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Zuviel Himmel im Kopf?
von Hans-Otto Wölber

Leer"Ihr habt zuviel Himmel im Kopf!" Dieser Einspruch galt den Jesus people beim Festival Ende 1971 in Hamburg. Immer wieder hatten bekehrte junge Menschen ihr Zeugnis abgelegt. In der Verzweiflungphase nach der Droge oder mitten in bedrückenden familiären oder beruflichen Konflikten war ihnen etwas begegnet. Sie nannten es Jesus. Es geschah, weil man ihnen ohne Aggression, ohne Aufklärung und ohne Diskussion entgegentrat. Das Trommelfeuer gesellschaftlicher Diskriminierung und der eigenen Depression war unterbrochen. Die ganze Bandbreite der analytisch rationalen Kommunikation war verdrängt durch eine einfache Zusage, durch einen Akt der Liebe. Man war akzeptiert. Weil du ein Mensch bist, bist du geliebt. Gott will es! Wir wollen es! Dieser Erfahrung also wurde entgegengehalten: Ihr habt zuviel Himmel im Kopf.

LeerGeht man den Protesten gegen die Jesus people oder andere Erweckungsfrömmigkeit nach, so heißt es immer wieder: Zu unkritisch, zu gefühlsbetont, zu wenig sozial aktiv. Im Unterton schwingt mit: Eigentlich doch nicht ganz glaubwürdig! Ein Assistent am Seminar für systematische Theologie der Universität Hamburg hatte auf einer Tagung über die Jesus people einen Vortrag über "Integration des Gefühls in die Erfahrung des Glaubens" zu halten. In diesem Vortrag bekennt er: "Ich selbst komme stark vom rationalen Denken her und hatte Schwierigkeiten mit den Jesus people ... Ich habe allerdings einige Tage lang die Berliner Gruppe inkognito untersucht ... und kann also, ob es mir lieb ist oder nicht, die Fakten ... nur bestätigen. Ich habe auch mit Leuten gesprochen, die von Rauschgift frei wurden und konnte das, soweit die Zeit reichte, nachprüfen. . ."

LeerFür die von den verfaßten Kirchen verantwortete Arbeit und angesichts der Tendenzen einer auf Rationalität und Sozialität tendierenden Theologie sind dies unerwartete und außenseiterische Phänomene. Sind sie es wirklich oder meldet sich Verdrängtes, Abgeblendetes wieder zu Worte? Ich möchte dieser Frage nach zwei Richtungen nachgehen, nämlich empirisch religionspsychologisch und theologisch.


I.

LeerLeider wissen wir immer noch sehr wenig über den Kern religiöser Erfahrung oder über das Zentralgeschehen der Frömmigkeit. Traditioneller Dogmatismus und die prinzipielle Scheu, hier anthropologisch aufzuhellen, haben zumeist unbefangene Forschung verhindert. Die klassische Religionsgeschichte und die Untersuchung anderer Religionen hat wenig beigebracht. Erst mit der Wende des letzten Jahrhunderts (vergleiche als Übersicht Werner Gruehn: "Die Frömmigkeit der Gegenwart") entsteht etwa mit den Arbeiten der beiden Amerikaner James und Starbuck ein Versuch, religionspsychologische Erkenntnisse zum Bekehrungsproblem auf empirischer Basis zu ermitteln. Entscheidend wurde in den zwanziger Jahren in Europa Girgensohns "Seelischer Aufbau des religiösen Erlebens". Damals entstanden Gesellschaften für Religionspsychologie und ähnliches. Doch das soeben ausgebreitete Interesse wurde durch die dialektische Theologie wieder zurückgedrängt.

