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Grenzen der Kommunitäten
von Wilhelm Schmidt

LeerDie Grenze gehört zur Gestalt, und alles, was sich gestalten will, muß sich dazu bequemen, Grenzen anzunehmen. Das Unbegrenzte ist nicht denkbar. Aber dennoch ist bemerkenswerterweise bei der Annahme von Grenzen auch eine Bequemung vonnöten, gelegentlich leidig empfunden. Worin sich die seltsame Empfindung einen Ausdruck verschafft, daß etwas Notwendiges denn doch nicht sein sollte. Grenzen haben nicht nur von Natur zwei Seiten, nämlich ein Diesseits und Jenseits ihrer, sondern liegen auch in der Empfindung zwischen Ja und Nein. Es galt schon zu Zeiten als hohe Tugend und war ein willig, ja, mit Ehrgeiz gewählter Vorsatz, sich an Grenzen genau zu halten, sein Leben mit Sorgfalt nach Ordnung und gesetztem Maß zu regeln - zu anderen Zeiten löst eine derartige Zumutung eine der Vernunftkontrolle entweichende Affektation aus. Ebenfalls bemerkenswerterweise verträgt sich der mit Leidenschaft beschworene Vorsatz, alle bestehenden Grenzen in der Welt umstoßen zu wollen mit der Methode einer Grenzziehung, wie sie härter, beschränkender und beengender sonst in der Welt nicht vorkommt.

LeerMan wolle verstehen: Es steht um die Grenzen prekär und ist nicht zu leugnen, daß unsere Menschengeschichte auch ein immerwährender Grenzstreit ist. Derzeit, so scheint es, steht's so, daß einerseits alle Grenzlinien verschwimmen, andererseits unüberschreitbar werden. Auf beiderlei Weise wird das Notwendige zum Notvollen. Es ist also in dieser Sache einiges zu bedenken, und man wird alleweil auf der Hut sein müssen.

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LeerHier ist nun die Aufgabe gestellt, über die „Grenzen der Kommunitäten” nachzudenken. Das Nomen oder der Name „Kommunität” ist in diesem Zusammenhang nur verwendbar, weil sein Geltungsbereich noch nicht endgültig eingegrenzt ist. Dieses Wort wird hier nicht verwendet in seinem engsten Sinn: Als die geistliche Gemeinschaft solcher, die eine vita communis, ein gemeinsames Leben führen; sondern in einem weiteren Sinne: Es sind gemeint besondere, sich sondernde (was keineswegs gleichlautend mit „sich absondernde” ist!) geistliche Gemeinschaften innerhalb der Kirche, wie sie sich in allen Epochen der Kirchengeschichte gebildet haben, derzeit in bemerkenswerter Vielfalt bilden und vermutlich immer bilden werden und demnach ein Merkmal des kirchlichen Lebens sind. Deren Grenzen also sind das Thema, nicht deren Wesen! Und wenn sich auch das Wesen einer Gemeinschaft nicht von ihren Grenzen trennen läßt, so ist doch die Rede von den Grenzen noch nicht die Rede vom Ganzen. Die Rede vom Ganzen könnte gewiß nicht auskommen ohne die Rede von der Grenze, wohl aber umgekehrt. Es ist nicht die Meinung des Autors, daß das, wovon nicht geredet wird, auch nichts sei (etwa nach Stefan Georges berühmtem Vers: „Kein ding sei wo das wort gebricht...”) - eher umgekehrt: Daß etwas in seinem Sein bedroht ist, wenn zuviel darüber geredet wird - und daß das, was in der Leute Mund ist, weniger das Wohlbedachte, als vielmehr etwas ist, um das es mithin auch bedenklich steht.

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LeerAlles, was nach Wesen und Auftrag zum Leben der Kirche gehört, kann Anlaß zu einer Kommunitätsbildung werden: Die Bezeugung des Evangeliums, seine theologische Durchdringung, die Anbetung Gottes, die Übersetzung all dessen in eine vita spiritualis und praxis pietatis, die Pflege einer vita communis unter dem gleichen Dach oder die Pflege einer geistlichen Gemeinschaft der Zerstreuten, alle Werke der Barmherzigkeit und Diakonie oder besondere von ihnen, die Sorge um die Einheit in der Vielfalt oder um die Einzelnen in der Masse der Vielen, die Betreuung der Unbetreuten, die Stärkung der Schwachen und Zügelung der Ungebärdigen und dergleichen mehr. Aber immer hat zur Bildung einer Kommunität ein Ruf oder eine Führung zum Besonderen gehört, immer war eine Wahl und Auswahl unter manchem Möglichen, eine Vorliebe und aussondernde Begabung, ein Anruf oder eine Entscheidung, ein besonderes Geschenk oder eine Forderung oder beides zugleich im Spiel. Zur Bildung einer Kommunität gehört - gleich, ob gefunden oder geworden - eine charakteristische Grenze.

