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Die Heimholung der Natur in das christliche Denken und Leben
von Adolf Köberle

LeerDas Wort Natur wird in der theologischen Fachsprache in einem doppelten Sinn gebraucht. Natur kann heißen: die verdorbene Wesensart des menschlichen Herzens, dessen Dichten und Trachten nach 1. Mose 8 „böse ist von Jugend auf”. Der so verstandene Naturbegriff braucht in das christliche Denken und Leben nicht heimgeholt zu werden; denn er ist der Christenheit in dieser Auffassung in allen Jahrhunderten lebendig geblieben, angefangen von Paulus über Luther und Pascal bis hin zu Sören Kierkegaard.

LeerAber nun hat das Wort Natur ja auch noch einen völlig anderen Sinn. Natur meint den Wechsel von Tag und Nacht, den Rhythmus der Jahreszeiten und den Wandel der Gestirne. Natur ist Sonne und Regen, Wetter und Wind, Wald und Wiese, Weinberg und Ackerfeld, Seidelbast und Heidelbeeren, Biene und Ameise, Ruf des Kuckuck und Lied der Nachtigall. Natur wird erlebt im Wandern und Schwimmen, im Bergsteigen und Schilaufen, im Atmen und Singen, in Gymnastik und Körperkultur.

LeerGewiß, die so verstandene Natur hat nicht nur eine Sonnenseite, sie hat auch eine Nachtseite, wenn die Erde bebt und ganze Städte begräbt, wenn der Borkenkäfer die herrlichsten Wälder zerstört, wenn Flüsse über ihre Ufer treten und fruchtbares Land wegschwemmen, wenn der Blitz das am Feldrain spielende Kind erschlägt. Mag es sich um das leuchtende und segnende oder um das dunkle und tötende Element handeln, in jedem Fall erweist sich Natur als eine gewaltige numinose Macht, die in unser aller Leben eine entscheidende Rolle spielt.

LeerIn besonderem Maß sind an der lebensschaffenden und der lebensbedrohenden Seite der Natur unmittelbar beteiligt die Frauen und die Mütter, die schon von ihrem biologischen Schicksal her dem elementaren Leben stärker verbunden sind als der im begrifflichen Denken verankerte Mann. Aber auch der Arzt, der Künstler, die sportfreudige Jugend, der Gärtner und der bäuerliche Mensch, Seefahrer und Flieger, sie alle werden mit der Licht- und Nachtseite der Natur ständig konfrontiert, werden von daher beschenkt und erschreckt. Wie verhängnisvoll muß es sich auswirken, wenn Theologie und Kirche von dieser ungeheuren Realität beharrlich schweigen, als wäre sie sozusagen nicht vorhanden, als würde das Leben des Glaubens davon nicht tangiert.

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LeerTatsache aber ist, daß die Natur als schenkende Mutter und als gewaltige Herrin über unser Leben in der christlichen Verkündigung und Seelsorge der Gegenwart kaum oder überhaupt nicht vorkommt. Immer nur wird der Mensch abgehandelt, und das noch dazu in der abstrakten Weise: der Mensch als Geschöpf, der Mensch als gerechtfertigter Sünder, der Mensch in der Ich-Du-Beziehung, der Mensch als gesellschaftliches Wesen. Daß dieser Mensch einen Leib hat, ja daß er Leib ist; daß seine geschlechtliche Kraft eine Brunnenstube auch für das geistige Schaffen ist, daß unsere vitale und seelische Gesundheit von dem Mysterium des Schlafes abhängt - wo ist darüber in der Theologie der Gegenwart etwas zu hören oder zu lesen?

LeerEs wird heutzutage viel diskutiert und geklagt über schlecht besuchte Gottesdienste und zunehmende Kirchenaustritte. Wer denkt dabei daran, daß auch die Naturlosigkeit in Theologie und Kirche mit schuld daran sein könnte, daß die junge Generation, daß der naturhungrige, verstädterte Mensch dem christlichen Reden und Handeln kein Vertrauen schenkt. Lieber lebt man, vor die Wahl gestellt, mit der Natur ohne Gott, als mit Gott ohne Natur, statt daß gezeigt wird, wie alle Natur aus dem göttlichen Urgrund strömt und wiederum auf Gott hinweisen möchte.

