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Rückblick auf Darmstadt
von Jürgen Boeckh/Reinhard Mumm/Bernhard Rang

LeerZum 41. Jahrestag ihres Bestehens hatte die Evangelische Michaelsbruderschaft zu einem Gesamtkonvent in Darmstadt eingeladen. Vor fünf Jahren waren wir in Bochum, davor, an den „runden” Jahrestagen, in Marburg an der Lahn. Dort war am Michaelistag 1931 die Bruderschaft gegründet worden. Von den 22 „Stiftern” sind zwölf bereits verstorben. Einer von ihnen, der Arzt Carl Happich, war in Darmstadt zu Hause gewesen. Seine „Anleitung zur Meditation” wirkt bis heute in der Bruderschaft und in Kreisen, die ihr verbunden sind, weiter. Zwei Michaelsbrüder, Dr. Reinhard Mumm (München) und Dr. Bernhard Rang (Eutin), haben einen Bericht über Darmstadt 1971 für Quatember geschrieben. Wir stellen ihre Erinnerungen und Gedanken, soweit es geht, thematisch geordnet nebeneinander. Dazwischen finden sich einige Anmerkungen aus der Reaktion von Dr. Jürgen Boeckh.

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LeerR. M. Im Vordergrund wird bei den meisten der Dank dafür stehen, daß dieses Treffen möglich war und wir einander nach langer Zeit wieder gesehen und miteinander gesprochen haben oder uns neu begegnet sind. Im einzelnen werden viele anmerken, was sie als wohltuend und vorwärtsweisend empfunden haben; freilich wird nicht fehlen, was als fragwürdig oder bedenklich erschien.

LeerWas hat wohlgetan? Einer unserer ökumenischen Freunde drückte das bei einem abendlichen Rundgespräch so aus: „Ihr habt Eure Ritterrüstung abgelegt.” Er meint damit, daß manches lockerer geworden sei, nicht mehr gar so feierlich wie in früheren Jahren. Wir kommen damit einander und auch anderen Zeitgenossen näher. Dazu gehört, daß der festgesetzte Plan Zeit ließ zu gegenseitigen Gesprächen. Wir mußten nicht von Veranstaltung zu Veranstaltung eilen, sondern konnten uns austauschen oder jemand besuchen.

LeerB. R. Freude: Dies Wort, dieser Anruf erklang bereits im Bußgottesdienst abends in der Stadtkirche, in der Predigt von Walter Lotz (Marburg). Es scheint paradox, daß Buße, also auch Reue und Einkehr oder Umkehr wesentlich eine helle, frohe Seite in sich birgt. Und wenn es wahr ist, was in der Werktagsmesse am nächsten Tag zur Sprache kam, daß wir mutig hineingehen sollen in die Welt, in den Alltag, ja, daß die moderne Atom- und Industriewelt uns verpflichtet und herausfordert, dann kann auch dies nur geschehen aus einem Glauben des Mutes, der Freude und der Hoffnung.

LeerR. M. Nicht alles, was in Liturgie und Predigt zu hören war, ist geglückt. Ob die neuen Versuche, Sündenbekenntnisse auszusagen, so bleiben sollten, muß man fragen. In mancher alten Form steckt doch mehr Tiefe und Kraft. Aber wir dürfen uns wohl weiter versuchen mit neuen Formen neben den alten. Überhaupt sollte nicht abgetan sein, was gut war. Der persönliche Zuspruch der Vergebung unter Auflegen der Hände darf nicht verloren gehen.

LeerDer ökumenische Gottesdienst hat uns mit vielen zu einer großen Gemeinde zusammengeschlossen. Wir konnten uns freuen über den Geist, der uns verbunden hat. Es war gut, daß neben den Christen des Westens auch die aus dem Osten unter uns waren. Im rechten Gebrauch der Stille zur Besinnung über einen biblischen Abschnitt oder zur Stille im Gebet sind wir noch Anfänger. Darin können wir von anderen lernen.

LeerB. R. Von besonderer Prägung waren der ökumenische Gottesdienst am Sonntagabend in der Stadtkirche und die Festliche Messe am Montagvormittag mit der Verabschiedung und Einführung von Mitgliedern des Rates der Bruderschaft und von Konventsältesten. Die „Darmstädter Kantorei” unter Leitung von Hermann Unger-auch einem Michaelsbruder - sang neben Kantaten von Schütz und Pepping auch eine eigene Komposition ihres Leiters: „Großes Weizenkorn”. Innerhalb der Messe sang ein Kinderchor gleichfalls unter Leitung von Hermann Unger Introituspsalm, Graduale, Credo und Agnus Dei, auch von ihm selbst komponiert. So erfüllten Freude und Festlichkeit unsere Gottesdienste.