LeerDie deutliche Begrenzung betrifft nicht nur die Aufgabe und Verantwortung, sie betrifft schon die Zugehörigkeit. Man findet sich in einer Kommunität nicht vor, sondern tritt in sie ein, wählend und gewählt: Der Zugehörige ist zugleich ein Zugelassener. Das setzt deutliche Grenzen und unterscheidet eine Kommunität von ihrer Umgebung.

LeerDie deutliche Begrenzung verleiht den Kommunitäten Möglichkeiten, die ihre Umgebung - die Gesamtgemeinde, aus welcher heraus sie sich zu ihrer Besonderheit sondert - nicht in der gleichen Weise, in der gleichen Dichte und mit der gleichen Deutlichkeit haben kann. In der Begrenzung liegt ihre Stärke. Aber zugleich gilt: Was ihre Stärke ausmacht, bildet ihre Grenze. Die besondere Möglichkeit, welche die Begegnung bietet, wird zum Defekt, zum Mangel, wenn die Grenze zum Ende wird, wenn sie undurchlässig und nur für Flüchtlinge und Verräter (unter Gefahr und Bedrohung) begehbar ist. Für Kommunitäten wird die nötige Grenze zum notvollen Defekt, wenn ihre Begehbarkeit nicht vorgesehen, wenn sie nicht geradezu geplant ist. Die Grenze soll der Sammlung, nicht der Zurückhaltung dienen. Sie soll stauen, was ohne sie nutzlos verströmen würde; sie soll Vorrat schaffen für die Zeit, für den Ort, da es not sein wird. Die Grenze soll behalten wie ein Behälter: Dessen Inhalt nicht „für sich” im Behältnis behalten wird, sondern um dazusein für das Ganze. Das Behältnis verliert seinen Sinn, wenn es nicht mit dem Bedürftigen kommuniziert.

LeerDas innere Schicksal der Kommunitäten hängt daran, daß sie in Kommunikation mit dem Ganzen bleiben. Zuletzt ist ihr Schicksal das des Samenkorns: Nur wenn es erstirbt, bringt es Frucht.

LeerJede Kommunität hat ihr Hochschätzbares. Eine Kommunität beginnt ihren Weg und gewinnt ihr Profil zumeist damit, daß sie aus der Fülle des Schätzenswerten etwas in besondere Hochschätzung nimmt und dieses so zu seinem ihm zukommenden Gewicht bringt. Von diesem Gewicht wird das Hochschätzbare ein Beträchtliches einbüßen, wenn es überschätzt wird. Überschätzung kann etwas Richtiges verkehren und etwas Gutes in die Gefahr bringen, schlimm zu werden.

LeerWer aber will einen Liebenden davor bewahren, daß er seinen Schatz für den allerschätzbarsten hält - und wer ihm nachtragen, daß er über seinem Schatz alle übrigen vergißt? Verliebte, auch Verliebte brauchen gute Freunde und sollten auf sie hören, auch wenn diese gelegentlich mit Einschränkungen des Glückes kommen - genauer jedoch: Mit Einschränkungen zu kommen scheinen: Denn in Wahrheit kommen sie, indem sie den Überschwang in Hut nehmen, mit einer Bewahrung des Guten und dem wahren Glück.

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LeerWo ein Rang ist, ist auch eine Gefahr; und wem eine Gefahr zugemutet wird, dem wird auch ein Rang zugetraut. Die Hingerissenheit, welche eine Kommunität in den Stand setzt, eine Entscheidung zu fällen, eine Wahl zu treffen und aus der Fülle der Wahrheit „ihr Fündlein” zu präferieren, mit ihrem Pfunde zu wuchern, ist eine Auszeichnung und von Rang. Und zwar von dem Rang bedrohlicher Nähe zur „Häresie” (dieses aber wirklich und ernstlich nur in Anführungszeichen gesagt und jedenfalls ohne jegliche Androhung von Pech und Schwefel und inquisitorischer Maßregelung...). Denn Häresie ist immer die Hingerissenheit von einem Teil der Wahrheit - eine Hingerissenheit, die im Fall der Häresie ihrer Gefahr erlegen ist: Sie hat über dem Teil das Ganze aus dem Blick und damit die Wahrheit verloren.