LeerHalten wir zunächst vor der Frage still: Wie hat es zu der beklagenswerten Naturentfremdung und Naturlosigkeit in der christlichen Kirche kommen können? Man muß zur Beantwortung weit ausholen, denn die Anfänge zu dieser Verkümmerung liegen lang zurück.

LeerEines ist sicher: Die Bibel Alten und Neuen Testaments kann für den Verlust nicht verantwortlich gemacht werden. Das Alte Testament ist prall voll von Leben. Man lese dazu nur einmal die Trilogie: „Joseph und seine Brüder” von Thomas Mann! Gewiß, das Alte Testament ist erfüllt von geschichtlicher Dramatik, und Geschichte hat es immer mit dem Menschen als verantwortlichem Geistwesen zu tun. Aber man überhöre darüber doch nicht den kosmischen Jubel, der die Schöpfungspsalmen, das Hohelied Salomonis und die letzten Kapitel im Buch Hiob erfüllt! Da ist die Rede von Brunnen, die aus der Tiefe quellen, und von Wassern, die von den Bergen fließen, aus denen die Tiere auf dem Feld trinken und das Wild seinen Durst löscht. Da werden Brot, Wein und Öl gerühmt, die das Herz des Menschen stärken und seine Gestalt schön werden lassen. Die Sonne weiß um ihren Auf- und Niedergang. So sind alle Werke weislich geordnet und die Erde ist voll der Güte des Herrn.

LeerSollte jemand meinen, diese tellurische Fülle, dieser kosmogonische Eros sei im Neuen Testament verloren gegangen, den darf man daran erinnern, daß die Sprache Jesu in den Gleichnissen gesättigt ist mit liebevoller Naturanschauung und Naturverbundenheit. Christus spricht vom Weizenkorn und vom Weinstock, er weist hin auf die Lieblichkeit der Feldanemonen und auf die Sorglosigkeit der Vögel unter dem Himmel. Gewiß wird dieser Anschauungsunterricht, aus der Natur gewonnen, alsbald transparent für die tiefsten göttlichen Geheimnisse, die sich in und an der christlichen Existenz vollziehen. Was sich aber als gleichnisfähig für göttliche Wahrheit anbietet und erweist, kann nie und nimmer der Verachtung wert sein.

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LeerDie Bibel kennt keinen feindseligen Dualismus von Stoff und Geist, von Natur und Seele. Der Mensch wird verstanden als lebendige Einheit von Bios und Logos. Brot und Apfel sind demnach ebenso gute Gaben Gottes wie geistige Ausrüstungen, die zu schöpferischen Leistungen in Wissenschaft, Bildung und Kunst inspirieren.

LeerEs ist ein schmerzlicher Vorgang, daß schon die frühe Christenheit diese ursprüngliche Höhenlage nicht zu halten vermocht hat. Neuplatonismus, Manichäismus und die marcionitische Gnosis haben seit dem 2. Jahrhundert das Urchristentum überflutet und entstellt. Mit Recht hat Adolf von Harnack in seiner weltberühmten Dogmengeschichte von einer akuten Hellenisierung des Christentums in den ersten Jahrhunderten gesprochen. Für Plotin und seine Nachfolger hat allein die seelisch-geistige Wirklichkeit mit Gott zu tun. Das natürliche, leibhafte Leben dagegen wird als niedrig, wertlos und gottfern angesehen. Wohl hat die alte Kirche den Kampf gegen die Verachtung des biblischen Schöpfungsglaubens entschlossen aufgenommen. Aber die Kirche ist in diesem Streit keineswegs eindeutig Siegerin geblieben. Über Mönchtum und Mystik ist die Geringachtung der Natur und des Natürlichen in einem breiten Strom in die christliche Frömmigkeit eingedrungen. Nur auf die jenseitige Welt sollte der Andachtsblick des Glaubens gerichtet sein. Dem Leib, der sinnhaften Erscheinung schenkt man am besten keine Beachtung.

