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Das geistliche Wort: Überflüssig?
von Hermann Schwemer

LeerKunst sei überflüssig, versicherte ein Spruchband hoch oben über dem Kasseler Fridericianum während der „documenta 5”. Das ist ein merkwürdiges Motto für eine Kunstausstellung. Offiziell hieß das Thema „Bild und Wirklichkeit”. Die Wirklichkeit sollte befragt, die Funktion des Bildes ihr gegenüber ergründet werden. Das ließe sich schon eher verstehen im Sinn hergebrachter künstlerischer Bemühung. Jedoch geschieht das Befragen offensichtlich in ganz anderer Weise als bisher. Auch die klassische Kunst befragte die Wirklichkeit, aber so, daß sie versuchte, im Zufälligen das ewig Gültige zu entdecken. Auch die religiöse Kunst hält sich an die Wirklichkeit, macht sie aber transparent für etwas anderes, was mehr ist als sie.

LeerMit neuer Leidenschaft wenden wir uns nun heute dem einfach Gegebenen zu. So könnte man die Absicht der fünften „documenta” erklären. Spricht nicht die in keiner Weise idealisierte oder gedeutete Wirklichkeit deutlich genug, im Positiven wie im Negativen? So machen die Künstler dem Realismus der Photographie Konkurrenz. Die weitere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit kann dann nur noch in der Aktion bestehen. Alles andere ist überflüssig, ist Luxus.

LeerDaß Kunst überflüssig sei, war bisher wohl nur die mehr oder weniger ausgesprochene Meinung von Zivilisationsbarbaren, die sich nur um das Geschäft, um das materielle Wohlsein kümmern. Ihr Glaubensbekenntnis wurde in Kassel ironisch umfunktioniert. Damit zugleich wird ein Angriff vorgetragen gegen jene Zivilisation, die sich den Luxus einer Scheinwelt erlaubt, um sich dem eigentlichen Anspruch der Wirklichkeit zu entziehen. Auch die Religion wird wohl zu jenem gefährlichen Luxus gehören. Ich glaube, es ist berechtigt und nötig, die Problematik der „documenta 5” in diesem weiteren Rahmen zu sehen. Wir müssen fragen: Gehen Glaubenserfahrung und moderne Wirklichkeitserfahrung hoffnungslos auseinander? Oder bedarf auch der Glaube einer neuen Wendung zum Realismus?

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LeerPhilosophisch und theologisch bewegt uns die Frage seit hundert Jahren. Der Vorwurf, die Religion verführe den Menschen dazu, sich eine Scheinwelt zu schaffen, mit deren Hilfe er sich vor dem Anspruch der objektiv gegebenen Verhältnisse drücke, ist genügend verhandelt. Es gibt Argumente gegen diese These. Das ändert aber nichts an ihrer kritischen Kraft, die offensichtlich immer noch nicht erschöpft ist. Wenn man so will, haben sich auch die Propheten des alten Israel geirrt, als sie bei ihrem Protest gegen die eindringenden Kulte der Völker um Israel her deren Götter als „Nichtse” bezeichneten. Wir können heute durchaus anerkennen, daß jene Göttergestalten in ihrem Ursprung keineswegs Scheinwirklichkeiten waren. Sie entsprangen realen Erfahrungen. Die Wirklichkeit hatte sie auf die Befragung durch den Menschen hin herausgestellt. Aber sie hatten sich vom Urgrund der Wirklichkeit gelöst, waren zu Bestandteilen der Objektwelt geworden - als solche aber: Schein! So bildeten sie eine Isolierschicht, anstatt Medium zu sein zwischen dem Menschen und der Urwirklichkeit. Sie knechteten den Menschen, dienten auch weithin zur Aufrechterhaltung knechtender Systeme. Da mußten sie als Scheinwirklichkeiten enthüllt und zertrümmert werden.

LeerDies ist der Punkt, von dem aus wir der modernen Infragestellung der überlieferten künstlerischen und religiösen Gestaltenwelt ein prophetisch kritisches Recht zuerkennen müssen. Für einen Augenblick wird dieser Bereich „überflüssig”. Aber was geschieht nun in diesem Augenblick? Welche Wendung bahnt sich in ihm an? Das Modell hierfür bietet uns die Bibel im Buche Hiob. Es zeigt uns, wie die Wendung zum Realismus aussehen müßte.

LeerHiob erlebt, wie die Harmonie zwischen irdischem und göttlichem Bereich zerbricht. Auch er befragt die Wirklichkeit, und sie erweist sich ihm als absurd. Er weist den Harmonisierungsversuch der frommen Freunde ab. Was sie vorweisen, ist für ihn nur noch eine Scheinwelt. Er fragt und protestiert leidenschaftlich. Ganz Ähnliches finden wir bei der modernen Wirklichkeitserfahrung und deren künstlerischen Ausformungen in ihrer ganzen Trostlosigkeit wieder. Wird nun aber auch das Weitere sich ereignen? Der Umschwung erfolgt in dem Augenblick, wo Hiob in Schweigen versinkt. Aus dem Dunkel und aus dem Unfaßbaren der Wirklichkeit heraus beginnt nun eine Stimme den Menschen zu befragen. Sie fragt mit göttlicher Ironie: „ICH will dich fragen - lehre Mich!” Nun prasseln die Fragen auf Hiob nieder. Da beginnt er sich zu wandeln. Da löst er sich erst von dem, was er längst verloren hat. Sein ganzer Besitz wird ihm jetzt „überflüssig”. Er gibt sich Gott, der letzten großen Wirklichkeit, in die Hände.

LeerDas Befragen der Wirklichkeit führt also nicht zum Ziel. Das ist der Grund, warum eine nicht mehr künstlerische Kunst, wie etwa auch ein nicht mehr sakraler Gottesdienst so unbefriedigend bleibt. Der Mensch bleibt trotz aller leidenschaftlichen Hinkehr zur Wirklichkeit mit sich selbst allein.

Hiob ist durch die Finsternis, durch die Sinnlosigkeit gegangen. Als ein Verwandelter kehrt er in sein ihm wiedergeschenktes Dasein zurück. Es war für ihn „überflüssig” geworden in der Begegnung mit der göttlichen Wirklichkeit selbst. Nun ist es ihm wieder in einer neuen Weise transparent.

LeerSo mag es uns auch mit unseren künstlerischen und religiösen Besitztümern geschehen.

Quatember 1972, S. 193-194

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-10
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