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von Herbert Dost |
Wegen einer langwierigen Erkrankung in die Sorge seiner Familie gestellt und dann doch unerwartet schnell wurde in der Nacht des 4. August 1972 im Diakonissenhaus zu Leipzig Prof. D. Dr. Alfred Dedo Müller dem Erdenleben entnommen. Er hatte das 82. Lebensjahr überschritten. Erstaunlich war seine geistige Anteilnahme an allem, was sich in Theologie und Leben begab. So blieb er trotz spürbarer körperlicher Schwäche in bemerkenswerter Weise noch für Aufgaben offen, deren sich ein anderer in seiner Lage vermutlich entzogen hätte. Wir begegneten ihm noch im vorigen Jahre auf der Meißner Akademie der Sächsischen Landeskirche, und dort griff er mit einem Vortrag und mit sachkundigen Beiträgen in Gespräche über den Stand der neueren Kirchenmusik ein. Im Jahre 1890, am 12. Januar, in Hauptmannsgrün/Vogtland geboren, entschied er sich für das Studium der Theologie. Seine erste Pfarrstelle trat er 1917 in dem etwa 350 Seelen zählenden Dörfchen Ziegra bei Döbeln an. Zehn Jahre lang betreute er die Gemeinde, stets umgeben von der jungen Generation des Kirchenkreises. Ich erinnere mich, daß ich als junger Fant Mitte der 20er Jahre zum ersten Male von ihm hörte. Glieder der Tatgemeinschaft Sachsen, von der Leopold Cordier in seiner Evangelischen Jugendkunde erklärte, innerhalb der evangelischen Jungmännerbünde sei es jene Gruppe, von der man wirklich als Jugendbewegung sprechen könne, wurden durch seine Predigten und Vorträge religiös und sozial profiliert. Es will etwas heißen, daß noch 40 Jahre später Menschen aus der Ziegraer Zeit ihn, den Professor für praktische Theologie an der Karl-Marx-Universität zu Leipzig, aufsuchten, um sich mit ihren Problemen von ihm beraten zu lassen. Von Ziegra aus wurde Alfred Dedo Müller an die Paul-Gerhardt-Kirche zu Leipzig gewählt, und bald hernach, 1930, erhielt er den Ruf an die Leipziger Universität. Das war ein guter Griff, denn mit seinem ersten, aufsehenerregenden größeren theologischen Werk „Religion und Alltag” waren die Blicke erneuerungswilliger Gemeinden, theologischer Fachkollegen und vieler Vertreter der gebildeten Welt auf ihn gerichtet. Er mag damals vielfach angesprochen worden sein, sich einer schultheologischen Richtung anzuschließen, meinte aber, er verstehe seine Aufgabe anders. Dankbar für Anregungen aus diesem Bereich erklärte er: „Ausschlaggebend ist der Mensch, der Theologie treibt und sich bemüht, mit Entschiedenheit letzte Wirklichkeit auszusprechen.” In gebotener Einfachheit wolle er sich auch an jene Schichten in der Arbeiterschaft wenden, die der Kirche kritisch gegenüberstehen, und sie in die Probleme der Zeit mitdenkend einführen. Die Kirche habe es nicht allein mit den Fragen Gott und die Seele zu tun, sie müsse sich vielmehr auch im Rathaus und Parlament verständlich zu Gehör bringen. Deutlich muß werden, daß alles Reden von Gott nur ein Stammeln von jener Wirklichkeit ist, die alles Weltleben trägt. Von daher erklärt sich seine Freundschaft zu Paul Tillich und Friedrich Wilhelm Foerster. Alfred Dedo Müller war dennoch nicht theologischer Alleingänger. 1933 schloß er sich der evangelischen Michaelsbruderschaft an und widerlegte - vielleicht ganz ungewollt - damit die Meinung, diese Bruderschaft sei nur eine liturgische Bewegung. Für ihn war Gottesdienst eine Art Strahlungskern, von dem aus die Dunkelheiten der Welt erleuchtet werden. Kein Wunder, daß sich so der Freundeskreis mehrte. Pädagogen und Psychologen, Dichter und Musiker, bildende Künstler und Baumeister, Ärzte und Naturwissenschaftler, Rechtsgelehrte und Politiker erkannten verstärkt, daß ihre Berufsfragen durchaus theologisch orientiert sein dürfen. Vielseitig führte er wissenschaftliche Gespräche. Das darf nicht mißverstanden werden, als sei er ein „Allround-Man”. Solches verbot sich schon durch die ihm eigene Bescheidenheit. Er war Seelsorger. Die Wirkung auf seine Hörer erklärte sich aus der Einsicht, die er im Umgang mit Gott, Mensch und Welt den Phänomenen abgewann. Er setzte sie meditativ und kontemplativ um und machte sie zur ureigensten Lebensgröße, wenn er von ihrer Wahrheit und ihrer Berechtigung überzeugt war. So konnte er mit sittlichem Ernst und getreu seinem Auftrag als Lehrer und Prediger des Evangeliums, als Gottes Hausgenosse, mit nüchterner Leidenschaftlichkeit Zeugnis geben und für die jeweilige Gegenwart das Notwendige fordern. In ihm paarten sich christlicher Realismus mit dem Willen zu einer die Welt zum Guten verändernden Radikalität. Am 9. August 1972 versammelte sich in der Versöhnungskirche zu Leipzig eine große Trauergemeinde, um dem Verstorbenen letztes Geleit zu geben. Der Universitätsbereich Theologie, die Landeskirche, das Hochstift Meißen, dem er als Domherr zugehörte, Vertreter aus Gesellschaft und Glieder der Michaelsbruderschaft nahmen von dem Heimgegangenen Abschied und geleiteten ihn auf den Friedhof zur Familiengrabstätte, wo er an der Seite seiner Frau zur letzten Ruhe gebracht wurde. Der ganze würdige Gottesdienst, bei dem sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl, Professor Dr. Heinz Wagner, die Predigt hielt, erinnerte an ein Wort aus dem 84. Psalm, das der Verstorbene so oft in evangelischen Messen mitgesungen hat: „Wohl denen, die in Deinem Hause wohnen; die loben Dich immerdar.” Quatember 1972, S. 249-251 |
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