LeerIn dem ökumenischen Gottesdienst gab zunächst Reinhard Mumm eine Einführung. Als Vertreter der römisch-katholischen Kirche sprach der Darmstädter Dekan Heinrich Bardong. Er wies offen Möglichkeiten und Grenzen des erstrebten gemeinsamen Weges auf. Dann hielt von der griechisch-orthodoxen Kirche Bischof Lavrentije (London), Verwalter der serbisch-orthodoxen Diözese Westeuropa und Australien, eine Ansprache, die uns durch einen serbisch-orthodoxen Geistlichen verdolmetscht wurde. An einem Beispiel der Begegnung zwischen einem christlichen Mönch und einem moslemischen verdeutlichte er anschaulich, wie sehr Einigkeit und Brüderlichkeit nicht im Reden, sondern im Leiden und Handeln sich vollziehen. Drei biblische Lesungen hörten wir, von drei bekenntnismäßig unterschiedenen Sprechern vorgetragen. Im Gemeinsamen des Liedes und der gesprochenen Fürbitte erklang erneut das Bekennen und Erbitten des Einen Leibes Christi, der Einen wahrhaft katholischen Kirche.

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LeerJ. B. Der ökumenische Gottesdienst führte manche Brüder und Gäste allerdings auch zu kritischen Fragen. Sollten wir nicht über jene Phase ökumenischer Gottesdienste hinaus sein, in denen die Vertreter der einzelnen Konfessionen „aufmarschieren” und streng auf Parität geachtet wird? Manches hätte eher in eine Versammlung gehört, die sich mit dem Stand der ökumenischen Bewegung in Darmstadt beschäftigte. Gerade darum war es wirklich eine Freude, in diesem Gottesdienst die „langatmige” - durch die Zweisprachigkeit noch mehr in die Länge gezogene Legende aus dem Munde des orthodoxen Bischofs zu hören!

LeerB. R. Mit Spannung erwarteten wir wohl alle den Festvortrag des Hamburger Michaelsbruders Professor Müller-Schwefe über „Religion in ‚religionsloser’ Zeit”. Der Vortrag war erfreulich unakademisch, oft kühn in den Formulierungen, im echt Persönlichen verhaftet, vorwärtsblickend, ohne daß der Weg, auch der Beginn unseres gemeinsamen Weges, dem Blick sich entzog. Ja, ich möchte sagen, „die progressiven”, vorwärtsdrängenden Gedanken, die - so schien es - das Eigentliche dieses so lebendig gesprochenen Vertrags waren, konnten nur so ausgesprochen werden, weil eine Grundbesinnung, ein fester Grund und Ort, unser Gottesdienst, unser Gotteslob in der Mitte stand und nie verlassen wurde. Dies wurde deutlich etwa in folgenden stichwortartig verkürzten Sätzen: Getragen werden von der Stellvertretung, von dem, der die Welt trägt; die Welt mit dem Gotteslob verbinden - unsere Aufgabe; Sprengung der Identität der Welt mit sich selbst im Gottesdienst; Gottesdienst heute als Ausnahmesituation; Durchhalten der Ambivalenz von Bewußtem und Unbewußtem; Bewahren der „Bilder” (auch Archetypen) im „Zerbrechen der Bilder”; Wissen um das Nehmen und Geben, um das große Commercium in Kirche, Welt, auch in der Bruderschaft.

LeerSolche in die Tiefe führenden Gedanken lassen erkennen, daß es sich hier nicht um bloße Progressivität handelt, sondern um existentielle Erneuerung. Strukturen und Elemente der technischen Welt sollen erkannt und von uns angenommen, ja, auch in die Eucharistie aufgenommen werden. Das bedeutet, daß sie gleichsam „getauft” und ins Positive verwandelt werden. Die Bruderschaft leistet ihren Dienst als eine Art „Zelle” vom Altar aus - diese Erkenntnis unserer Väter wollte Müller-Schwefe nicht beiseite schieben. Da aber das Ganze niemals erfaßbar ist, wird von uns das Konkrete gefordert. Hier neue Modelle zu entwerfen, zu experimentieren, auch in der Form des Gottesdienstes, sollten wir uns nicht scheuen. Der Vortrag schloß mit dem Bekenntnis: „Christus ist, was wir nicht sind. Davon können und sollen wir reden.”

