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Die Zukunft der Kirche ist bekannt
von Heinz Beckmann

LeerDie heute viel erörterte Zukunft der Kirche ist aller Welt bekannt. Die Zukunft der Kirche heißt Jesus Christus. Die Geschichte der Kirche, erst recht die Geschichte ihrer Spaltungen, besteht aus mancherlei Verdunkelungen dieser schlichten Tatsache. Also unterliegt die Zukunft der Kirche nicht dem Belieben des Menschen. Gleichwohl hat Christus seine Kirche den Christen, also Menschen, anvertraut, allerdings nicht, damit sie nach eigener Einsicht und Vernunft über die Kirche verfügen, sondern nach der Einsicht und Vernunft des Neuen Testamentes.

LeerNur auf diesem Hintergrund können Erörterungen über die Zukunft der Kirche angestellt werden, und auch das wiederum nur mit einer wesentlichen Einschränkung. Christus hat der Kirche zugesagt, daß sie bis an das Ende der Tage leben wird. Es ist dem Glauben nicht möglich, diese Zusage anzuzweifeln. Alle Mutmaßungen, die die Tage der Kirche für gezählt halten, scheiden daher aus. Das Volk Gottes kann nicht darüber befinden, ob die Kirche Jesu Christi noch eine Zukunft hat oder nicht, sondern allenfalls darüber, ob die Zukunft der Kirche die Sekte sein wird oder im vollen, allumfassenden Sinn Kirche.

LeerIm Augenblick sieht es vielfach so aus, als wolle man der Sekte den Vorzug geben, dem Gesinnungsverein, einer vorsätzlich herbeigeführten Diaspora. In manchen Erwägungen spielt das Wort Diaspora für die Zukunft der Kirche eine bedenkliche Rolle, so als könnten es die Christen gar nicht abwarten, in die Diaspora verdrängt zu werden. Eng verknüpft damit breitet sich die seltsame Meinung aus, das Fundament der künftigen Kirche würde die persönliche Überzeugung des einzelnen Menschen sein. Falls es tatsächlich dahin kommen sollte, würde die Welt die Kirche lediglich noch im Vereinsregister führen, und wir hätten unseren Auftrag an die Welt verraten weil wir so gern Diaspora spielen wollten.

LeerMan kann die Botschaft des Neuen Testaments nicht wie diese oder jene Weltanschauung aus persönlicher Überzeugung annehmen. Dazu taugt sie nicht, denn in ihrer Herkunft und in ihrem Kern widerspricht sie jeder nur denkbaren Erwägung der menschlichen Vernunft. Wer die Zukunft der Kirche abhängig machen will von einem wohlerwogenen Überzeugungsakt des einzelnen Menschen, behindert das Fundament der Kirche, die freie Gnadenwahl Gottes. Doch scheint man heutzutage mitten in der Kirche oft gar nicht mehr zu wissen, nicht mehr wahrhaben zu wollen, daß der Glaube etwas radikal Anderes ist als menschliche Überzeugung oder Gesinnung. Der Glaube muß Dimensionen der menschlichen Existenz für wahr halten, die unserer Vernunft und intellektuellen Erwägung unzugänglich bleiben. Eben deswegen kann man den Glauben nur aus Gnade haben.

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LeerErst unter dieser Perspektive darf über die Volkskirche gesprochen werden, die heute meistens im Vordergrund steht, wenn über die zukünftige Entwicklung der Kirche diskutiert wird. Die Volkskirche, also die Selbstverständlichkeit der Säuglingstaufe und damit der Zugehörigkeit zur Kirche, ist für die Kirche längst eine Last geworden. Das muß man im Blick auf die Zukunft der Kirche klar aussprechen, auch wenn man oft das Gegenteil zu hören bekommt, so als stünde der Kirche ein schwerer Verlust bevor, falls sie sich eines Tages von der Volkskirche lösen muß. Ein Verlust würde das nur für diejenigen sein, die sich noch an den irdischen Machtmöglichkeiten der Kirche sonnen, also die Kirche vornehmlich für eine "gesellschaftlich relevante Gruppe" halten, die folgerichtig in allen wichtigen Gremien öffentlicher Verantwortung gehört werden muß.