LeerImmerhin kann man nach Girgensohn das religiöse Erlebnis allgemein als "Synthese von Ichfunktion und Gedanke" deuten. Damit ist etwa gemeint, daß die Gesamtperson in ihrem Fühlen, Denken und Wollen sich mit einem durchschlagenden Widerfahrnis verbindet, mit einem zentralen "Wert". Grönbaek nannte dies die "Zentralmomente" der seelischen Struktur. Im Blick ist hier nicht der Tiefenbegriff der Psychoanalyse. Vielmehr denkt man an Universalität des Ergriffenseins der Person in Verbindung mit Universalität des Anspruchs oder der Zusage, dies freilich erfaßt bis in den Personkern. Es ist ein elementares Evidenzerlebnis. Erkenntnisse, Einsichten, Gefühle, Impulse richten sich auf etwas, was vorher nie im Spiel war. Nach Allport sind solche Erfahrungen gelegentlich "spezifisch", das heißt, man kann sie in der Regel datieren. Ihre Wirkung jedenfalls ist allgemein. Sie sind mit dynamischer Gewalt geladen und breiten sich über die ganze Persönlichkeit aus. Als Ergebnis steht eine "neue Persönlichkeit vor uns, die grundsätzlich von der alten verschieden sein kann".

LeerFreilich sind solche Wandlungen nicht nur auf religiöse Erfahrungen beschränkt. Es gibt auch in anderen Bereichen das Erlebnis plötzlicher und jedenfalls sich zügig aufdrängender Evidenz. Große christliche Beispiele sind Paulus, Augustin, Luther, Pascal. Mit den durchbruchsartigen Wandlungen ist nicht ausgeschlossen, daß die "Synthese von Ichfunktion und Gedanke" oder das "Zentralmoment" der seelischen Struktur auch Ergebnis eines Erziehungskontinuums sein kann, und zwar entweder durch Erziehungsabsicht oder durch das Erziehungsmilieu. Dann reiht sich Baustein an Baustein, oder der Mensch nimmt in dieser Beziehung nichts anderes wahr als die Geschlossenheit der Einstimmung ins Dasein. wie es in seinem Leben vorgegeben ist. Wesentlich bleibt das Erlebnis umfassender Evidenz.

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LeerParadoxerweise ist das unerwartete Geschehen vorbereitet. Es gibt, soweit die empirischen Untersuchungen von Zeugnissen, Briefen und Befragungen erkennen lassen, eine negative Disposition. Bedrückung, ausweglose Existenz, Gewissensbisse, Niedergeschlagenheit, aber auch gesellschaftlicher Druck eines entsprechenden Bekehrungsmilieus bereiten den Boden. Das Erlebnis, das dann aber eintritt, wird als echtes Widerfahrnis empfangen. So war der Ausweg nicht erwartet. Der Ausweg hätte auch das Gegenteil sein können, die Verschränkung des Menschen in sich selbst, eine Blockierung in der Verzweiflung. Es hätte der Teufelskreis der Droge sein können, das Eingekeiltsein zwischen psychischer Niederlage und Erhebung. Darum wird das Neue als das ganz andere, als Erlösung, als eine Art Neueinsetzung ins Leben empfunden, voller Kontrastgefühle und Erleichterung, ganz unverfügbar. Es war eine Mutation. Es war Not-wendig.

LeerAber war es darum Zufall? Die empirischen Untersuchungen lassen erkennen, daß immer ein Anstoß von außen kam. Es wurde einem gebracht. Luther fand eine Bibelstelle, bei den Jesus people ist es in der Regel das Zeugnis von Mann zu Mann. Es handelt sich um das Mysterium der Begegnung. Wer kann die Bahnen jenes Geschicks, das von zwei Seiten aufeinander zuläuft, ergründen?! Es hieße, dem "Zufall" auf die Spur kommen zu wollen, dem letztlich Unverfügbaren nachzuforschen. Der Betroffene muß den befreienden Durchbruch durch seine "alte" Wirklichkeit als Gnade empfinden oder - was eben auch geschehen kann - als einen bösen und schweren Schlag, der ihn zerdrückt. Unverfügbar wie die Gnade ist die Wirklichkeit des Bösen. Wir begegnen den Mächten. In dem Geschehen eröffnet sich die große Alternative der menschlichen Existenz: Tod oder Leben, Depression oder Hoffnung, Haß oder Liebe, Verzweiflung oder Erwartung. Hier schlägt die empirische Beobachtung in theologische Qualität um. Die empirischen Feststellungen weisen auf die Radikalität und Universalität des religiösen Elementes hin. In der Erfahrung der Bekehrung ist das besonders artikuliert.