LeerR. M. Der Hauptvortrag und die ihm folgende Aussprache in den Gruppen hat uns alle beschäftigt. Wir haben Anregungen empfangen zum Nachdenken. Sind wir dabei zu Ergebnissen gekommen, die uns weiterhelfen? Die Antwort auf diese Frage wird verschieden ausfallen. Die Bruderschaft war immer ein Kreis von Männern mit sehr verschiedenen Denkansätzen und Richtungen. Das wird sie auch weiter bleiben. Wenn der Geist, der uns verbindet, und der Gottesdienst, der uns zusammenschließt, auch künftig die Mitte bilden, können wir die Verschiedenheit im Denken als einen Reichtum ansehen.

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LeerDabei ist es eine gute Sache, daß wir unsere Frauen, den Berneuchener Dienst und die Gäste voll einbeziehen. Die Art, wie die Jesusbrüder unter uns waren, auf uns dankbar schauten und dann bescheiden und fröhlich von ihrem Werk berichteten, kann uns ermutigen, gerade nachdem auch in Darmstadt kritische Stimmen zu vernehmen waren, manchmal sogar solche der Resignation. Es muß ja nicht alles so weitergehen, wie wir denken und geworden sind. Da tauchen neue Bewegungen, Sammlungen und Gemeinschaften auf, letztlich getragen vom Geist Jesu Christi. Das gibt Hoffnung.

LeerJ. B. „Nehmet Euch untereinander auf, gleichwie Christus Euch aufgenommen hat zum Lobe des Vaters” - so heißt es in unserer Evangelischen Messe. Haben wir uns in Darmstadt wirklich untereinander aufgenommen? In der Regel, ja - aber nicht immer. Ein Gast fand keinen Platz bei einem der Gottesdienste. Ein eifriger Bruder (?) wollte ihn nicht neben die Chormäntel-Träger setzen. So kann die Ordnung die Brüderlichkeit in Frage stellen. Daraufhin verzichtete eine Berneuchenerin auf ihre Teilnahme am Gottesdienst und ging mit dem Gast in ein Café. Als ich einem „Fest-Genossen” von kirchenpolitischen Konflikten berichtete, die auch in Darmstadt meine Gedanken in Anspruch nahmen, antwortete er: „Immer wieder gibt es Leute, die uns hindern, heilig zu sein.” So können Worte und Taten Einzelner dazu führen, daß wir uns doch „untereinander aufnehmen”!

LeerB. R. Manche Fragen und Probleme blieben offen. Das gilt auch für das am letzten Tag, dem 25. Sept., sehr lebendig geführte Podiumsgespräch, an dem unter Leitung von Dr. Hartmut Löwe (Kassel), dem Ausbildungsreferenten der dortigen Landeskirche, die Brüder Müller-Schwefe sowie Dr. med. Siegfried Buddeberg (prakt. Arzt) und Dr. med. Helmut Barz (Psychotherapeut) teilnahmen. Es ging um das neu zu durchdenkende Verhältnis von Anthropologie und Theologie. Daß von der Tiefenpsychologie gerade für den religiösen Bereich, für den Christen neue Dimensionen sich erschließen, daß andererseits die Elemente der kirchlichen Welt nicht einfach „integriert” werden können; wie die Aufgabe zu lösen ist, die Leiblichkeit des Menschen neu zu erfassen (so auch in der Messe im Hineinnehmen der Sexualität), und was schließlich das Opfer als Mitte des Gottesdienstes im Zusammenhang unseres nur im Austausch, im Dialog sich ermöglichenden Lebens bedeutet - um solche Gedanken kreiste das lebendige Gespräch. Es war für die Zuhörer im besten Sinn ein Lehr-Gespräch, dem zu folgen Freude und Gewinn brachte, was auch die Beiträge aus dem Plenum bestätigten.

