat Leib an sich und um sich." Die Offenbarungsform Gottes geht nach Beck "als lebendige Wirklichkeit in diese Weltform" ein, um im Geistigen geistig, im Seelisch-Leiblichen seelisch-leiblich zu wirken. Eben dieses Wirken sieht er auf eine "Lebensmitte" bezogen, die er symbolisch "Herz" nennt, eine "geheime Tiefe", auf die sich zu verlassen falsch ist, es sei denn, sie werde erforscht. Nur so könne es zur "Fülle und Ausbildung des ganzen inneren Personlebens", Carl Gustav Jung würde Individuation oder Selbstfindung sagen, kommen.

LeerDie Wechselbeziehung solcher theologischer Aussagen mit den modernsten psychologischen Erkenntnissen ist überraschend und für den seelsorgerlichen Dienst von höchstem Wert. Wenn die Seelsorge von der Psychotherapie lernen kann, dann hier, - wobei noch einmal betont sei, daß für den Christen und Theologen zwar Jungs Lehre im Vordergrund des Interesses stehen sollte, weil er den Menschen als religiöses Wesen versteht, daß damit jedoch nie der bleibende Wert der Erkenntnisse Freuds und Adlers oder neuerer Versuche, die Lehren der drei großen Männer auszubauen, vergessen werden darf. Die bedeutenden Gründer der Tiefenpsychologie sind sich vor allem in einem Punkt einig, den wir in der Seelsorge beachten sollten, der aber auch für die kritische Durchleuchtung der Zeitlage unerläßlich ist. der Mensch ist nicht mit seinem Bewußtsein identisch. Die Schauseite, die er mit seinen Verhaltensweisen und Meinungen, Ideologien und Praktiken zu bieten versucht, verbirgt eine persönliche Realität, für die er völlig blind sein kann. Eben deswegen kann Beck sagen, "die Falschheit" verlasse sich auf die geheime Tiefe des Herzens, und die Tiefenpsychologie fordert die Erforschung des Unbewußten.

LeerWie sich in dem seelischen Spannungsfeld zwischen Geist Gottes und Fleisch als lebendiger Prozeß geistlichen Lebens das abspielt, was wir mit den Begriffen Sünde, Reue, Beichte, Gnade, Vergebung, Erlösung, Heiligung, Neues Leben bezeichnen, so hebt in der Psychotherapie ein Vorgang an, der aus der Tiefe des Unbewußten zur Selbsterkenntnis, zu innerer Umwandlung, Wahrhaftigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit führt und den Menschen zu einem neuen Lebenssinn befreit. So kann denn durch eine Psychotherapie auch ein Christ zu einem neuen Verstehen, Bejahen und redlichen Verwirklichen seiner christlichen Existenz geführt werden.

LeerCarl Gustav Jung hatte über seine Haustür meißeln lassen: Vocatus atque non vocatus, Deus aderit (Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein). Diese Worte hat er auch auf seinen Grabstein setzen lassen, sie aber dort ergänzt durch den Vers 47 aus dem 1. Korintherbrief Kap. 15 (nach dem Vulgatatext) : Primus homo de terra, terrenus, secundus homo de caelo, caelestis (Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der zweite (neue) Mensch ist vom Himmel und himmlisch). So stehen diese Sätze nun da als ein tiefenpsychologisches und christliches Bekenntnis zugleich. Wer weiß, vielleicht deuten sie prophetisch auf einen neuen Weg der Menschheit und der Christenheit hin.

Quatember 1972, S. 83-87

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-09
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