LeerWenn die hilflose Deutung des Geschehens als Einheit von Ichfunktion und Gedanke oder als Zentralmoment der seelischen Struktur im Kern recht verstanden ist, dann besagt das doch, daß Religion oder Glaube einem seelischen "Urlaut" entstammt. Es handelt sich um ein Widerspiel aus der Totalität unserer Existenz. Mit dem Psychoanalytiker Erikson könnte man im positiven Fall sagen, es entsteht "Urvertrauen", wenn jedenfalls die Folie der christlichen Botschaft richtig wahrgenommen ist. Ohne sich schon argumentierend klar geworden zu sein, ohne seine Gefühle kritisch beobachtet zu haben, ohne eine Dogmatik zur Hand zu haben, hat man gleichsam am Anfang aller Dinge eine ursprüngliche Wahl vollzogen, die Existenz begründend wie das Leben schlechthin. Genauer gesagt und dem Erfahrungsvorgang entsprechend hat man in der großen Konfrontation mit dem Leben das eine oder das andere angenommen, weil das unbedingte Angewiesensein keine andere Wahl ließ. Man kann eben das Gute oder das Böse, das Schöne oder das Häßliche, die Skepsis oder die Hoffnung "wählen", wenn die Wirklichkeit so oder so gegen uns aufsteht. Irgendetwas glaubt der Mensch immer, wie er auch immer irgendetwas liebt. Es gibt keine Alternative. Und das kann nicht mehr begründet werden. Darum heißt es auch immer: "Du mußt dich entscheiden!" und von der anderen Seite her: "Es ist über dich entschieden". So weit hilft uns Psychologie auf die Spur des Religiösen etwas als mit der menschlichen Existenz Gegebenen.

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LeerDer Einwand also, ihr habt zuviel Himmel im Kopf, trifft schon auf dieser Ebene daneben. Es beginnt mit dem Himmel im Kopf - oder mit der Hölle! Und gerade das, was mit dem Bekehrungserlebnis so eklatant hervorbricht; deutet in die Tiefe unserer Existenz. Eine Theologie, die sich als Aufklärung anschleichen will, die kritische Reflexion als die eine theologische Tugend ansieht, darf sich nicht wundern, wenn sie nichts anderes schafft als die Qual der Dauerreflexion, als ein Meer selbst produzierter Ungewißheit. Sie hat nämlich die Wahrheit des Lebens überhaupt nicht begriffen. Dieses Leben basiert auf einer ursprünglichen Wahl. Das ist seine religiöse Qualität. Darum übrigens ist auch das Tor der Gefühle so wesentlich. Denn Gefühle integrieren die Person am stärksten. Nirgends ist der Mensch so identisch mit sich selbst wie in seinen Gefühlen. Eine Theologie, die die Gefühle mißachtet, hat den Menschen nicht erkannt, nicht einmal seine wahre Krisis. Denn natürlich kann er durch den Einfall in dieses Tor auch am stärksten manipuliert werden.

LeerGefühle hält man bekanntlich für schwammig. Bevor unser Aufklärungszeitalter begann, gestand man einander wenigstens "echte Gefühle" zu. Aber in der rationalisierten Theologie heute redet man selbst davon nicht mehr. Es ist vollständige Dürre. Man meint eben, nur kritisches Hinterfragen sei echt und lauter und redlich. Mündig allein sei die Vernunft. Daß diese, um mit Luther zu reden, sich willfährig zur Hure macht, daß sie also mit dem Politiker um seiner Macht willen, mit dem Theologen um seines Rechtbehaltens willen und mit dem Naturwissenschaftler um seiner Prämissen willen ins Bett geht, vermag man nicht mehr zu sehen. Wenn es aber stimmt, was von den Zentralmomenten der seelischen Struktur gesagt wurde, dann heißt das heute, den Gefühlen in der religiösen Vergewisserung wieder ihr Recht zu verschaffen.