LeerJ. B. Leider war nur wenig Zeit zur Aussprache im Plenum. (Die Versammlung fand übrigens in der Stadtkirche statt.) Zwei kritische Anfragen sind mir in Erinnerung : Eine junge Theologin, die als Gast unter uns weilte, warnte die Bruderschaft davor, einem allgemeinen „Trend” folgend, die Theologie der Fleischwerdung zu einseitig auf Kosten der Theologie des Kreuzes zu betonen. Eine andere Frage, die nicht mehr beantwortet werden konnte, ging in die gleiche Richtung: Was heißt das: Die Sexualität in die Messe hineinnehmen? Kann Leiblichkeit (und damit Sexualität) in der Messe mehr als Gleichnis sein, das an diesem Ort auf eine andere Wirklichkeit hinweist?

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LeerB. R. Es muß noch ein Wort zu den verschiedenen Gottesdiensten gesagt werden. Am Sonntag hatten jeweils einer oder mehrere Konvente in Verbindung mit den Ortsgemeinden die Leitung und Gestaltung der dortigen Gottesdienste übernommen. Ich hatte die Freude, an einer „Uraufführung” neuer liturgischer Gesänge und neuer Musik, komponiert von dem Kantor der Bruderschaft, Günther Hinz (Hamburg), in der Darmstädter Pauluskirche teilnehmen zu können. Die Gemeinde nahm diese ungewohnte Form des Gottesdienstes willig auf. Anschließend konnte ein kurzes Gespräch mit einzelnen Gemeindegliedern geführt werden, in dem auch Fragen über die Michaelsbruderschaft beantwortet wurden.

LeerJ. B. Der Gottesdienst, den unser (West-Berliner) Konvent in dem schönen neuen Gemeindezentrum einer Darmstädter Vorstadtgemeinde hielt, war auch für mich von besonderer Bedeutung. Wir hielten in der Messe zwei Kurzpredigten, durch die deutlich wurde, daß wir in der Bruderschaft nicht „gleichgeschaltet” sind, sondern durchaus verschiedene Meinungen vertreten und auch in der Verkündigung wie die biblischen Schriftsteller verschiedene Schwerpunkte haben. Der größere Teil der Gemeinde blieb zu einer Aussprache da. Wir konnten erfreulicherweise feststellen, daß zweitrangige - wenn auch für uns nicht unwesentliche - Fragen, wie etwa die Tatsache unserer „katholischen” Gewänder das Gespräch überhaupt nicht belasteten. Die Aufteilung auf viele Gemeinden einer Stadt bedeutete für mich trotz mancher Bedenken gegen einen Gesamtkonvent doch eine Rechtfertigung für ein solches Unternehmen. Von Zeit zu Zeit sollte die Bruderschaft schon aus der Verborgenheit hervortreten. Es gibt viele, die den Weg nur darum nicht zu uns finden, weil sie nichts von uns wissen.

LeerB. R. Den Abschluß unserer so erfüllten Tage in Darmstadt brachten das geistliche Wort des Bruder Ältesten Gerhard Hage (Altenberg) am Montagmittag in der Stadtkirche. Auch hier war der Grundtenor: Ermutigung - und die Aufforderung, Reste von Resignation, Unsicherheit und innerer Lähmung zu überwinden. Es gilt, das Zeugnis von Christus in der Gesamtwirklichkeit des Lebens „auszusprechen”. Dies kann und soll von uns in der immer neuen Feier des Herrenmahles geschehen, in der Koinoia, der Gemeinschaft. Dabei wäre es wichtig, innerhalb der größeren Konvente kleine lebendige Zellen zu bilden. Schließlich muß die praktische, diakonische Verwirklichung in der Welt dazukommen. Mit einem Wort des großen englischen Kardinals Newman schloß der Bruder Älteste seine Ansprache: Liege auch die Sache Christi wie im Todeskampf, so sei sein Sieg nie spürbarer gewesen als heute - „O Gott, Du kannst das Dunkel erleuchten, Du kannst es allein.”

Leer R. M. Wie wird es weitergehen? Prognosen sind schwierig und fragwürdig. Wir sollten getrost an dem Ort stehen und wirken, der uns angewiesen ist. Unmöglich können wir alles aufgreifen, was getan werden sollte. Damit würden wir unter ein Gesetz treten, das uns niederdrückt. Es soll uns Christen genügen, das Brot für den Tag zu empfangen und weiterzugeben an die, die um uns sind. Vieles wird sich künftig noch ändern, manches vergehen, was wir gern gehalten hätten. Wenn nur das Ziel klar bleibt und wir das nächste Stück des Weges vor uns sehen, ist das Entscheidende gewonnen.

Quatember 1973, S. 32-37

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-01
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