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Das verfügbare Heil
von Gisela Schmidt

LeerIn der vom ökumenischen Rat der Kirchen herausgegebenen Studie „Die Kirche für andere” dient nicht nur die Christologie, sondern auch die Eschatologie, also die Umschreibung des letzten Zieles Gottes für die Welt, vornehmlich der Heiligsprechung der Welt.

Leer„Im Leben, Sterben und Auferstehen Christi ist der Gott der Geschichte in die Geschichte eingetreten und hat ihr eine neue Richtung gegeben”, heißt es in der Studie. Damit stellt sich die Frage, in welche Richtung Gott die Geschichte nunmehr bewegt, welches sein Ziel für die Welt ist. Doch schon aus dem radikal „kenotischen” Charakter dieses Eingehens Gottes in die Geschichte - wären die Verfasser der ökumenischen Studie konsequent, müßten sie eigentlich von einem Aufgehen Gottes in der Geschichte sprechen - ergibt sich, daß dieses Ziel innergeschichtlich und innerweltlich sein muß. Darüberhinaus ist das notwendig, weil jede Jenseitshoffnung die Hochschätzung der Welt relativieren würde, was im Widerstreit zur Grundtendenz der Studie stünde.

LeerUm den innerweltlichen Charakter des letzten Zieles Gottes für die Welt biblisch zu begründen, hat man zur Beschreibung dieses Zieles auf den alttestamentlichen Begriff „Schalom” (hebräisch: Friede, Heil) zurückgegriffen. Dieses Wort umfaßt im Alten Testament alles, was zum Wohlbefinden des Menschen gehört: Die Ruhe vor den Feinden, die Fruchtbarkeit des Landes und des Viehs, Kinderreichtum und geordnete Verhältnisse. Solches Wohlbefinden war die erwartete Heilsgabe Jahwes an sein Volk. Das gottgeschenkte Heil und das menschliche Wohlbefinden waren für den alttestamentlichen Menschen identisch. Im Neuen Testament ist diese Identität von Heil und Wohl nicht mehr gegeben. Deshalb ist es unmöglich, den neutestamentlichen Begriff „eirene” (griechisch: Friede) mit „Schalom” wiederzugeben, wie es in der ökumenischen Studie geschieht.

LeerEs wirkt beinahe grotesk, wenn J. C. Hoekendijk, ein maßgeblicher Mitarbeiter der Studie, in seinem Buch „Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft” Joh. 14, 27, übersetzt: „Schalom lasse ich euch, meinen Schalom gebe ich euch.” Doch erreichen die Verfasser der ökumenischen Studie durch den Rückgriff auf den Begriff „Schalom” die erstrebte Identifizierung von Heil und Wohl. Dabei wird übersehen, daß diese Identifizierung aus dem Ärgernis des Kreuzes eine Absurdität macht. Denn im Kreuz Christi ist die Deckungsgleichheit von gottgeschenktem Heil und irdischem Wohlergehen aufgehoben. Diese Aufhebung ist im gesamten neutestamentlichen Zeugnis vorausgesetzt.

LeerSchalom wird in der ökumenischen Studie verstanden als ein „vielfältiges soziales Geschehen”, „ein Geschehen der zwischenmenschlichen Beziehungen”. Hoekendijk beschreibt ihn in seinem Buch folgendermaßen: „Er ist Frieden, Integrität, Gemeinschaft, Harmonie und Gerechtigkeit.”

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LeerSchalom heißt also das Ziel der Geschichte, das ihr durch das Christusereignis gegeben wurde. Sein Kommen ist nicht aufzuhalten. Die volle Verwirklichung des Schalom liegt in der Zukunft, sie wird erreicht als das Ergebnis des durch Christus eingeleiteten Wandlungsprozesses. Dabei ermöglicht die Verankerung dieses Wandlungsprozesses im Christusereignis den Verfassern der ökumenischen Studie ähnlich dem Neuen Testament ein doppeltes festzuhalten: Daß das endgültige Heil schon gegenwärtig ist und es gleichzeitig noch aussteht (doppelte Eschatologie). „Dieser Wandel hat zwei Aspekte: Er hat schon stattgefunden; ‚das Alte ist vergangen, das Neue hat angefangen’ (2. Kor. 5,17) - und er ist noch im Gang; Geschichte wird erfahren als der Wandel, dessen Anfänger und dessen Ziel Jesus ist”. Das Christusereignis wird verstanden als Vorausverwirklichung des Endgültigen: „Wir gehen nicht im Kreis, sondern wir bewegen uns auf die Manifestation dessen zu, was in Christus schon geoffenbart und erreicht worden ist.”