LeerEine Last ist die Volkskirche vor allem deshalb, weil ihr die so selbstverständlich Getauften zu einem großen Teil innerlich gar nicht mehr zugehören und daher andauernd die Botschaft des Neuen Testamentes in unerträglicher Weise zu verflachen und zu verharmlosen drohen. Jeder Geistliche weiß heute aus Taufgesprächen, daß in dem Volk der Volkskirche zwar christliche Gewohnheit und christliche Gesittung noch verbreitet sind, vom Glauben im Sinn der Botschaft aber meist nur noch atavistische Reste zurückblieben. Daß diese atavistischen Reste eine Erweckung des Glaubens und ein auch nur annähernd lebendiges Gemeindeleben fortwährend behindern, wissen wir alle aus bitterer Erfahrung. Und doch ist es gerade dieser Reste wegen der Kirche untersagt, von sich aus die Auflösung der Volkskirche voranzutreiben. Sie hat die Last der Volkskirche bis zur Neige zu tragen, und zwar aus Barmherzigkeit. Es ist uns nicht erlaubt, den Menschen die ständige Gegenwart der Volkskirche mutwillig wegzunehmen. Immerhin wird durch das bloße Vorhandensein der Volkskirche noch ziemlich viel christliche Luft eingeatmet. Das Angebot, die Fragestellung bleibt sozusagen auf dem öffentlichen Markt.

LeerDie Sache mit der Volkskirche hat allerdings eine Kehrseite. Es wird höchste Zeit, die Kirche aus ihrem volkskirchlichen Schlaf zu wecken. Volkskirche ist die Kirche heute aus Barmherzigkeit, ist sie, um den Raum frei zu halten für Gottes Gnade, um das Angebot auf dem Markt zu belassen. Wer freilich die Zeichen künftiger Zeiten zu lesen vermag, der weiß, daß die Zukunft der Kirche auf weitere Sicht nicht die Volkskirche sein wird. Das aber bedeutet, daß die Kirche sich bereits heute sehr gründlich auf eine künftige Zeit ohne Volkskirche vorbereiten müßte. Wenn sle das mit der gleichen Nüchternheit und entschlossenen Tatkraft täte, wie sie sich schon heute verwaltungstechnisch auf die eigene Erhebung der Kirchensteuer vorbereitet, dann brauchte uns nicht bange zu sein. Leider sind aber die verwaltungstechnischen Planungen weithin die einzigen Vorbereitungen auf eine Zukunft ohne Volkskirche.

LeerDie hitzigsten Gegner der Volkskirche sind heute seltsamerweise die sogenannten progressiven Kräfte. Gerade sie drängen auf eine vorzeitige Auflösung der Volkskirche. Das scheint mir ein selbstmörderisches Unterfangen zu sein, denn je früher der historisch gewachsene Weg der Volkskirche mutwillig abgebrochen wird, desto weniger werden die progressiven Kräfte überhaupt noch vorkommen in der Kirche der Zukunft. Hielten wir die Frage der Volkskirche nicht in der Schwebe, sondern brächen sie schon jetzt übers Knie, dann wären die Tage der progressiven Kräfte innerhalb der Kirche und Theologie unverzüglich gezählt. Die Kirche würde dann eine Kirche der Rechtgläubigen sein oder derer, die sich dafür halten. Die einzige Chance der progressiven Kräfte in der Kirche ist augenblicklich die Fortdauer der Volkskirche mit ihrem breiten, freien Raum für eine gewisse Pluralität. Eine "gewisse" Pluralität, so muß man es sagen, denn im Sinn der gegenwärtigen Gesellschaft kann es in der Kirche Jesu Christi selbstverständlich keinen Pluralismus geben.

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LeerSo bleibt es unbegreiflich, weshalb gerade die progressiven Kräfte, deren die Kirche sicherlich bedarf, einer "Auflösung der Kirche in die Welt" das Wort reden und doch wissen müßten, daß sich nach einer solchen Auflösung in die Welt nun erst recht Kirche sammeln würde, allerdings ohne sie. Wer nicht einsehen will, daß es Kirche nur im Gegenüber zur Welt gibt, wird eines Tages die Kirche verlassen, aber nicht auflösen. So hätten denn gerade die progressiven Kräfte, schon um ihrer selbst willen, die Aufgabe, das Gegenüber der Kirche zur Welt für unser Jahrhundert neu zu akzentuieren. Dessen bedarf die Kirche dringend, denn sie ist auf dem besten Weg, sich selbst zu säkularisieren.