LeerDer Pietismus ist eine so vielschichtige Größe, daß man sich vor simplifizierenden Pauschalurteilen und Verurteilungen hüten sollte. So kann man zum Beispiel bei den schwäbischen Vätern von Bengel über Oetinger bis hin zu Blumhardt Vater und Sohn durchaus Äußerungen liebevoller Naturverbundenheit entdecken. Auf das Ganze gesehen jedoch zeigt die pietistische Frömmigkeit schon auf Grund ihrer geschichtlich nachweisbaren engen Seelenverwandtschaft mit der mittelalterlichen Mystik, eine durchaus gebrochene Einstellung zu den Realitäten Sinnlichkeit, Eros, Kunst, Schönheit, Leibes- und Liebesleben. Philipp Jakob Spener, der zu Recht als Vater des Pietismus gilt, soll als Propst von St. Nikolai in Berlin im Verlauf von neun Jahren nur zweimal den Garten seines Hauses betreten haben.

LeerDas 19. Jahrhundert brachte der protestantischen Theologie eine fragwürdige Überflutung durch den Einstrom der idealistischen Philosophie. Bei Kant, Schiller und Fichte erscheint der Geistwille des Menschen als das allein Wertvolle. Das Ich sieht auf die Natur herab. Die Natur muß vom Geist beherrscht werden. Im Widerstreit von Sinnlichkeit und Sittlichkeit gilt es, die Natur unter die Füße zu treten. Eine dankbare, liebende Verbundenheit mit dem elementaren Leben kann bei einer solchen Einstellung nie und nimmer aufkommen. Der bedeutende Göttinger Theologe Albrecht Ritschli, dessen Schüler bis 1914 die theologischen Lehrstühle in Deutschland besetzt hielten und beherrschten, vertrat in der Gefolgschaft von Kant in würdiger Weise ein vorbildliches Pflichtenethos. Die Natur aber als unmittelbarer Schöpfungswert hat in diesem Denksystem keinen Platz.

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LeerDie Theologie der Gegenwart hat an dieser unerfreulichen Gesamtlage kaum etwas geändert. Bei Paul Althaus und Friedrich Gogarten spielt wohl der Begriff der Schöpfungsordnungen eine entscheidende Rolle. Aber Schöpfung wird hier, rein personalistisch verstanden, auf eine Ständelehre eingeengt. Schöpfung heißt demnach immer nur das wechselseitige Gefordertsein im Gegenüber von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, von Lehrer und Schüler, von Herr und Knecht, von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die Natur als Feld und Wald, als Saat und Ernte, als Sonne und Regen kommt nicht in das Blickfeld christlicher Andachtsergriffenheit.

LeerKarl Barth hat sich immerhin in seiner „Kirchlichen Dogmatik” (III, 4) ein Kapitel genehmigt, in dem Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben” positiv gewürdigt wird. Auf das Ganze gesehen ist auch seine Theologie konzentriert auf das Gegenüber von Menschengeist und Gottesgeist. Während der ältere Martin Heidegger sich in dem Spätwerk „Holzwege” wieder der kosmischen Naturandacht von Hölderlin zuneigt, der die Natur „meine süße Schwester” genannt hat, kommt die Natur in dem Frühwerk „Sein und Zeit”, das den Weltruf des Freiburger Philosophen begründet hat, denkbar schlecht weg. Menschliches Dasein wird interpretiert als Mit-Sein, als Sein in der Angst und als Sein zum Tode. Die Natur aber wird im Unterschied dazu qualifiziert als „vorhandenes Zeug”. Sie bleibt weit unter dem, was uns unmittelbar angeht.

LeerDa der frühe Heidegger nachhaltig auf Rudolf Bultmann und seine Schule gewirkt hat, brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, wenn in der Philosophie und Theologie des Existentialismus hinsichtlich der Natur ein tiefes Schweigen herrscht. Die anthropozentrische Vorherrschaft hat endgültig gesiegt. Die allerneueste Entwicklung, die bis zu einer „Theologie nach dem Tode Gottes” und zu einer „Theologie der Revolution” führte, hat das Wort von der Mitmenschlichkeit samt allen darin beschlossenen soziologischen und politologischen Verpflichtungen machtvoll in den Vordergrund gerückt. Aber über der Mitmenschlichkeit hat man die Mitgeschöpflichkeit so gut wie ganz vergessen. Man ereifert sich wohl leidenschaftlich über die Probleme des Rassismus. Aber zum Besten von Tierschutz und Umweltschutz hört man von diesen Vorkämpfern kaum ein Wort.