LeerWer Mut zu solch gefährlicher Nähe hat und bereit ist, den Preis der Enge zu zahlen, kann Tiefe gewinnen. Nicht zufällig waren im Lauf der Kirchengeschichte große, größte Leistungen gebunden an das Vorhandensein von Kommunitäten - und das im ursprünglichsten Sinn: Als Gemeinschaft derer, die eine „gemeinsame Mauer haben”, aber auch sich die Erlaubnis nehmen, hinter Mauern zu leben: Zu besonders geschütztem und hochgehütetem Werk, welches auf „freiem Felde” nicht gedeihen könnte.

LeerHierzu gibt es einen ebenso oft und gern gespielten Kontrapunkt: Nämlich die „allumfassende Weite” leidenschaftlich zu bevorzugen und dabei (wohl unvermeidlich) an Tiefe zu verlieren. Da wird man nur auskommen können mit großzügiger Oberflächlichkeit oder der un-verschämten (und dann doch auch leicht unverschämten) Übersehung von tausend Einzelheiten, ohne welche die Wahrheit auch nicht ist.

LeerEs ist die schwere Last der Kirche, daß sie das Eine wollen muß und das Andere nicht lassen darf - welche Last eine bedeutende Bedrückung, gelegentlich bis zur Niedergedrücktheit, zur Folge hat. Wer eine schwere Last schleppt, macht keine leichten Sprünge. Das festzustellen ist keine besondere kritische Kunst - doch es kritisieren können setzt Schamlosigkeit voraus.

LeerAuf diesem Felde ist das Verhältnis der Kommunitäten zur Kirche gelegentlich prekär.

LeerDie Freiheit von Lasten macht leichtfertig und macht, daß einer viel zu leicht fertig wird mit den lastenden Problemen: Welche damit ungelöst bleiben. Geduld ist die genaue Mitte zwischen Mutlosigkeit und Leichtfertigkeit.

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LeerKommunitäten setzen Korrekturen, notwendige, heilsame. Das ist ihr Anlaß und ihr Anspruch. Vermutlich läßt sich die Geschichte der Kommunitäten in ihrer Gesamtheit darstellen als eine Geschichte der im Lauf der Kirchengeschichte jeweils notwendig gewordenen Korrekturen des kirchlichen Lebens, Kommunitäten sind also so etwas wie ein Korrektiv. Sie kommen an die Grenze ihrer heilsamen Besinnung, wenn das Korrektiv zum Direktiv, wenn die Berichtigung zum bindenden Recht wird. Dann wird das Selbstgeleistete zur Forderung an Andere - und verliert den Charme der Güte. Dann wird die Hilfe zum Vorwurf und die Barmherzigkeit unerträglich. Das „gute Werk” wendet sich zur „Werkgerechtigkeit”, der Glaube an den Heiligen Geist zur Schwarmgeisterei und aus dem geistlichen Leben wird Frömmelei. Dann hält man in den Kommunitäten sich selber gern für Charismatiker und das Kirchenvolk der Volkskirche für den (verlorenen) Pöbel im Himmelreich. An dieser Grenze schlägt das Heilsame ins Schlimme um; da wird das Erhabene lächerlich und, was erheben sollte, peinlich.

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LeerDer Mut zu neuen Wegen, ungebahnten, ins Unbekannte und vielleicht noch nie Betretene ist der Ruhm gar mancher Kommunität. Im Organismus des Ganzen spielen solche Gemeinschaften sozusagen die Rolle der Phantasie - und so kann es nicht verwundern, daß ihre Unternehmungen manchem phantastisch erscheinen und gelegentlich auch wirklich ins Phantastische ausschlagen. Die Grenze dieser Weise wird nicht erst erreicht, wenn der Mut zum Mutwillen wird, sondern schon, wenn Neues verwechselt wird mit DEM NEUEN, mit dem, was das Gehörige und endlich das Rechte ist; wenn das noch nicht Dagewesende schon für das Bleibende gilt. Denn DAS NEUE, das von Allen gesuchte und wahrhaft Gültige, kann schon im Uralten liegen (und dort gefunden werden) - und das Nie-Dagewesene schon am Abend veralten.

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LeerAlles Gestaltete ist begrenzt und muß sich darein finden, von begrenzter Bedeutung und Gültigkeit zu sein. So ist es mit allem, was hier ist. Und die Bescheidung darein streitet nicht wider den Stolz und die Freude, in seinen Grenzen und mit seinen Grenzen etwas zu sein.

LeerZuletzt - sei wiederholt - ist das Samenkorn ein bis zur Winzigkeit Begrenztes und treibt doch den großen Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen. Nämlich so es erstirbt: Wenn es sich rückhaltlos hinverschwendet an die mütterliche Erde und den Segen des Himmels. Das gilt auch und nicht nur für die Kommunitäten in ihren Grenzen.

Quatember 1973, S. 75-79

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-11
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