LeerWer sich nur ein bißchen in der Geschichte der abendländischen Kirche auskennt, kann den gegenwärtigen Streit um das Engagement der Kirche an die Welt allenfalls schmunzelnd anhören, denn in diesem Streit tut man so, als wäre die Kirche erst heute zum Elend der Welt erwacht, als hätte sie bislang eingeriegelt an ihrem Altar verharrt und die Welt sich selbst überlassen. Das ist natürlich barer Unfug, doch verkauft er sich gut. Die Geschichte mit der Säkularisierung wird einfach auf den Kopf gestellt. Es wird vergessen, daß es die Kirche war, die im Laufe der Geschichte immer neue Kräfte an die Welt delegierte. So wird es uns auch mit dem gegenwärtigen Engagement der Kirche an die Welt ergehen. Zweifellos gibt es auch heute noch ungeheure weltliche Aufgaben für die Kirche, doch kann sie sich solcher Aufgaben nur annehmen, um sie alsbald an die Welt zu delegieren.

LeerHeute fragt kein Bauer mehr im benachbarten Kloster an, welche Fruchtfolge seinem Acker zuträglich sei. Latein lernt man an staatlichen Schulen, die Pflege der Kranken und Gebrechlichen hat, bis auf wenige, allerdings charakteristische Ausnahmen, die Gesellschaft übernommen. So hat die Kirche im Lauf ihrer Geschichte die zunächst von ihr ganz spontan und selbstverständlich übernommenen Aufgaben an die Welt weitergegeben und damit die sogenannte Säkularisierung von sich aus vorangetrieben. Es ist also geradezu reaktionär, wenn man heute die eigentliche Aufgabe der Kirche in ihren weltlichen Diensten und Hilfswerken sehen will. Damit dreht man das Rad der Geschichte zurück und vergißt geflissentlich, aus welchen Quellen die Kirche jene Kräfte schöpfte, die sie immer wieder an die Welt delegierte.

LeerIndem die Kirche immerfort Kräfte der Nächstenliebe, der Heilung, der Gerechtigkeit, auch schlichtweg der Kultur an die Welt delegierte, wurde sie stets wieder frei für ihren eigentlichen Auftrag. Die Säkularisierung kirchlicher Kräfte, die sich heute besonders gut noch in den sogenannten Missionsgebieten ablesen läßt, wird ihr Tempo beschleunigen. Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorauszusagen, daß die heute noch so dringlichen Aufgaben der Kirche in ihren sozialen und caritativen Tätigkeiten binnen kurzer Zeit fast vollständig von der Welt übernommen sein werden, und zwar so, daß die Zeitgenossen bald nicht einmal mehr wissen werden, aus welcher Quelle sich einst diese Tätigkeiten speisten. Schon deswegen wird die Kirche die ihr anvertraute Quelle in ganz anderem Ausmaß als bisher frei und bereit halten müssen, denn leider lehrt die Erfahrung, daß Liebestätigkeiten um des Menschen willen in der Säkularisierung die Neigung haben, unmenschlich zu entarten. Das erst ist das eigentliche Problem der Säkularisierung, daß die Welt dazu neigt, Schindluder zu treiben mit den ihr anvertrauten Kräften aus dem Engagement der Kirche an die Welt.

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LeerMan mag das Engagement der Kirche an die Welt noch so emphatisch predigen als den einzigen Auftrag, den die Kirche heute und in Zukunft hat - so wird man sich erstens sagen lassen müssen, daß die Kirche in aller Sünde und Ohnmacht, die auch ihr eigen sind, immer in diesem Engagement gelebt hat und damit weite Bereiche der Welt prägte - und wird sich zweitens daran erinnern lassen müssen, daß die Welt dieses weltliche Engagement der Kirche schon heute weithin ablehnt und künftig in weit stärkerem Maße ablehnen wird. Die Welt wünscht sich selbst zu helfen. Darum ist der Kirche für künftige Zeiten, selbst wenn sie es anders wollte, ihr Platz ziemlich klar angewiesen.

