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von Heinz Beckmann |
Es ist ein eigen Ding mit der gestörten Musik. In Jesus Sirach kommt sie vor, eine schlichte Weisheit, zum Ruhm der Musik. Aber man kann nun auch beinahe eine Weltanschauung daraus machen, zumal wenn man sich eine geeignete Übersetzung von Jesus Sirach verschafft. Der französische Theologe, Mediziner und Psychologe Marc Oraison beschäftigt sich in seinem neuen Buch „Zufall und Leben” (Verlag Josef Knecht) mit der Frage, ob die Biologie das letzte Wort hat. Und natürlich setzt er sich mit Monod auseinander. Das gehört sich heute so, das verrät schon der Titel. Dem Buch hat Oraison den folgenden Text aus Jesus Sirach vorangestellt: „Ergreif das Wort, du Greis, / denn dir ziemt es! / Mit reifer Einsicht sprich, / doch stör nicht die Musik!” Folgerichtig beginnt das in musikalische Sätze aufgegliederte Buch im Präludium mit dem Eingeständnis des Autors, daß er sich nach „all den Geheimnissen der Biochemie, die ich in mich hineingestopft habe”, eine Stereoaufnahme der Symphonie von Cesar Franck auflege und im Widerspruch gegen Jacques Monod aus vollem Herzen protestiere: „Stört nicht die Musik!” Im Allegro seines Buches sagt Marc Oraison: „Wenn eine Wissenschaft vorgibt zu begreifen, was der Mensch ist, vernimmt man die Musik der Welt nicht mehr.” Auf den zwei letzten Seiten des Buches heißt es dann: „In der Immanenz seines zugleich persönlichen und kollektiven Erdenlebens und der dramatischen Erkenntnis seines Mangels und seiner Sehnsucht erfährt der Mensch den Anruf einer Transzendenz, die nichts Mythologisches mehr an sich hat. Vielleicht ist das die höchste Musik. Darum kehre ich zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück, nachdem ich mich selbst stark in das wissenschaftliche Mühen um Erkenntnis eingeschaltet habe, und flehe die ‚Gelehrten’ an, nicht die Musik zu stören!” Das ist wahrlich eine sehr hohe Auffassung von den Spielleuten, die in Jesus Sirach zu Tisch aufspielen und möglichst nicht gestört werden sollen. Bei Martin Luther lautet der biblische Text von der gestörten Musik so: „Der Älteste soll reden, denn es gebührt ihm, als der erfahren ist. Und irre die Spielleute nicht, und wenn man Lieder singt, so wasche nicht drein ...” Folgt man jedoch der transzendenten Erhöhung der Spielleute bei Marc Oraison, so muß unverzüglich gefragt werden, ob der Mensch nicht dazu verdammt ist, die Musik zu stören. Er tut eigentlich nichts anderes, und nicht von ungefähr hat denn ja auch Karl Barth den Menschen Mozart als einen Engel gerühmt. Engel stören die Musik nicht, sie musizieren. Die Geschichte mit der gestörten Musik ist mir lange nachgegangen, denn sicher werden wir uns gelegentlich wieder daran erinnern müssen, daß der sogenannte Schöpfungsauftrag an den Menschen innig zusammenhängt mit einem Vorfall, den man zu früheren Zeiten noch Sündenfall zu nennen wagte. Seitdem jedenfalls gehört es zum Wesen des Menschen, daß er die Musik stört, eine Musik übrigens, die er kaum kennt, von der er allenfalls vermutet, daß sie zu hören wäre, daß sie dem Weltall innewohnt, vermutlich sogar auch dem Menschen. Doch stört er sie, und das scheint mir nicht auf die Gelehrten eingeschränkt zu sein. Das geht an die Nieren. Da kann man nicht leicht ausweichen. Und sicher ist dies ein Schlüssel zu der schwarzen Rede lonescos: „Weil wir nur leben wollen, ist es uns unmöglich geworden zu leben.” Plötzlich hat lonesco den Durchblick, plötzlich erkennt er den Fehlbetrag im Menschen der Neuzeit: „Die Krise hat schon lang begonnen. Der Untergang unserer Kultur wurde vielleicht schon im 17. Jahrhundert vorbereitet. Sie wurde in zunehmendem Maße humanisierend, anstatt metaphysisch zu sein, mehr und mehr psychologisch statt spirituell. In den Gesichtern der Heiligen und der Erzengelstatuen der Kathedralen gibt es ein Lächeln, das wir nicht mehr zu lesen verstehen ...” Gestörte Musik in Salzburg, wenige Stunden vor Mozart. Marc Oraison schreibt: „In gewissem Sinn brach der moderne Mensch seine Verbindung zur jenseitigen Welt' ab und war entschlossen, sein Wissen nur aus eigener Kraft durch methodisches und vernünftiges Schlußfolgern zu gewinnen.” Ist das die Störung der Musik? Wahrscheinlich. Hier jedenfalls liegt das Schlachtfeld der geistigen Auseinandersetzung unsrer Zeit. Es geht um das Lächeln, das wir nicht mehr zu lesen verstehen. Quatember 1972, S. 251-252 |
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