LeerCarl Amery, der Vertreter eines fortschrittlichen Reformkatholizismus, stellt in dem Buch „Das Ende der Vorsehung” (Die gnadenlosen Folgen des Christentums) erbittert fest: Es gibt ein einziges Wort in der Bibel, das Juden und Christen mit der säkularen Welt einträchtiglich verbindet, es ist das Wort, das schon im Urstand an die Menschen ergangen ist: „Macht euch die Erde untertan”. Gerade dieser Herrschaftsauftrag habe zu einer hemmungslosen Naturausbeutung geführt, an deren Folgen wir alle über kurz oder lang zugrunde gehen werden. An dieser Stelle sei zwischen Kapitalisten und Kommunisten nicht der geringste Unterschied wahrzunehmen. Der Rhein und die Donau, der stille Don und die Wolga sind gleichermaßen zu toten Wasserarmen geworden, in denen die Fische sterben.

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LeerNach der Überzeugung von Amery hat noch mehr als Gnosis, Mystik und idealistischer Geistbegriff der calvinistische Gewerbefleiß der Natur wehgetan. Der Puritaner setzt irdischen Gewinn unbedenklich gleich mit: von Gott gesegnet sein. So hat sich Erwählungsglaube und Naturausschlachtung in verhängnisvoller Weise miteinander verbunden. Amerika gilt als der christliche Kontinent schlechthin. Gerade dort aber hat der totale Erfolg zum Ausbruch einer totalen Krise geführt. Mit jedem Jahr wächst das Erschrecken darüber, was der Herrschaftsgeist des Menschen im Blick auf die mütterliche Erde an Schaden und Zerstörung irreparabel anrichtet.

LeerIn der zornigen Erregung über das geschehene Unheil vermag Carl Amery nicht mehr zu unterscheiden zwischen dem Sinn und dem Mißbrauch eines Auftrags. Auch im 8. Psalm wird den Menschen abermals die Regierungsvollmacht über alle Kreatur anvertraut: „Du, o Gott, hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt, du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.” Doch das biblische Zeugnis läßt keinen Zweifel darüber, daß der Mensch diese außerordentliche Vollmacht nur dann recht erfüllen kann, wenn er Gott gegenüber in der Haltung der Demut und der Anbetung verharrt. Erst dadurch, daß der Mensch aus dieser Kindesverbundenheit herausgefallen ist und sich in Hybris und Ehrfurchtslosigkeit seinem Ursprung entfremdet, wirkt sich die ihm verliehene Sendung an Mensch und Erde unheilvoll aus.

LeerSo gewiß die Geschichte des Christentums, wenn auch verschiedenartig motiviert, schmerzliche Verkümmerungen und Entartungen im Naturverständnis zeigt - um der Gerechtigkeit willen muß darauf hingewiesen werden: Es hat in allen Jahrhunderten der Christenheit Stimmen gegeben, die zu der ursprünglichen biblischen Naturverbundenheit zurückgefunden und dazu aufgerufen haben. Für das Mittelalter ist neben Albert dem Großen und Hildegard von Bingen vor allem Franz von Assisi zu nennen. Er sagt zu den Tieren Bruder und Schwester, er rühmt in seinem Sonnengesang die elementaren Kräfte, das Licht, das Wasser, die Erde, den Odem als Geschenk göttlicher Güte und Herrlichkeit. In den Briefen und Schriften von Martin Luther finden sich ungezählte Stellen, die auf eine innige Naturaufgeschlossenheit hinweisen. Kaum ist der Reformator im Frühjahr 1530 auf der Feste Coburg angelangt (nach Augsburg darf er nicht mitreisen, weil er noch immer in der Acht des Kaisers steht), da beobachtet er das Spiel im Vogelnest vor seinem Fenster und schreibt seinem Sohn Hänschen einen entzückenden Brief darüber.