LeerHier erst beginnt wirklich der Streit um die Kirche der Zukunft, der an sehr verschiedenen, oft überraschend verquickten Fronten ausgefochten wird. Während die progressiven Kräfte mit Leidenschaft für ein rein innerweltliches Engagement der Kirche kämpfen, gibt es innerhalb der Kirche noch mancherlei rückständige Kräfte, die sich ebenfalls an die Weltlichkeit der Kirche festklammern und möglichst lange noch in allen nur erreichbaren Gremien und Positionen des weltlichen Regiments mitreden möchten. Gegenüber beiden Gruppen weltlicher Verquickungen der Kirche muß angefragt werden, ob sich die Kirche nicht um ihrer Glaubwürdigkeit willen aus ihren weltlichen Verstrickungen lösen sollte, ehe sie ohnehin dazu genötigt wird.

LeerSo müßte denn die Kirche schon heute den Mut aufbringen, freiwillig ärmer zu werden, gewiß nicht nur an Geld, sondern viel eher an weltlichem Einfluß, an Macht, an Mitsprache, an bürgerlichem Ansehen.

LeerBei der zunehmendem Rationalisierung im Leben der menschlichen Gesellschaft wächst die kirchliche Verantwortung der Kirche rapide. Gerade sie weiß aus der ihr anvertrauten Botschaft, daß die Rationalität nur ein Teil des menschlichen Wesens ist. Der verstorbene Direktor der evangelischen Akademie Herrenalb, Hans Schomerus, hat in seinem nachgelassenen Buch über das Vaterunser zu der Bitte "Dein Reich komme!" folgende Anmerkung gemacht: "Der Mensch ist das Geschöpf, dem das bloße Leben nicht genug ist zum Leben; es will mehr als leben." Das wissen heute sogar atheistische Marxisten. Die Zukunft der menschlichen Gesellschaft hängt also nicht zuletzt davon ab, ob dieser dem Menschen eigentümliche Drang nach mehr als bloßem Leben in die Sekten, in einen schon heute um sich greifenden Aberglauben, in irdische Heilserwartungen und damit Diktaturen, in neue Sex-Kulte, in Drogensucht, in ein Übermenschentum auswandert oder aber in der Kirche Jesu Christi zur Wirklichkeit kommt.

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LeerNur in der Kirche können die so leichtfertig geschmähten religiösen Bedürfnisse des Menschen überwunden und zum Leben gebracht werden. Darum wird das heute bestrittene, für unerheblich erachtete und leider weithin schon verkümmerte geistliche Leben, wird die Wirklichkeit der Sakramente, wird das Mysterium Kirche künftig eine ganz andere Bedeutung gewinnen. Die Kirche darf nicht von Tag zu Tag, von der Hand in den Mund leben. Sie muß das inwendige Elend der Menschen von morgen schon heute im Blick haben. Angesichts der gegenwärtigen Gesellschaft mit ihren zunehmenden Zwängen zur Anonymität, zur Numerierung, kann die Kirche, falls sie noch glaubwürdig bleiben will, auf die Dauer nur noch in der Weise einer exemplarischen Gemeinschaft leben, in der jeder Mensch als die ihm eigene Person, als eine "frische Tat Gottes" zu leben vermag, um es mit Luther zu sagen. Die in einem geistlichen Leben vereinte Gemeinschaft wird in Zukunft die einzige Anziehungskraft der Kirche sein, dessen bin ich gewiß. Aber gerade hier wird die Volkskirche zur Last, zu einer bedenklichen Behinderung. So sind wir abermals bei dem umstrittenen Gegensatz zwischen Volkskirche und sogenannter Gemeindekirche angelangt.

LeerEs fragt sich nur, ob es sich dabei notwendig um einen Gegensatz handelt. Die Volkskirche bedarf im Blick auf die Zukunft schon heute solcher gemeinschaftlichen Gruppierungen in ihrer Mitte, damit sie wieder Leben hat. Es besteht nämlich die Gefahr, daß mit einem allmählichen Absterben der Volkskirche am Ende tatsächlich nur noch die Sekten bleiben, die zwar zu unser aller Beschämung die gemeinschaftliche, die bruderschaftliche Lebensweise längst praktizieren, das aber nur in der Enge, in der Ausschließlichkeit zuwegebringen. Es muß der Versuch unternommen werden, die Weite der Volkskirche mit ihrer riskanten Offenheit nach allen Seiten einzubringen in die "Kerngemeinden" der Kirche.