LeerJedoch entspricht die in der ökumenischen Studie vertretene Form doppelter Eschatologie auf keinen Fall der paulinischen. Die Berufung auf Paulus ist deshalb irreführend, wie das falsche Pauluszitat „das Alte ist vergangen, das Neue hat angefangen” zeigt. Paulus spricht ja nicht von einem geschichtlichen Wandlungsprozeß, nicht von einem Neuen, das erst angefangen habe, sondern vielmehr von einem Neuen, das bereits da sei: „Wenn jemand in Christus ist, so ist er eine Neuschöpfung: Das Alte ist vergangen - siehe, Neues ist geworden” (Übersetzung von 2. Kor. 5,17, von Ulrich Wilckens). Was nach Paulus noch aussteht, ist lediglich das Sichtbarwerden des Neuen, des Heils. Das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses ist es auf keinen Fall, sondern es beruht auf einer Schöpfertat Gottes aus dem Nichts. Paulus braucht auch keinen geschichtlichen Wandlungsprozeß, weil das Heil für ihn dieser Welt fremd ist und in ihr nicht sichtbar werden kann.

LeerDa der Wandlungsprozeß noch im Gange, das Ziel der Geschichte noch nicht erreicht ist, ist nach der ökumenischen Studie Gott ständig am Werk, den Schalom herbeizuführen. Er tut das, indem er ständig Zeichen des Schalom aufrichtet. Man hat durchaus konkrete Vorstellungen, wie solche Zeichen aussehen und weiß Beispiele zu nennen. Diese Beispiele machen mit aller wünschenswerten Klarheit deutlich, was dabei herauskommt, wenn Heil und Wohl identifiziert werden. Es sind: „Die Emanzipation der farbigen Rassen, die Bemühung um die Vermenschlichung der Beziehungen in den Industrieländern, verschiedene Versuche, benachteiligte Landgebiete kulturell und wirtschaftlich zu fördern (in der Schweiz z. B. Bergbauernhilfe), das Ringen um wirtschaftliche und berufliche Ethik, das Bemühen um intellektuelle Redlichkeit und Integrität.”

LeerMan muß die Absicht, konkret zu reden, die vermutlich bei der Aufstellung dieser Liste Pate gestanden hat, loben. Und man muß auch sagen, daß das gelungen ist. Denn durch diese Liste wird eindeutig klar, welche Funktion die Einführung des Begriffes „Schalom” und damit die Eschatologie überhaupt im Rahmen des Denkens der ökumenischen Studie hat. Hier wird dem vernünftigen, weltzugewandten Tun des Menschen endgültige - eschatologische - Bedeutung verliehen. Politisches Handeln wird eschatologisch qualifiziert.

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LeerIm Hinblick darauf, daß das Wort „Rechtfertigung” im Neuen Testament und der gesamten christlichen Tradition solch eschatologischen Charakter hat, kann man es auch anders ausdrücken: Hier wird die Rechtfertigung durch die Werke gepredigt. Nicht mehr der unverfügbare Glaube, sondern die verfügbare Tat ist heilsmächtig. Es ist dann kein Wunder, wenn der Satz Cyprians „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil” auch nicht mehr in dem evangelischen Sinne aufrechterhalten werden kann, daß die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen verstanden wird. Nur konsequent ist es deshalb, wenn der nach der Aufzählung der Zeichen des Schalom folgende Satz lautet: „So gebraucht Gott Männer und Frauen innerhalb und außerhalb der Kirche, während er sein endgültiges Ziel anstrebt, um Zeichen des Schalom aufzurichten.”