LeerWas glaubenserfüllte Naturliebe ist, kann man lernen bei Paul Gerhardt und Matthias Claudius, die der Christenheit herrliche Morgen- und Abendlieder, dazu Lieder zum Lobpreis der Jahreszeiten und des Erntesegens geschenkt haben. Von Blumhardt dem Älteren wird erzählt: Als man von der überlieferten bäuerlichen Ordnung abgehen wollte, einen Acker auch einmal ein Jahr lang brach liegen zu lassen, weil infolge der modernen Kunstdüngemittel eine solche Pause nicht mehr nötig sei, da soll er gesagt haben: „Laßt es beim alten, so ein Äckerle will sich auch einmal verschnaufen dürfen.” In dem Roman „Die Brüder Karamasow” von Dostojewski] wird uns die ehrwürdige Gestalt des Starez Sosima geschildert. In dem Gespräch mit Aljoscha mahnt der russische Pilgervater seine Zuhörer: „Brüder, habt die Erde lieb! Liebt jedes Gräslein! Seid gut zu den Tieren! Laßt auch sie Genossen Eurer Freude sein!”

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LeerNach allem, was man hört, haben selbst Marxismus und Leninismus, für die die Natur nur auszunützende Rohstoffquelle bedeutet, nicht verhindern können, daß das Osterfest auch heute noch von weiten Kreisen der russischen Bevölkerung als ein Fest kosmischer Freude begangen wird. So gewiß es also an Liebhabern der Natur, an mahnenden Stimmen, mit der Natur brüderlich schonsam umzugehen, in der Geschichte der Christenheit nicht gefehlt hat, auf das Ganze gesehen waren es doch immer nur vereinzelte Stimmen, die sich nicht durchsetzen konnten gegen die übermächtigen Einflüsse von Erwerbssinn, Geistabstraktion und einseitig spiritualistischer Frömmigkeit. Weil die Christenheit die Fahne der kosmischen Naturandacht nicht hochgehalten hat, darum ist es nur zu verständlich, wenn andere Rufer auf den Plan getreten sind, die sich der verachteten Mutter Erde hilfreich angenommen haben. Renaissance und Romantik, auf die man in der protestantischen Theologie im allgemeinen nicht eben freundlich zu sprechen ist, waren solche Durchbrüche zu neuer elementarer kosmischer Liebe. So wurde Goethe ein nimmermüder Laudator naturae: „Und frische Nahrung, neues Blut saug' ich aus weiter Welt. Wie ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält!”

LeerWer das Lebenswerk von Ludwig Feuerbach aus den Quellen kennt, weiß, daß seine Abneigung gegen den Gottesglauben vor allem in der christlichen Verachtung der Erde begründet war, die zu lieben der Heidelberger Philosoph mit überströmenden Worten aufgerufen hat. Friedrich Nietzsche und Ludwig Klages gelten der Kirche als dezidierte Heiden. Auch ihnen wird man nur gerecht, wenn man sich klar macht, wie sehr sie über die Geringachtung und Mißhandlung der Natur von selten der abendländisch-christlichen Völker empört waren. Manchmal kann Gott auch Steine schreien lassen, wenn seine Kinder versagen. Die deutsche Jugendbewegung war ebenfalls ein elementarer Aufbruch zu neuem Naturerleben. Es kam eine Generation, der Singen, Spielen und Wandern mehr bedeutet hat als Kommers und Mensur, als Strebertum und bürgerliches Gesellschaftsmilieu.

LeerDer griechische Mythos von Antaios steht zwar nicht in der Bibel, enthält aber gleichwohl eine tiefe Wahrheit. Antaios war so lange unbesiegbar, als er mit beiden Sohlen fest auf dem Boden der Mutter Erde stand. Erst als es Herakles gelungen war, ihn davon zu lösen und in die Luft zu werfen, war es möglich, den Helden zu zerbrechen.

LeerDie Krankheit ist gewiß ein vielschichtiges Problem. Sie läßt sich niemals auf eine einzige Formel bringen. So können Menschen krank werden, weil sie sich bis zum letzten für andere aufgeopfert haben, statt sich zu schonen. Gleichwohl kann nicht verschwiegen werden, daß ungezählte Krankheiten darin ihren Grund haben, daß wir uns allzu weit von einem naturgemäßen Leben entfernt haben.