LeerManche werden sagen, das sei ihnen zu fromm, und an gewisse Bereiche unserer Kirche erinnern, in denen es, meist vom Pietismus her, einen scharfen Unterschied gibt zwischen den sogenannten Frommen und den übrigen Christen. Nur darf man bitte nicht vergessen, daß der Pietismus in einer für die Kirche höchst bedrohlichen Zeit eine überraschende Erneuerungsbewegung war. Wird also der Einwand gemacht, das sei einem zu fromm, dann muß rundheraus erwidert werden, daß auch die Kirche der Zukunft von ihren Frommen leben wird. Natürlich wird es sich dabei um eine ganz andere Art von Frömmigkeit handeln als beim Pietismus. Schlimm ist nur, daß wir bis heute noch nicht einmal den Versuch gemacht haben, die Frömmigkeit des zwanzigsten Jahrhunderts zu entdecken. Eben dies könnte in künftigen "Kerngemeinden" unternommen werden, und man darf sicher sein, daß es dabei, wie einst beim Pietismus, große Überraschungen geben wird. Denn gerade jene Teile der frohen Botschaft, die man heute als nicht mehr gefragt abfertigt, entsprechen zutiefst der Verlassenheit des Menschen in der unverbindlichen Gesellschaft des Pluralismus, einer Gesellschaft, die immer deutlicher durch inwendige Hohlräume gekennzeichnet wird. Um diese Hohlräume geht es, wo immer wir Zukunft bedenken.

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LeerDeshalb müssen wir uns endlich vom neunzehnten Jahrhundert lösen. Wo in der Kirche heute darüber gesprochen wird, daß man den Menschen unserer Zeit dieses oder jenes aus der Heiligen Schrift und aus der Welt des Glaubens nicht mehr zumuten könne - die Schöpfungsgeschichte, die Vorstellung von der Sünde, die Auferstehung, die Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade - wo immer man uns einreden will, dies oder das sei dem modernen Menschen nicht mehr zuzumuten, da befindet man sich im neunzehnten Jahrhundert und hat noch gar nicht begriffen, daß inzwischen das nächste, das zwanzigste Jahrhundert schon beinahe abgelaufen ist. Die ganze Besserwisserei eines sogenannten wissenschaftlichen Denkens, einer zweiten Aufklärung, ist nicht Zukunft, sondern Vergangenheit. In der Zukunft wird sich der Glaube nicht mit Aufklärung und Wissenschaftsgläubigkeit, sondern mit deren redlichem Ergebnis auseinanderzusetzen haben, also mit dem Nihilismus in allen seinen unterschwelligen Spielarten. Dabei wird hier das Wort Nihilismus mit einigem Respekt ausgesprochen, denn der Nihilismus ist der eigentliche Antipode des Glaubens, ist das, was bleibt, wenn uns die Torheit des Glaubens abhandenkommt.

LeerDas Bewußtsein des modernen Menschen unterscheidet sich vom Bewußtsein vergangener Epochen vor allem dadurch, daß sich in ihm das sogenannte moderne Weltbild durchgesetzt hat und ihm im gleichen Augenblick, da es die totale Unendlichkeit der Weltenräume und die so unerhebliche Winzigkeit der Erde tatsächlich vollzieht, der Mensch als eine Art Insekt erscheinen muß, das sich rapide vermehrt. Mit diesem Bewußtsein wird sich die Kirche der Zukunft mehr und mehr konfrontiert finden. Anzeichen dafür findet man auf Schritt und Tritt schon heute. Der Mensch ist nicht mehr "frische Tat Gottes". Darum haben wir Sorge zu tragen, daß die Torheit des Glaubens gegenwärtig bleibt. Weil der Glaube an die Botschaft des Neuen Testaments angesichts des modernen Bewußtseins und der modernen Heilserwartung in ganz besonderer Weise wirklich eine Torheit ist, darum werden wir uns auf jene gemeinschaftlichen Gruppierungen, auf Bruderschaften innerhalb der Volkskirche, einrichten müssen.

LeerNun klingt das Wort Bruderschaft in diesem Zusammenhang ziemlich anspruchsvoll. Was damit im Blick auf die zukünftige Kirche gemeint ist, ist aber ungleich einfacher, ungleich alltäglicher. Wir müßten allmählich damit anfangen, Gemeinde zu sein, die wir doch beileibe nicht sind. Da sitzt man am Sonntag eine Stunde lang in der Kirche, und damit hat es sich. Vielleicht trifft man sich dann und wann noch einmal im Gemeindesaal, übernimmt auch diesen oder jenen Dienst in einer caritativen Formation; aber wo lebt denn eigentlich die Gemeinde zusammen, wo wird sie für die Welt erfahrbar, für die Welt interessant, für die Welt aufregend. Wo sagen die Leute: Ach ja, der gehört doch auch zu den Christen, deshalb ist der so! Es hat Zeiten gegeben, in denen man so sprach. Sie sind noch gar nicht sehr lange her. In den Zelten unfreundlicher Gefangenenlager nach dem deutschen Zusammenbruch kam es immer wieder zu der erstaunten Frage an diesen oder jenen Soldaten, warum denn ausgerechnet er dem Nationalsozialismus nicht verfallen sei. Und dann hieß es: Ach so, da hattest du es ja leicht, du stammst aus einem christlichen Haus!

