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Haus der Gabriels-Gilde
von Eugen Weschke

LeerDie Keimzelle unserer Arbeit waren Rüstzeiten junger kirchlich orientierter Menschen. Seit den 50er Jahren führten wir Tage und Wochen gemeinsamen Lebens durch, jenseits von Schematisierung und Erstarrung. Wir entdeckten die Beziehung zwischen Erfahrung der göttlichen Gegenwart und Selbsteinsicht des Menschen im Hören, Gespräch und Rundgespräch, in der Tischgemeinschaft, im Gebet der Tageszeiten, im Gottesdienst und Meditieren. Die Rüstzeiten wirkten stark prägend auf die Berufsentscheidung der jungen Menschen, ihre Partnerwahl und ihre ganze Lebensgestaltung. Der Wunsch nach einem Lebenszentrum wurde laut.

LeerZur Verwirklichung gründeten vor 14 Jahren vorwiegend junge Menschen eine Bruderschaft: die „Gabriels-Gilde”. Sie wußte sich der Aufgabe verpflichtet, ein „Haus der Stille” ins Leben zu rufen. In ihm sollten Menschen Einkehr halten, die sich in Ruhe und Stille auf die Bewältigung ihrer Aufgaben im täglichen Leben ausrichten lassen wollten. Anfänglich mietete die Bruderschaft für diesen Zweck ein Haus. Später kaufte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg (West) das Haus am Kleinen Wannsee und stellte es der Bruderschaft zur Verwirklichung ihrer Idee zur Verfügung. Nun dient das Haus, getragen von der kleinen Bruderschaft, seit über sieben Jahren jungen und älteren Menschen zur Neuorientierung in ihrem Alltagsleben. Es nimmt den Gast, der dafür geöffnet ist, mit hinein in die Erfahrung geordneten geistlichen Lebens und läßt ihn an dem Versuch, in der Gemeinschaft existentiell zu glauben, teilhaben. Mit der kleinen Hausgemeinde kann er in der Kapelle an der evangelischen Messe teilnehmen. Die Erfahrung der Stille und des kontemplativen Gebetes gehört zum Gottesdienst, weil in ihm Gott gegenwärtig ist. Gott schafft in dem Glaubenden die Stille. Wer daran interessiert ist, kann sich in die Meditation einführen lassen. Wir üben die gegenständliche Meditation in evangelischer Sicht und Tradition. Unser Ausgangspunkt liegt in Carl Happichs Konzeptionen. Die „naturale Meditation” nimmt in Erweiterung des Happichschen Ansatzes in unseren Übungen einen relativ großen Raum ein. Die Meditation von bildhaften Bibeltexten läßt uns das Geschehnis/den Lebensvorgang, den wir anschauen, in uns hereinnehmen und ihn uns „vergegenwärtigen”. So kann er in uns Raum gewinnen und uns wandeln.

LeerDas Zusammenleben im Haus, in der Gemeinschaft von Mitarbeitern und Gästen, kennt keine Abgrenzung geistlichen Lebens vom weltlichen Dasein. Wir meinen, daß Christus erst dann die Mitte unseres Lebens ist, wenn alle Bereiche unseres menschlichen Seins Ihm zugeordnet werden. So ergänzen sich das Geistig-Geistliche und das fröhliche Gemeinschaftserleben sinnvoll. Das Haus hat Raum für den Chorgesang und die Gregorianik einerseits und für die Folklore, das gemeinsame Singen zur Laute andererseits. Es kennt besinnliche Weihnachts- und Passionsmusik, die Feier der heiligen Osternacht, aber auch lustige Sommerfeste. Es gibt auf der einen Seite Barockmusik, gespielt von unserem Instrumentalkreis mit Querflöten und Blockflöten, Spinett und Klavier; auf der anderen Seite Volkstänze und Madrigale, Laien- und Singspiele.

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LeerWir erleben Meditations- und Schweigefreizeiten, sowie fröhliche Abende im Blockhaus am Kamin mit Bratwürstchen und einem Glas Bier oder mit einer Feuerzangenbowle und Pfannkuchen. Bei uns tagen Gemeindekirchenräte, Krankenhausseelsorger, Kirchenchöre, Mitarbeiter aus den Gemeinden und übergemeindliche Gruppen. Es kommen Konfirmanden, mit denen wir Rundgespräche führen, spielen und zur Laute singen. So verschieden die Gruppen und ihre Anliegen sind, so bunt ist die Palette des Lebens, das wir miteinander gestalten. Konzentration und Entspannung, Besinnung und Fröhlichkeit sind gewissermaßen die Grundfarben im Bilde der Tagungen. Die anderen Farbtöne müssen auf die Gruppen abgestimmt werden. Immer helfen dabei als organische Einheit die Atmosphäre des Hauses, der Rhythmus des Tagzeitengebetes, die Gottesdienste mit dem Abendmahl, die Tischgemeinschaften bei den Mahlzeiten und je und dann die Tischabendmahlsfeiern.

LeerAuch dem einzelnen Menschen zu dienen, ist unsere Aufgabe. Inmitten einer schönen Umgebung kann der Gast zur Ruhe kommen. Jedes bewußte Einzelleben kennt heilsame Einschnitte. Um Klarheit über Wesentliches zu gewinnen und Kraft für das tägliche Leben und den Beruf zu sammeln, geht der eine für sich allein in die Stille, während der andere das Angebot, unter Anleitung Meditationsübungen durchzuführen, in Anspruch nimmt.

LeerGruppenteilnehmer und Gäste können Einzelgespräche mit dem Pastor, der Ärztin, die zugleich Psychotherapeutin ist, oder einem Mitarbeiter führen. Es ist auch die Möglichkeit gegeben, sich in das autogene Training und in Atemübungen einführen zu lassen. Das Nebeneinander von Theologie und Tiefenpsychologie, eingebettet in liturgisches und geselliges Gemeinschaftsleben, in Ruhe und Stille, umgibt den Gast. Es will ihm helfen, zu einer Neuorientierung und zur Vertiefung seines ganzen Lebens zu kommen. Jeder kann für sich aus dem Lebenszentrum des Hauses das schöpfen, was er nötig hat. Wesentlich scheint uns zu sein, daß jeder Besucher unter dem Angebotenen frei wählen kann, wenn auch die Einordnung in die Lebens- und Tischgemeinschaft, die etwas Heilsames hat, unerläßlich ist.

LeerDas Haus der Stille als Lebenszentrum, in dem man neue Kraft und neue Ausrichtung empfangen kann, soll für alle Aufgeschlossenen und Suchenden offen sein, und wir wollen uns zu ihnen hin öffnen. So kommen zu uns neben Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, römisch-katholische und orthodoxe Christen, die hier kommunizieren, und vereinzelt Juden und Mohammedaner. Sie alle können uns nahe und vertraut sein. Der Spannungsbogen in unserem Haus ist groß und weit, die Mitte ist Christus. Er ist die Fülle, aus der wir leben. Häuser der Stille können in unserer Zeit in der Kirche eine dringliche Aufgabe erfüllen.

Quatember 1972, S. 172-174

[Das Haus der Stille mußte Ende 2010 geschlossen werden, nachdem die Landeskirche ihre finanzielle Unterstützung eingestellt hatte.
Ein Trägerkreis führt die Tagungsarbeit fort.]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-10
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