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Holland: Lebendige Ökumene
von Walter Lotz

LeerWährend bei uns die ökumenische Bewegung an vielen Orten stagniert und sich ökumenische Tagungen wie die der Arbeitsgemeinschaft Ökumenischer Kreise mit der „Misere der Ökumene” beschäftigen, lud die „action 365” zu einer nachösterlichen Studienfahrt nach Holland ein. Die konfessionell gemischte Gruppe umfaßte vorwiegend Laien, Sprecher und Mitglieder der örtlichen Kreise der action 365, begleitet von einigen Theologen und Mitgliedern des Führungsstabes aus Frankfurt. Das Tageszentrum der niederländisch reformierten Kirche in Driebergen „Centrum Hydepark” war erstes Reiseziel und Tagungsort für die Vorträge und Aussprachen unter Anwesenheit holländischer Experten.

LeerUm es vorweg zu sagen: die Krönung der sehr ermutigenden Begegnungstagung war ein Gottesdienst in Amsterdam. Der Bischof von Haarlem hat einer Gruppe von Dominikanern den Auftrag erteilt, in der Dominicuskirche in Amsterdam sich um neue gottesdienstliche Formen zu bemühen, die für die Diözese insgesamt anregend werden könnten. Jeden Sonntag um 11 Uhr findet in der gotischen Hallenkirche in der Spuistraat eine Eucharistiefeier statt, die von 800-1000 Menschen getragen wird, viele finden keinen Sitzplatz. Am Vorabend führte uns Pastor Tepe in dieses liturgische Experiment ein.

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LeerRiesige Stapel von Behelfsgesangbüchern mit älteren, neuen und neuesten Gesängen liegen bereit. Das Ringbuchsystern erlaubt fortlaufend Ergänzungen. Der Stil der neuen Gesänge verrät Huub Oosterhuis im Hintergrund als Berater und Autor. Vieles ist nicht christlich etikettiert. Unmittelbar menschliche Reflexionen und Empfindungen werden in die Eucharistie mit hineingenommen. Bei der musikalischen Ausführung wird ein lebendiger Rhythmus nicht ausgeschlossen, drängt sich aber nicht über Gebühr in den Vordergrund. Die Orgel bleibt Königin der eingesetzten Instrumente. Ein sonntäglich mitwirkender jugendlicher Chor gehört als bewegendes Element dazu. Unsere Gruppe hat sich im Westteil der Kirche an Tischen versammelt, auf denen die Aschenbecher nicht fehlen. Der Hinweis des Pastors klingt nicht provozierend, sondern eher entschuldigend, daß die Kirche gewisserweise desakralisiert wurde. Man hat kein eigenes Gemeindezentrum. Man hat die Millionen nicht, die in Deutschland auf Grund der Kirchensteuern verbaut werden können, und ist auf die Sammlungen und freien Gaben angewiesen. Darum findet vieles weniger Nötige einfach nicht statt. Und die alte Kirche, die lange keine gründliche Renovierung erlebt hat, dient zugleich auch als Ort der Begegnung für die Menschen der Gemeinde und für viele, die von auswärts kommen. Zwar brennt am Hochaltar das ewige Licht, aber im Schiff geht es betont „profan” zu. Einige der Katholiken, die das so noch nicht kennen, müssen ein wenig schlucken, als sie in den Weihwasserbecken kein Wasser finden, sondern Zigarettenschachteln und Asche. Aber es erscheint dann doch einleuchtend, daß diese Kirche im Hauptbahnhof- und Hafenviertel eine gewisse Atmosphäre braucht, um nicht abweisend, sondern einladend zu wirken.