LeerUnter dem noachitischen Bund versteht die Theologie die göttliche Ordnung, daß, solange die Erde steht, nicht aufhören sollen Tag und Nacht, Sommer und Winter, Frost und Hitze, Saat und Ernte. Die Polarität von Tag und Nacht verlangt von uns den Wechsel von Arbeit und Ruhe, von Tätigsein und Loslassenkönnen. Der Rhythmus von Saat und Ernte mahnt zum geduldigen Warten und erinnert zugleich daran, daß die Natur eine langmütige, aber auch unerbittliche Herrin ist, die man nicht täuschen und betrügen kann.

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LeerEs ist ein Jammer und eine Not, wie viel Krankheitselend sich gerade auch unter frommen Leuten findet. In christlichen Erholungsheimen kann man dazu betrübliche Studien machen. Da wird bei Tag und Nacht gebetet, da wird das Wunder der Glaubensheilung auf den Knien erfleht, da werden die göttlichen Sittengesetze brav und gehorsam gehalten. Gleichzeitig aber werden ständig die törichtsten Lebensfehler gemacht, angefangen von der allzu fetten Weihnachtsgans bis hin zu schlecht gelüfteten Zimmern und einer bedenklichen Gehfaulheit. Und dann wundert man sich darüber, wenn Krankheit, Mattigkeit, Unlust und Elendsgefühl einem nicht erspart bleiben!

LeerInzwischen ist die Frage der Naturverbundenheit und Naturliebe weit über den individualethischen Bereich hinausgewachsen und ist zu einer Schicksalsangelegenheit für die gesamtmenschliche Zukunft geworden. Verschmutzung des Wassers, die Verpestung der Luft, die Vergiftung des Bodens und damit auch der Nahrungsmittel, die Abholzung der Wälder, die Ausrottung ganzer Tiergattungen, das alles hat heute ein Ausmaß erreicht, daß sich der Menschheit eine Panikstimmung bemächtigt hat: Wir schaufeln uns selbst das Grab zum Untergang.

LeerDarum brauchen wir heute nicht nur ein Ethos der sozialen Nächstenliebe. Wir brauchen zusätzlich ein Ethos des Lebensschutzes. Es ist in dem Zusammenhang an ein Wort von Albert Schweitzer zu erinnern: „Es sind die einzelnen Wassertropfen, aus denen sich ein Rinnsal bildet. Daraus entstehen kleine Quellen. Die Quellen füllen einen Bach, und Bäche einen Strom.” Vom einzelnen Wassertropfen sagt man gern7 er sei wertlos, denn er verzische ja doch auf dem heißen Stein. Um so wichtiger ist es, sich allezeit vor Augen zu halten, daß es zuletzt doch die einzelnen Wassertropfen sind, aus denen sich ein Strom bildet.

LeerUnter den Theologen der Gegenwart gehört Wilhelm Stählin zu den wenigen rühmlichen Ausnahmen, die die Kraft zu einem kosmischen Christentum aufgebracht haben. In seinem Leben haben viele Faktoren zusammengewirkt, um diese Höhenlage zu erreichen. Von Natur beschenkt mit einer gesunden vitalen Ausrüstung, war er nie in Gefahr, einer weltfremden, sinnenfeindlichen Religiosität zu verfallen. Die Begegnung mit der deutschen Jugendbewegung hat ihm eine Fülle leibhafter Erkenntnis und Erfahrung vermittelt. Als Professor in Münster, gleichzeitig zusammen mit Karl Barth, mußte er sich wehren gegen dessen sture Schüler, die ihm hartnäckig entgegenhielten, daß der Christ „zur Sonne kein Verhältnis habe”

LeerDas Studium der Heiligen Schrift befreite ihn von jedem hellenistischen Dualismus und öffnet ihm den Sinn für das ganzheitliche hebräische Verständnis von Mensch und Natur. Die Freundschaft mit Paul Tillich, dem Liebhaber der Schellingschen Philosophie, bestärkte ihn in der Abneigung gegen jede Art von Nominalismus. Die also gewonnene Gesamtschau ging in die Evangelische Michaelsbruderschaft ein und geht ihr hoffentlich niemals verloren. Dankbar sei er darum auch an dieser Stelle zu seinem 90. Geburtstag gegrüßt als ein „Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und seine Blätter verwelken nicht”.

Quatember 1973, S. 151-158

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
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