II.

LeerWenn nun aber die menschliche Situation aufgebrochen ist, und zwar, wie wir sagten, durch Begegnung und Erfahrung der Grenze - es war nämlich kein Ausweg mehr -, dann ist das doch nun speziell theologisch nicht anders zu qualifizieren als durch die Begriffe Neuschöpfung oder Wiedergeburt. Darum spielen aktionsfreie Ausdrucksformen der menschlichen Hinwendung eine so große Rolle, beispielsweise das Gebet als Offenstehen für Neuerfahrung und Anrufung aus Hoffnung. Darum auch ist der Hymnus, und sei es der Gospelrock, als Ausdruck des Ansichtigwerdens der Geheimnisse so wesentlich. Darum schließlich erwartet man, gesegnet zu sein. Mit anderen Worten: dir leicht diskriminierende Deutung, ihr seid zu unkritisch, oder einfach zu glauben, sei Ausdruck der Unmündigkeit, trifft gerade den Kern des Geschehens nicht. Es gibt eben Realitäten, denen man mit keinen anderen Bereitschaften entgegentreten kann. Und der Hunger nach religiöser Realität- das ist zunehmend die Folie des modernen Bewußtseins - kann nicht anders gesättigt werden.

LeerEndlich versteht man so, daß sich alles zusammenzieht auf geballte Artikulation. Es geht um Jesus. "Einfach" heißt es: ich bin geliebt. Die Konzentration auf den einen Punkt und dir irrationale Bereitschaft wären einfach mißverstanden, wenn man sagt, hier haben wir nun eine neue Sucht. Drogensüchtige sind Jesus-Süchtige geworden. Wer nur diese Raster des Geschehens kennt, verdeckt sich Wirklichkeiten, die erst religiöse Erfahrung in ihrer Tiefe bestimmen. Es ist schrecklich, wie in der Publizistik auf Grund des Rasters "rational und sozial" das religiöse Durchbruchs- und Bekehrungserlebnis, ja die religiöse Erfahrung in ihrem Zentralgehalt schlechthin heute mißdeutet und zerredet werden. Mit Eiseshauch fällt man über Keimendes her, das sogleich erfriert. Das Argument, man kann auch sagen, das Dogma, ist die Folge, nicht der Grund des Glaubens.

LeerAber natürlich stellt diese Erkenntnis keinen Widerspruch zu der Tatsache dar, daß Glaubenserfahrungen gedanklich aufgearbeitet und damit offenbar auch befestigt werden können. In der einschlägigen Literatur gibt es Statistiken aus der methodistischen kirchlichen Arbeit. Diese zeigen, daß der Anteil von Bekehrten auf Erweckungsversammlungen, die wieder umkehren, größer ist als der Anteil von Bekehrten in regelmäßiger kirchlich methodistischer Arbeit.

LeerDer Kern aber des Glaubens bleibt das Evidenzerlebnis, also das Überwundensein durch eine durchschlagende, aber im Grunde auch sehr einfache Erfahrung. Dies möchte ich die formale Seite der Gnade nennen. Handelt es sich wirklich um Gnade, so sind die Bedingungen dahin. Auf keine Weise kann das Gesetz zwischeneinkommen. Und darum braucht man auch nichts zu sein, nicht einmal einer, zugespitzt gesagt, der seinen Glauben "versteht". Man ist "nur" einer, der nun auf Gott baut. Man kann also die Gnade gar nicht haben ohne Himmel im Kopf.