LeerNeuerdings hat ein bekannter Fernsehstar den Raum für den frühen Sonntagmorgen erbeten (4 Uhr!), um mit einigen Künstlerfreunden die aus den Nachtlokalen müde und hoffnungslos heimwärts Schleichenden in der Kirche ein wenig aufzumuntern mit einem Programm, das sicher keine gottesdienstlichen Züge tragen wird. Der Pastor hat gern zugestimmt, denn mit einem Gottesdienst könnte er diese Menschen nicht in die Kirche bekommen. Aber was der Künstlerkreis da unternimmt, kann doch durchaus ein gottesdienstliches Geschehen sein für eine Kategorie von Menschen, von denen sich Jesus nicht so leicht abgewandt hat, wie wir es zu tun pflegen. Der Pastor erläutert den Gang der Gottesdienste mit ihren Themen in der letzten Zeit und begründet, warum schon eine Woche nach Ostern das Thema Himmelfahrt ansteht, einfach weil in den spontan und wechselnd sich bildenden Gesprächsgruppen der bisherige Weg sich jetzt auf dieses Thema zugespitzt hat. Biblische und außerbiblische Texte sind gesammelt und gesichtet worden. Der Prediger, der aus dem Dominikanerteam diesmal an der Reihe ist, hat sein Konzept kritischen Gesprächsgängen unterworfen und versucht Antworten auszumerzen, für die keine Fragen vorliegen, und die wirklichen Fragen mit dem Gehalt der Verkündigung in Verbindung zu bringen. Die Predigt wird morgen am Ausgang zu haben sein. Es gehen regelmäßig rund 1000 Exemplare nach dem Gottesdienst mit hinaus und wirken in der Breite weiter.

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LeerDie Aussprache nach dem Informationsvortrag kommt nur zögernd in Gang. Schließlich öffnet sich die häßliche Bretterwand neben der Pietà im Hintergrund und chromblitzende Kaffeemaschinen werden sichtbar, die noch zu später Stunde für das obligatorische Täßchen Kaffee sorgen. Das gehört freilich auch nach den Gottesdiensten zum Programm, damit man das Gehörte im Gruppengespräch verarbeiten und menschliche Kontakte pflegen kann. Sicher ist das besser als ein fremdes Nebeneinander in der Kirchenbank, aus dem man in die Isolierung hinausgeht, aus der man kam. Da es keinen Gemeinderaum nahebei gibt, kann das Täßchen Kaffee in der Kirche liturgisch wichtiger sein als die weihevolle Stille des sakralen Raumes. Freilich kam an diesem Vorabend auch die Frage auf, ob ein so vorbereiteter Themagottesdienst noch wirklich zur Eucharistiefeier werden könne. Im Vollzug am nächsten Morgen verstummte diese Frage.

LeerEine halbe Stunde vor Beginn begannen die Menschen zu strömen. Während der Chor noch übte und der Organist probierte und improvisierte, füllte sich das Schiff. Familien mit Kindern, Leute aus der Hafengegend und Akademiker, Einheimische und Fremde. Aber wirklich fremd brauchte sich niemand zu fühlen. Die freie Atmosphäre ließ keine Steifheit aufkommen. Pünktlich um 11 Uhr zogen vier Priester in weißen Dominikanerkutten in die übervolle Kirche ein. Kurz vorher hatte der eine oder andere noch in „Räuberzivil” sein Pfeifchen geschmaucht, Leute begrüßt oder sich am Schriftentisch betätigt, der auf einem Seitenaltar aufgebaut war. Nun trat schnell Sammlung und Stille ein. Mit einer freien Begrüßung, die in verschiedenen Sprachen auch Ausländer einbezog, gab sich einer der vier Patres als der Vorsitzende der Eucharistie zu erkennen. Ein anderer trug nach einem Gesang eine außerbiblische Lesung vor, diesmal von Sadhu Sundar Singh. Chor- und Gemeindegesang rahmten die folgende biblische Lesung ein, und dann folgte die Predigt, von dem vierten der Patres lebendig vorgetragen. Danach war eine kleine Pause der Entspannung fällig, die mit Musik und der lebenswichtigen Opfersammlung gefüllt wurde.

LeerNach dieser Pause wurde es endgültig deutlich, daß es sich nicht um eine Themenbehandlung mit Agape handelte, sondern um eine echte Eucharistiefeier. Die ganze Gemeinde fiel auf die Knie, und das große Abendmahlsgebet in einer Fassung, die im Ringbuch stand, wurde gesungen. Dabei lösten sich Priester, Chor und Gemeinde ab. Der erste Teil der Stiftungsworte, die Worte über dem Brot, fielen dabei der Gemeinde zu. Die besondere Funktion des Vorstehers erschien dadurch keineswegs geschmälert, daß fast 1000 Menschen in Andacht und freudiger Beteiligung die Worte sangen „Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht da er verraten wurde”. Nach dem Vaterunser ging es schnell zur Kommunion. Die vier Priester und vier Laien der Gemeinde, darunter eine Frau, nahmen jeder einen der großen flachen Körbe vom Altar, in denen die mazzenähnlichen Brotscheiben lagen. An acht gut gewählten Stellen der Kirche standen sie dann und brachen den Kommunikanten das Brot. Am Schluß standen diese acht um den Altar und reichten sich gegenseitig die gesegnete Speise und leerten stellvertretend für die Vielen den kleinen Becher mit dem gesegneten Wein. Mit Dankgebeten und froher Musik endete die Feier, und noch lange nachher blieb die Kirche erfüllt von wechselnden Gruppen, die den Gottesdienst nachklingen ließen.