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LeerSo erfreute die Kirche sich damals eines außergewöhnlichen Ansehens, eben weil sie widerstanden hatte, und zwar aus Kräften heraus, die dem Volk weithin nicht mehr bekannt waren. Dabei machte man keinen Unterschied zwischen katholischer und evangelischer Kirche. Man hatte auf einmal einen Ort entdeckt, der der Welt nicht verfallen war, einen Ort, der sich aus anderen als irdischen Kräften nährte und daher der Welt gegenüber stand. Diese Stunde nach dem Zusammenbruch hat die Kirche nur schlecht genutzt. Sie blieb nicht die bekennende Kirche, sondern verquickte sich auf den Wogen ihres Ansehens erneut in die Welt hinein und nahm die ihr zuwachsende Macht wahr. Diese Macht wird sie verlieren. Das ist eine der sichersten Aussagen, die man über die Zukunft der Kirche machen kann, aber mit gleicher Sicherheit wird der Mensch in der künftigen Gesellschaft nach jener Kirche begehren, die sich einmal Bekennende Kirche nannte und der Welt ein Beispiel gegeben hatte, ein ganz schlichtes Beispiel, auf das wir uns ganz gewiß nichts einbilden dürfen, denn um ein Haar wäre ja die evangelische Kirche an und mit den Deutschen Christen zugrundegegangen. Das schlichte Beispiel aber muß fortdauern, denn nach dem Dritten werden noch mancherlei andere Reiche anstürmen in der Zukunft, und "Deutsche Christen", die jeweils mit dem anstürmenden Reich heulen, wird es immer geben. Es gibt sie auch heute.

LeerKerngemeinde, das ist gewiß ein unbrauchbares Wort, und doch wird es ohne neue Gemeindebildung nicht gehen. Ansätze dazu finden sich in mannigfacher Weise. Ihnen nachzugehen, ist sicher der bescheidenste, aber auch fruchtbarste Weg in die Zukunft der Kirche. Am ehesten spürt man den frischen Wind neuer Gemeindebildung heute in den ökumenischen Gruppen am Ort, soweit sie in ihren Kirchengemeinden und nicht auf dem leeren Feld bloßer Protestaktionen angesiedelt sind. In den ökumenischen Gruppen der Gemeinden begegnet man nicht selten einer überraschend lebendigen Kirche. In solchen Gruppen ist schlichtweg etwas los. Dort fehlt merkwürdigerweise auch die sterile Frontbildung zwischen Progressiven und Rechtgläubigen, denn beide Seiten merken bald, daß ihre sterile Frontbildung vor der gemeinsam neu entdeckten Mitte der Botschaft nicht standhält. Vollends aufregend aber werden die ökumenischen Gruppen durch ihre menschliche Zusammensetzung. Dort endlich findet man jene Menschen, denen die Zukunft anvertraut sein wird, junge Ehepaare zwischen 25 und 40 Jahren.

LeerSo klein auch immer diese Gruppen sein mögen, so viel Hoffnung haben sie. Sie sind ein Stück gelebter Einheit der Kirche, und dies ist wohl sicher im Blick auf die Zukunft der Kirche, ganz besonders in unserem Land, daß sie als zerhälftete, zerspaltene Kirche nicht mehr glaubwürdig werden kann vor der Welt. Die ökumenischen Gruppen jedoch sind umringt von lauter Ängsten, hauptsächlich seitens der Kirchenleitungen. Da warnt man vor einer sogenannten dritten Konfession und sollte doch, falls man nicht blind wäre, längst gesehen haben, daß sich in den ökumenischen Gruppen nun gerade die wirklich katholischen und wirklich evangelischen Christen zusammenfinden. Landauf und landab gibt es keine ökumenische Gruppe, die sich nicht sehr bald und spontan zu gemeinsamen Gottesdiensten zusammenfände.