LeerMan muß sich klarmachen, daß die Predigt der Rechtfertigung aus den Werken die notwendige Folge davon ist, daß Heil und Wohl identifiziert werden. Das zweckhafte, auf das Wohl hin ausgerichtete Tun steht dem Menschen ja in gewisser Weise zur Verfügung, nicht aber das Heil, das nur im Glauben durch den Heiligen Geist empfangen werden kann. Wird nun das Heil mit dem Wohl identifiziert, wird es verfügbar und damit in die Eigenverantwortung des Menschen gegeben. Es kann nicht mehr unterschieden werden zwischen dem Auftrag des Menschen, Mitarbeiter Gottes in der Welt zu sein, und der Unmöglichkeit, Mitarbeiter zum Heil zu sein. Ein gesetzliches Verständnis des Evangeliums ist die unausweichliche Folge, die sich in der ökumenischen Studie auch prompt einstellt: „Es (das Evangelium) verkündigt ... die Verwandlung aller Dinge und lädt uns ein, uns daran zu beteiligen!” Das endgültige Heil in den Händen der Menschen - man hat auch heute Grund genug, daran zu zweifeln, daß es dort gut aufgehoben ist.

LeerDie Eschatologie der ökumenischen Studie läßt sich kaum treffender und besser kritisieren als mit den Worten des Berneuchener Buches: „Das jenseitige Ziel aller Geschichte wird in die diesseitige Wohlfahrt des Menschengeschlechts verfälscht. Pax et securitas humana (Friede und menschliche Sicherheit), für das christliche Weltverständnis Kennzeichen des antichristlichen Reiches, werden zum Arbeitsprogramm kirchlicher Unternehmungen und zum Maßstab für Wachstum und Kräftigkeit des Gottesreiches.” Und mit geradezu irritierender Deutlichkeit fahren die Verfasser fort: „Das Evangelium verkündet dem Jünger, daß er in der Welt Angst habe, und die evangelische Kirche hat einmal sehr bündig und grob von der Welt als dem Jammertal und als des Teufels Wirtshaus gesprochen; solche herbe Wahrheit wird heute wieder verstanden von all denen, die der Blick auf das kommende Reich von der unbedingten Hochschätzung und Verehrung irgendeiner zeitlichen Größe befreit hat.” Diese Worte sind um so gewichtiger, als man ihren Verfassern gewiß nicht vorwerfen kann, sie seien einer rein innerlichen, weltverachtenden Religiosität verhaftet.

LeerBei der aus der Identifizierung von Heil und Wohl in der ökumenischen Studie entsprungenen Vergesetzlichung des Evangeliums handelt es sich allerdings nicht um einen theologischen Unfall. Auch dieser Vorgang steht im Dienst der Hochschätzung der Welt und der Autonomie des Menschen. Auch er muß auf dem Hintergrund der Gott-ist-tot - der-Mensch-ist-autonom-Erfahrung verstanden werden. Von einem Gott, der nicht mehr als Gegenüber erfahren wird, ist nichts mehr zu erhoffen. Der zurückgebliebene Mensch ist zur Autonomie gezwungen. Er steht zwischen Resignation und unrealistischem Fortschrittsoptimismus. In dieser Alternative hat die ökumenische Studie den letzteren Weg gewählt. Freilich scheitert diese Theologie damit an dem Auftrag der Kirche, zu befreien, indem sie den Menschen erneut unter das Gesetz der Werke beugt.

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LeerIm Gegensatz zur ökumenischen Studie unterscheidet das Berneuchener Buch sehr konsequent zwischen dem kommenden Gottesreich und geschichtlichen Vorgängen. Das Heil bleibt jenseitig. „Die Hoffnung auf das kommende Reich ist die Hoffnung auf die Herrschaft Gottes. Keine irdische Größe kann behaupten, selbst ein Stück dieses Gottesreiches zu sein. Keine Gestaltung der Zeit darf den Blick auf sich ziehen wollen, mit dem der Glaube auf den ‚letzten Tag’ gerichtet ist.” Doch ist gerade diese Jenseitigkeit des Heils von wesentlicher Bedeutung für die Haltung des Glaubenden gegenüber der Welt. Sie bringt die Befreiung von jedem unbedingten Macht- und Geltungsanspruch geschichtlicher und sozialer Größen. Denn die Jenseitigkeit des Reiches Gottes bedeutet das Gericht über jeden geschichtlichen Anspruch, die Menschheit dem Heil näherzubringen. Die Anerkennung dieses Gerichts über jede geschichtliche Gestaltung bringt die Befreiung von solchen Ansprüchen.