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LeerWie viele Nichtkatholiken am Gottesdienst und an der Kommunion teilnahmen, läßt sich natürlich nicht feststellen. Aber es ist schwer vorstellbar, daß jemand auf den Gedanken gekommen wäre, zu fragen, ob das erlaubt sei. Dafür ist die gegenseitige Teilnahme bei gemeinsamer Feier schon längst viel zu selbstverständlich geworden. Vor einigen Jahren berichtete „Quatember” (1969/70, Heft Nr. 9, Seite 21-26) über die Vorgänge in dem Ort Venhuizen, wo sich die katholische und die reformierte Gemeinde des Ortes zu weitestgehender Kooperation unter kirchenbehördlicher Aufsicht zusammengeschlossen haben und wo auch regelmäßig die Eucharistie in beiden Kirchen mit offener Kommunion für die Glieder der anderen Gemeinde gefeiert wird. Dieser Versuch sei inzwischen gut weitergegangen und die gemachten Erfahrungen seien ermutigend, wurde uns versichert. Dennoch hält man es für verfehlt oder mindestens für verfrüht, eine offizielle Interkommunionvereinbarung von den Bischöfen oder Kirchenleitungen zu erwarten. Dazu ist die Stunde auch in Holland noch nicht reif. Vielmehr werden die Seelsorger und Gemeinden ermutigt, ohne spektakuläre Provokationen am Ort das zu tun, wozu das Gewissen im Rahmen der wachsenden brüderlichen Gemeinschaft die Freiheit gibt.

LeerDer praktisch veranlagte Holländer vermeidet gern überspitzte Grundsatzdiskussionen und wendet sich lieber den drängenden Aufgaben zu, die ihm vor die Füße gelegt werden. Dabei erweist sich die Delegation nach unten als wirksamer und fruchtbarer als die Delegation nach oben. Früher gab es einen ökumenischen Rat der Kirchen in Holland, in den die einzelnen Kirchen Delegierte entsandten, die über alles sprechen konnten, aber für nichts Handlungsvollmacht besaßen. Daraus konnte sich kein ökumenischer Fortschritt ergeben. Jetzt gibt es einen Rat der Kirchen Hollands, dem nur die bevollmächtigten Leiter der Kirchen selbst angehören. Ihr Wort und ihr Beschluß hat natürlich ein ganz anderes Gewicht. Die praktische Ausführung muß dann freilich nach unten delegiert werden. Dies auch schon deswegen, weil der Verwaltungsapparat aus rein finanziellen Gründen äußerst knapp gehalten werden muß.

LeerMan sieht es als ein lähmendes Verhängnis an, daß den deutschen Kirchen durch die Kirchensteuern für den Bauetat und den Personaletat zu viel Mittel zur Verfügung stehen. Dadurch geschieht viel Unnötiges. Wo eine deutsche Diözese rund 200 hauptamtliche Mitarbeiter in ihrem Behördenapparat beschäftigt, stehen der großen Diözese Haarlem (mit Amsterdam) im ganzen nur 13 Personen (einschließlich der Putzfrauen, wurde uns gesagt!) zur Verfügung. Dadurch erübrigt sich ein Großteil des Verwaltungsleerlaufs und der kleinlichen Bevormundung von selbst. Was nicht lebensnotwendig ist, findet nicht statt. In der Diözese Breda hat man gute Erfahrungen damit gemacht, daß Gemeindeglieder in Gruppen mit Eltern angemeldeter Täuflinge zusammenkommen und Vorbereitungsgespräche über den Sinn und die Konsequenzen der Taufe mit ihnen halten. Die Taufen werden dann auch häufig von Laien aus diesen Gruppen vollzogen. Das dient nicht nur der Entlastung des Priesters, sondern vor allem einer sinnvollen Aktivierung der Gemeinde.

