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Religionslose Welt?
von Heinz Beckmann

LeerDaß es eine religionslose Welt oder eine religionslose Zeit nicht gibt, wissen wir zur Genüge aus der Geschichte der Menschheit. Dennoch wird die Religionslosigkeit als ein Merkmal unsrer Zeit von zwei Seiten her mit Eifer behauptet. Also muß man sich damit auseinandersetzen. Auf der einen Seite sind es dezidierte Christen, die immer wieder ein religionsloses Christentum verfechten, während auf der anderen Seite der orthodoxe Marxismus ungerührt darin fortfährt, die unerläßliche Ausrottung aller Religion aus der menschlichen Vorstellungswelt zu propagieren. Daß sich dabei der Marxismus selbst hinterrücks in eine Art Religion zu verwandeln scheint, gehört zu den aufschlußreichen Treppenwitzen der Weltgeschichte, nicht weniger aufschlußreich als die Verlegenheit, in die ein puristisch von aller Religion gesäubertes Christentum gerade jetzt zu geraten droht.

Auf beiden Seiten haben die Verfechter der Religionslosigkeit einen mangelhaften Kontakt mit der Wirklichkeit des Menschen. Solche Fehleinschätzungen können gefährlich werden. Der Dichter Max Frisch hat sich in seinem jüngst erschienenen „Tagebuch 1966/1971” die Frage gestellt, warum er eigentlich niemals die doch gar nicht so seltenen privaten Anlässe zur Freude notiere. Er antwortet sich selbst: „Die Freudengesänge, die uns überliefert sind, bezogen sich immer auf einen Anlaß zur außerpersönlichen Freude; solcher Anlaß scheint uns zu fehlen. Die Landung auf dem Mond oder Mars wird ihn nicht liefern. Die Revolutionäre versprechen Gerechtigkeit, nicht Freude. Nur die Drogen-Gläubigen sprechen von Freude; gemeint ist die Ekstase auf der Flucht aus einer Welt ohne frohe Botschaft.”

Das ist eine ebenso knappe wie hellsichtige Lagebeschreibung aus einer angeblich religionslosen Zeit. Damit wir uns recht verstehen: Die frohe Botschaft, die unsere Welt nicht hat, ist ganz gewiß keine Religion, ist ganz gewiß Offenbarung Gottes. Es fragt sich nur, ob der Mensch überhaupt imstande ist, überhaupt imstande sein soll, diese frohe Botschaft ohne Religion auch nur zu hören, geschweige denn anzunehmen und zu leben. Diese Frage wird gegenwärtig ziemlich laut gestellt. Es ist natürlich sehr bequem, gewissen religiösen „Entartungen” in unseren Tagen nun erst recht mit der behaupteten Religionslosigkeit des christlichen Glaubens zu begegnen. Redlicher (und christlicher) scheint es mir zu sein, zu den „religiös entarteten” Menschen hinzugehen.

Das hat der Hamburger Landesbischof Hans-Otto Wölber getan. Er suchte und fand konkrete menschliche Kontakte mit den jungen Leuten der sogenannten Jesusbewegung. Das ist ein beispielhafter Weg in einer Zeit, in der wir uns immer nur „über” etwas informieren, statt den betroffenen Menschen nachzugehen. So hat denn Bischof Wölbers Artikel „Zuviel Himmel im Kopf?” gleichsam dokumentarischen Charakter. Ganz ähnlich steht es mit den Darlegungen von Professor Horst Bürkle über die Herausforderung der christlichen Kirche durch die nichtchristlichen Religionen unsrer Zeit. Sie basieren auf ganz konkreten Erfahrungen in der so mannigfaltigen Welt der Religionen, und es ist sicher kein Zufall, daß Bischof Wölber und Professor Bürkle aus ihren ganz verschiedenen konkreten Erfahrungen zu ähnlich provozierenden Anfragen an die christliche Kirche heute kommen.

Gerade in diesem Zusammenhang so gründlich und eindringlich an die Katholizität der Kirche Jesu Christi erinnert zu werden, wie das in den Darlegungen von Herbert Goltzen geschieht, scheint mir wahrlich nicht müßig zu sein, denn eine „allumfassende”, also katholische Kirche widerspricht um ihrer Sendung willen der Behauptung eines religionslosen Christentums. Nicht von ungefähr findet sich gerade in diesem Heft auch der Beitrag von Bernhard Rang über Hugo Ball, als ein Hinweis nämlich auf einen Lebensbereich, der in unserm Jahrhundert besonders erfüllt war und bis heute blieb von religiösen Unruhen, den Lebensbereich der sogenannten schönen Künste.

Wenn im Anbruch dieses Jahrhunderts Paul Klee gesagt hat, er sei diesseitig überhaupt nicht zu verstehen, während in unseren Tagen Eugene lonesco in eines seiner Tagebücher notiert, er sei anderswoher und dieses Anderswo gelte es wiederzufinden - dann wird schon mit diesen beiden Anmerkungen eines Malers und eines Dichters klar genug markiert, in welcher Grenzzone sich die Kunst unsrer Zeit bewegt. Nicht zuletzt hier, im Bereich der schönen Künste, erhebt sich die Frage, ob wir nicht bei aller Bestreitung des Religiösen in einem ausgesprochen religiösen Jahr hundert leben, ohne das bislang recht bemerkt zu haben.

Quatember 1972, S. 185-186

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-10
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