LeerDoch sind im Berneuchener Buch Heil und Geschichte zwar klar unterschieden, jedoch nicht getrennt. Das jenseitige Heil ist mitten in der Geschichte gegenwärtig und wirksam. Zusammengehalten werden Heil und Geschichte durch den christologisch begründeten Gleichnisbegriff. Die im Christusereignis inmitten der Geschichte erschienene Offenbarung Gottes macht die Geschichte in ihrer Gesamtheit für den Glauben zum durchscheinenden Gleichnis für Gott und sein Handeln, für sein Heil, aber auch für sein Gericht. So kann vom „Symbolcharakter der Geschichte” gesprochen werden. Das geschichtliche Geschehen ist in Christus von Gott dazu berufen, dem Glaubenden zur Anrede zu werden, ihn auf Ursprung und Ziel alles zeitlichen Geschehens, das heißt auf Gott selbst hinzuweisen.

LeerUnd so ist denn „für uns die Geschichte nicht ein leeres Gestern und ein gleichgültiges Morgen, sondern eine lebendige gegenwärtige Wirklichkeit, in der das Wort Gottes an uns ergeht”. Freilich muß sofort wieder darauf hingewiesen werden, daß die Geschichte keine immanente Offenbarungsmächtigkeit besitzt. Daß sie zum Gleichnis werden kann, hat seinen Ursprung im Christusgeschehen. Aus Gottes Offenbarung in Christus muß alles leben und an ihr muß sich alles messen lassen, was uns in der Geschichte als Gottes Wort anreden will. Am Christusgeschehen selbst wird auch deutlich, daß niemals alle Geschichte, sondern immer nur konkretes Geschehen, wo und wann Gott es will, zur Offenbarung des Ewigen werden kann.

LeerDurch diesen christologischen Gleichnisbegriff hat also im Berneuchener Buch geschichtliches Geschehen religiöse Bedeutung gewonnen. Und doch wurde vermieden, die Geschichte selbst heiligzusprechen. Die Haltung des Glaubenden zu geschichtlichen Gestaltungen ist religiöser Indifferenz entnommen, denn er weiß um ihre Berufung, gleichnishaft von Gottes Gericht und Gnade zu zeugen. In dem allen hat man es vermieden, einer neuen Gesetzlichkeit zu verfallen.

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LeerDurch die Verbindung von innerweltlichem Charakter des Schalom mit der Erwartung seiner vollen Verwirklichung in der geschichtlichen Zukunft ist in der ökumenischen Studie die Geschichte in eine eher negativ gesehene Vergangenheit und eine positiv gesehene Zukunft zerbrochen. Sogar das Wort „Gericht”, das man sonst vermeidet, wird plötzlich undifferenziert über die Vergangenheit und die Gegenwart, soweit sie mit der Vergangenheit in Kontinuität steht, gesetzt: der Status quo stehe „unter dem Gericht des kommenden Reiches”. Sogar von Buße ist plötzlich die Rede. Die Kirchen werden aufgefordert „ständig Buße für das zu tun, was sie waren, selbst dort, wo es sich um offensichtlich Gutes handelte”.

LeerEbenso führt die reine Diesseitigkeit des Heils in Verbindung mit seiner geschichtlichen Zukünftigkeit dazu, daß der Großteil der Generationen der Menschheit von der vollen Verwirklichung des Schalom ausgeschlossen bleibt. Die vergangenen Generationen - und wohl auch die gegenwärtigen - müssen sich mit einer bloßen Wegbereiterfunktion begnügen. So führt das Zerbrechen der Einheit der Geschichte mit innerer Notwendigkeit zum Zerbrechen der Einheit der Menschheit vor Gott. Der als universal angepriesene Heilswille Gottes verliert bei näherem Zusehen diesen Charakter. Er scheint im Grunde nur kommenden Generationen zu gelten. „Das Ende der Geschichte wird nicht Zerstörung und Sinnlosigkeit sein, sondern der Sieg der Liebe und Gerechtigkeit”, weiß die ökumenische Studie. Es bleibt aber fragwürdig, ob der Ausblick auf solch ein Ende, von dem er selber nichts mehr hat, dem heutigen Menschen, der weitgehend in Zerstörung und Sinnlosigkeit leben muß, einen tragfähigen Trost bieten kann.