LeerBedenkt man alles, so zeigen die drei ständigen Einsprüche - zu unkritisch, zu gefühlsmäßig, zu wenig sozial aktiv -, wie weit wir abgeirrt sind. Wer nur und primär aufklärerische Gesellschaftskritik und entsprechende Aktion will, hat in der Tat einen anderen Glauben. Seine Vision ist das Gesetz, ermittelt aus dem vernünftigen Interesse der Menschen an Gerechtigkeit, durchgesetzt als eine Art Weltkirchenzucht. Die Entschiedenheit und der Eifer hier erlauben die Definition: Säkularpietismus. Das aber ist ein anderer Glaube.

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LeerAufregend an den neuen Erlebnissen bleibt doch gerade, daß endlich uneingeschränkt und unbefangen von Gnade gesprochen wird. An den heutigen Standard der Theologie muß man die bedrückende Rückfrage stellen, ob es denn überhaupt noch um ein Evangelium geht. So hilflos und unsicher sich jetzt der Einwand von anderen Glaubenserfahrungen her ergibt, so sehr kann man aufatmen. Dies ist eine andere, dem christlichen Glauben gemäßere Vision. Sie ist gerade in dem Bekehrungserlebnis drogensüchtiger Jugendlicher dem christlichen Glauben gemäßer, weil sie so erkennbar durch die Pole Gericht und Gnade bestimmt wird, oder weil die bedingungslose Rechtfertigung des Menschen uneingeschränkt gelebt wird. Wie anders soll sie schließlich ausgesagt werden als mit der These, weil du ein Mensch bist, bist du geliebt, Gott will es, wir wollen es. Das Spontanerlebnis aber wird man zweifellos angemessen als charismatisch bezeichnen können, wobei dem reflektierenden Theologen zugestanden sei, daß seit den Tagen der Bibel dieses Erlebnis als zweideutig erkannt ist und daß es immer wichtig bleibt, Zungenreden zu interpretieren.

LeerIm übrigen stellt sich hier auch heraus, daß ein guter Baum gute Früchte trägt. Eindeutig erweist die Geschichte der Frömmigkeit, daß diese immer auf Aktivität aus ist. Mit dem Vorwurf der "bloßen Innerlichkeit" wird sie überhaupt nicht verstanden. Die hochmütigen Verwerfungen der "Innerlichkeit" sind auch historisch einfach unredlich. Der tertius usus legis, das neue Leben der Wiedergeborenen, ist nachweisbar, und reiner Enthusiasmus ohne Buße ist es auch nicht. Das Durchschreiten der Krisis bleibt Erinnerung und Warnung. Es handelt sich wirklich um das Erlebnis von Gericht und Gnade.

LeerIn den Einwendungen gegen dies Geschehen ist aber ein Wahrheitskern. Wir müssen mit der tragischen Erfahrung rechnen, daß es Selbstbetörung des Menschen gibt und daß jede menschliche Wirklichkeit manipuliert werden kann. Er steht eben zwischen den Mächten und es ist die Frage, welchen er sich zuwendet, und es ist ebenso die Frage, welche der Mächte sich seiner annimmt. Daß wir dies letztlich nicht mehr entscheiden können, gehört zum Rätsel unserer Existenz. Anders gesagt, der Teufel pfuscht in der Tat Gott ins Handwerk und am liebsten mit religiösen Motiven. Das wissen wir aus der Versuchungsgeschichte Jesu. Wenn man den Teufel anbetet, macht er großartige Versprechungen. Die Kontrolle ist dann allein die Frage: Wer ist dein Gott? Und wenn auch die neuen Bewegungen naiv mit der Bibel umgehen, so sollte man doch voraussetzen, daß die Bibel ihre Sache mit Gott vertritt.