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LeerEinige kühne Formulierungen konnte man hören im Blick auf die Lockerung der Zölibatsverpflichtung für Weltpriester, ohne daß daraus ein Prinzipienkampf gemacht würde. Vieles regelt sich in der Praxis von selbst, wenn nur eine verantwortliche Mitmenschlichkeit auch innerkirchlich praktiziert wird. Ohne diese gelebte Menschlichkeit aber würde die Predigt vom Reiche Gottes unter den Menschen unglaubwürdig. Wenn die in geistlicher Verantwortung geführte Lebensgeschichte eines Priesters zur Eheschließung führt, so braucht er auf eine kirchliche Trauung auch dann nicht zu verzichten, wenn er keine Laisierung beantragt, und also auch keinen Heiratsdispens erhält. In Rom wird bisher das eine vom anderen abhängig gemacht. Aber muß deswegen ein verheirateter Priester auf ein geistliches Amt verzichten? Er wird aus der „Schußlinie” herausgenommen. Man will es weder aus solchen noch aus anderen Gründen zu einem Bruch mit Rom kommen lassen. Aber man kann und will auch die Menschen nicht fallen lassen, die sich mit ganzer Kraft und segensreich für die Kirche einsetzen. Und man traut darauf, daß die lebendige Entwicklung in einer überschaubaren Zeit zu Lösungen fuhren wird, die für alle Beteiligten menschlich und geistlich annehmbar sind.

LeerDie Frömmigkeitsformen mögen sich im einzelnen wandeln. Aufs Ganze gesehen bleibt das katholische Holland eine getreue und sehr lebendige und aktive Provinz der römisch-katholischen Kirche. Von vier Millionen katholischer Holländer nehmen rund 75% aktiv an der Eucharistie teil, aber nur weniger als 1% machen noch von der Privatbeichte Gebrauch. Diese Tatsache deutet auf Wandlungen hin, die sich auch in Deutschland abzeichnen. Nur scheinen die holländischen Gemeinden stärker ihre Verantwortung für den Dienst der Christenheit in der Welt zu erkennen und wahrzunehmen. Daraus ergeben sich ganz von selbst Lösungen für das Leben der Ökumene am Ort, das ein Höchstmaß von Gemeinsamkeit in allen Bereichen und zugleich ein Höchstmaß von Offenheit für die Umwelt zum Ziel hat. „Die Sache Jesu” kommt dabei bestimmt nicht zu kurz, auch wenn gewisse kirchliche Selbsterhaltungsbestrebungen in ein kritisches Licht geraten. Das Heil, um das es im Reiche Gottes geht, ist nicht so sehr das Heil des einzelnen oder der Einzelkirche, sondern das Heil des Ganzen. Wer dies Leben in Christus gewinnen will, muß bereit sein, sich selbst ganz dranzugeben. Viele Probleme, die bei uns in Deutschland noch als heiße Eisen der ökumenischen Diskussion gelten, kommen unseren holländischen Brüdern merkwürdig überholt vor. Verschiedentlich tauchte das Wort von der „Gaslampenputzer-Ökumene” auf. Eine Stadt, die Millionen für elektrische Energie ausgibt, leistet sich in ihrem Etat auch noch ein paar tausend Mark für die Pflege der alten Gaslaternen im Stadtpark, welche die Touristen so romantisch finden. Wo der Auftrag des Stifters der Kirche in der heutigen Welt ihren vollen und vereinten Einsatz bei aller gewachsenen Verschiedenheit fordert, gleicht die introvertierte Beschäftigung mit den gestrigen Gegensätzen dem fleißigen Putzen der romantischen - aber überflüssigen Gaslaternen. Solche Impressionen mögen einseitig und nicht ohne weiteres auf unsere Verhältnisse übertragbar sein - dennoch können die Reiseeindrücke einer so gezielten ökumenischen Studienfahrt kräftige Impulse für müde gewordene Ökumeniker vermitteln, und dafür ist der Aktion 365 nachdrücklich zu danken.

Quatember 1972, S. 167-172

[Dominikusgemeinde Amsterdam]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-10
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