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LeerDie Kirchenleitungen werden dann leicht nervös, weil fast mit Sicherheit anzunehmen ist, daß man ihnen aus diesen ökumenischen Gruppen eines Tages die Bitte um Interkommunion vorlegt. Merken denn eigentlich die Kirchenleitungen gar nicht, daß hier Kirche geschieht, merken sie nicht, wie aufregend das ist, daß in unseren Tagen Menschengruppen mit einer sonst kaum wahrnehmbaren Dringlichkeit nach dem gemeinsamen Abendmahl verlangen? Ist die Eucharistie, ist das heilige Abendmahl nicht erst durch das Verlangen nach Interkommunion wieder zu jenem Rang gekommen, der ihm gebührt? Es besteht im Rahmen dieser Erörterungen kein Anlaß, sich für die Interkommunion zu ereifern. Aber da wir hier von der Kirche der Zukunft sprechen, ist eines ganz gewiß (und wahrlich zu hoffen), daß in der Kirche der Zukunft Interkommunion gefeiert wird - nur wird man dann nicht mehr von Interkommunion sprechen.

LeerWas hinter den ökumenischen Gruppen als einem Vorgriff auf die künftige Erneuerung der Gemeinde steht, das hat der italienische Jesuitenpater Robert Tucci im Auftrag des Vatikans vor der letzten Vollversammlung des Weltrats der Kirchen in Uppsala so ausgesprochen: "Niemand unter uns, kein einzelner und keine Gemeinschaft, besitzt ein vollkommenes, endgültiges Wissen um die Wahrheit und das christliche Leben, dem nichts hinzuzufügen und das nicht einzuschränken wäre; so müssen wir gemeinsam pilgern, uns gegenseitig helfen und in der Welt den Glauben bezeugen, der uns auf dem Weg zur vollkommenen Wahrheit verbindet." Gemeinsam pilgern - das ist ein Wort in die Zukunft der Kirche. Und da wir in kirchlichen Fragen heute ständig überschwemmt werden von Tagesparolen, die uns unter anderem einzureden versuchen, daß Bekenntnisfragen nicht mehr erheblich seien - darum ist es wichtig, wie Pater Tucci den Inhalt der gemeinsamen Pilgerschaft beschreibt. Er sagt, wir haben in der Welt den Glauben zu bezeugen. Zum Zeugnis aber gehört es, den Glauben nicht nur zu verkündigen, sondern auch zu leben. Alle anderen Sorgen oder praktischen Fragen für die Zukunft erscheinen geringfügig, sobald man begriffen hat, daß die Torheit des Glaubens gelebt werden muß. Daran fehlt es in der Kirche - und das ist schlimm angesichts der Zukunft der menschlichen Gesellschaft, der es gerade an dem mangeln wird, was wir bislang ganz schlicht menschliches Leben nannten.

LeerNicht alle unsere Hoffnung für die Kirche der Zukunft sollen wir auf die ökumenischen Gruppierungen setzen. Aber es ist nun eben doch ein Zeichen für die Zukunft der Kirche, daß es innerhalb der getrennten Kirchen heute keine einigermaßen gewichtige und mit geistlichem Leben erfüllte Gruppe gibt, die nicht ökumenischen Kontakt sucht. Alle anderen Gruppen in den beiden großen Kirchen unseres Landes wirken merkwürdig zukunftslos. Solchen Zeichen darf man sich getrost überantworten, auch wenn das im Augenblick noch so mühselig erscheint. In einem kurzen Wort über ein zu erhoffendes "universales Konzil" hat Lukas Vischer vom Weltrat der Kirchen gesagt: "Die Kirchen müssen sich durch gemeinsames Zukünftiges leiten lassen, ein Ziel, das nach und nach immer klarere Gestalt annimmt." Er hat sich auch darüber ausgelassen, was das bedeutet: "Denn es kommt tatsächlich nicht darauf an, daß die Kirchen miteinander  r e d e n . Es kommt darauf an, daß sie Kirche  s i n d  und als Kirche Zeugnis ablegen." In diesem Sinn heißt die Zukunft der Kirche - Kirche, die eine Kirche Jesu Christi. Die Zukunft der Kirche ist bekannt.

Quatember 1972, S. 195-203

Leserbrief von Karl Knoch

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-08
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