LeerWas bedeuten endlich die Bekehrungserlebnisse auf der geistigen Folie unserer Zeit ganz allgemein? Offensichtlich bahnt sich eine Veränderung des Bewußtseins an. Man könnte eine Fülle von Erscheinungen nennen. Aber das Elementarste ist doch der allmähliche Abbau der Faszination der rational-wissenschaftlichen Welt. Die Positionen der Wissenschaften erweisen sich doch als zu schwach, um den Hunger des menschlichen Bewußtseins zu stillen. Der allgemeine Optimismus schwindet. Es entsteht das Gefühl eines Vakuums, und schon befindet man sich auf dem Ausweg irgendeines Fernwehs. Merkwürdig ist die Wiederbringung des geschichtlichen Sinns in der Weise der Dekoration. Da die Instruktionen über die Hygiene der Sexualität so enttäuschend sind, verhüllt man sich wieder hinter den großmütterlichen Gewändern. Wer seine Wohnung möbliert, kann zwischen Plastik oder alt-germanischer Eiche entscheiden. Es ist schon kein Blick mehr zurück im Zorn über die Prüderie damals und die vermeintlichen Verlogenheiten einer vergangenen Zeit. Man schwindelt sich vielmehr gern in den Jugendstil und erlebt das popartige Glück der Farben. Die Frage ist: Was sucht man in Wahrheit?

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LeerAuf andere Weise stellt sich das neue Bewußtsein ein in dem Suchen nach dem Sinn. Dies gilt selbst für die nachdenklichen Marxisten. Milan Machovec, Prager Philosoph und Kommunist, hat die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens als "Kernfrage des künftigen Marxismus" bezeichnet. Milan Holub schreibt in der Zeitung des slowakischen Jugendverbandes, die Anziehungskraft der Religion beruhe eben auf der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens, es sei naiv zu glauben, daß Wandlungen in der Gesellschaftsstruktur allein schon Bewußtseinsänderungen bewirkten, die sich auf den Sinn des Lebens richten.

LeerNimmt man alles in allem, so muß man angesichts der weitläufigen Diskussion um die Veränderung unserer Zeit sagen, daß der behauptete Bruch zwischen Religion und unserer Welt tatsächlich nicht eingetreten ist. Viele hatten an diesen Bruch gedacht, nicht zuletzt die Theologen selbst. Darum wollten sie weltlich interpretieren, aber es zeigte sich, daß diese Welt sich dazu nicht eindeutig anbietet. Möglicherweise sind sogar die Überlegungen über den Tod Gottes, genauer gesagt, über den Tod des Begriffes Gott, so etwas wie ein Ausdruck der Frustration. Die Sprache der Gott-ist-tot-Aphorismen ohne ganzheitliche systematische Erfassung und dies mit der revolutionären Attitüde war die Sprache des Schockierens, um die Frustration zu durchlöchern. Es blieb aber eben nur beim Schock. Es war keine Antwort.

LeerWenn wir also nun wieder so gründlich vor der Sinnfrage stehen, wenn uns, etwas romantisch gesagt, wieder ein Sehnen ergreift, dann ist das doch ein Fingerzeig, daß wir auch von dieser Seite her nach einem "Zentralmoment" hungern, und daß es gar nicht so verwunderlich ist, wenn es im Zentrum der seelischen Struktur einen Aufstand dafür gibt. Jesus people und andere auf ihrer Linie sind darum Zeitgenossen im besten Sinne, nicht Außenseiter, sondern Empfindsame für die Tiefe der Vorgänge. Die Theologie steht freilich vor der Tatsache, daß am Ende einer theologiegeschichtlichen Phase plötzlich nach "Urlauten" der christlichen Botschaft zurückgefragt wird. Jesus wird erfahren nicht mehr nur als der große Humanist und Sozialist. Es entsteht wieder die Fähigkeit, den Entscheidungscharakter des Glaubens jenseits von Rationalität als ein Element der Konfrontation Gott-Mensch zu erkennen und dies dann mit der Wirklichkeit von Geist und Gnade zu erfüllen.

Quatember 1972, S. 131-137

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-09
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