LeerDemgegenüber wird im Berneuchener Buch die Geschichte vom Christusereignis her als Einheit gesehen. Dieses Ereignis stellt alle geschichtlichen Gestaltungen vor Gott und gibt ihnen ihre Bestimmung. Weil man - im Gegensatz zur ökumenischen Studie - Eschatologie nicht als Mitteilung von Ereignissen versteht, die in der Zukunft, aber noch innerhalb der endlichen Zeit sich ereignen, vermag man alles geschichtlich Geschehen als unmittelbar zu Gott zu verstehen. Damit gewinnen auch alle Generationen der Menschheit vor Gott ihre Einheit: „Der ‚jüngste Tag’ kommt nicht im Kalender der realistischen ‚Zeit’ vor, sondern er ist die von Gott gesetzte Vollendung, auf die alles Geschehen gerichtet ist, und in der alle Zeit aufgehoben wird.” Diese Sicht betrachten die Verfasser des Berneuchener Buches als „Überwindung einer realistischen Eschatologie” und des „Realismus der Tatsachentheologie”: „Nur durch die Überwindung einer realistischen Eschatologie wird die Rede von den letzten Dingen etwas anderes als eine seltsame Chronik zukünftiger Ereignisse, die die Neugier befriedigt; etwas anderes, nämlich das Zeugnis von demTelos (Ziel), auf das hin alle Zeit ‚gerichtet’ ist.”

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LeerDiese Bemerkung aus dem Berneuchener Buch veranlaßt zu der Frage, ob die Form von realistischer Eschatologie, die in der ökumenischen Studie vorliegt, mit ihrer Rede von der vollen Verwirklichung des Schalom in der Zukunft nicht am Ende auch „eine seltsame Chronik zukünftiger Ereignisse” bietet, das heißt von für die Gegenwart letztlich belanglosen Dingen redet. Es legt sich die Auffassung nahe, daß der Schalom in der Zukunft der Gegenwart, in der wir nun einmal leben, so fern gerückt ist, daß er jede Beziehung zu ihr verloren hat - zumal die Zeichen des Schalom in der Gegenwart zu seiner vollen Verwirklichung in keinem verständlichen Verhältnis stehen. Im Gegensatz zu den sehr konkret beschriebenen Zeichen des Schalom in der Gegenwart bleibt die Beschreibung des Schalom selbst sehr unanschaulich.

LeerWenn diese Auffassung richtig ist, dann liegt in der Eschatologie der ökumenischen Studie ein ähnlicher Vorgang vor wie in der Christologie: Durch die Christologie wird Gott einerseits völlig in die Welt hineingezogen, andererseits ausgeschaltet; mittels der Eschatologie wird das Gottesreich einerseits mit den für gut befundenen Vorgängen in der Welt identifiziert, andererseits in eine beziehungslose Ferne gerückt. Wenn man noch einen Schritt weitergehen will, kann man sagen, daß die Verfasser der ökumenischen Studie eigentlich nicht so sehr am Ziel der Geschichte - dem Gottesreich - als am Prozeß des Wandels selbst interessiert sind.

LeerGott ist für die Verfasser der ökumenischen Studie in den geschichtlichen Wandlungsprozeß eingegangen, hat sich in ihn entleert (Kenosis). Von diesem Interesse aus sind auch Aussagen zu verstehen wie die, daß der Status quo „unter dem Gericht des kommenden Reiches” stehe. Es geht auch hierbei weniger um das kommende Reich als um den Wandel. Wie eng die Verbindung zwischen Gott und dem Wandlungsprozeß ist, kann man auch daran erkennen, daß der „Gott der Geschichte” sich ja selbst abschaffen würde, wollte er die als Wandlungsprozeß verstandene Geschichte zu dem vorgesehenen Ende im Schalom führen. Als Wandlungsprozeß gewinnt in der ökumenischen Studie die Geschichte auch wieder eine gewisse Einheit. Jedoch wird die oben festgestellte Zerbrochenheit dadurch nicht geheilt. Die Bruchstelle allerdings wird gleitend. Die jeweilige Gegenwart bricht im Prozeß der Wandlung die Beziehungen zur Vergangenheit ab. Die Vergangenheit ist immer eher negativ, die Zukunft immer positiv zu sehen. So wird der Mensch ohne Ziel in die Zukunft getrieben. Die Eschatologie der ökumenischen Studie dient ebenso wie ihre Christologie neben der Behauptung der Autonomie der Menschen vor allem der Heiligsprechung der Welt im Wandel.

Quatember 1973, S. 80-86

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-11
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