Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1973
Autoren
Themen
Stichworte

Eindrücke aus Siebenbürgen
von Reinhard Mumm

LeerIn einem Kurzbericht etwas über ein Land und die Kirche dort zu sagen, die man nur neun Tage kennengelernt hat, ist eigentlich vermessen. Wenn ich es dennoch wage, bitte ich um die Nachsicht unserer Freunde, die aus Siebenbürgen stammen. Diese Zeilen möchten nur helfen, die Erinnerung an dieses schöne Land und an die Gemeinden wach zu halten, die dort leben. Sie sind uns - bei allem tiefen Unterschied der Lebensverhältnisse - nah verbunden.

LeerIn einundzwanzig Stunden kann man mit der Bahn von München her durch Österreich und Ungarn nach Rumänien gelangen. Hermannstadt, rumänisch Sibiu genannt, war einst ein Zentrum deutscher Kultur. Man sieht es sofort an den Bauten der Altstadt. Noch heute ist hier der Sitz des Bischofs und des Landeskonsistoriums der Evangelischen Kirche des Augsburgischen Bekenntnisses. Eine stattliche Gemeinde sammelt sich um die große gotische Hauptkirche. Der Gottesdienst wird in deutscher Sprache gehalten. In der achthundertjährigen wechselvollen Geschichte der Siebenbürger „Sachsen” haben christlicher Glaube, seit der Reformation in lutherischer Ausprägung, und die Muttersprache eine selbstverständliche Einheit gebildet. Die Herren des Landes haben gewechselt. Entsprechend mußten sich die Minderheiten in die gewandelten Verhältnisse einfügen. Mitten darin bildeten die von den Vätern überlieferten Lebensformen und die kirchlichen Gemeinden das Band, das die Familien und das Volk zusammenhielt. Das wird jeder begreifen, der völkische Minderheiten kennt.

LeerGegenüber der früheren Zeit ist die Lage heute tief verändert. Das Straßenbild in Hermannstadt, in Kronstadt (Braşov) und in vielen anderen Orten wird geprägt von dem an Zahl weit überwiegenden rumänischen Staatsvolk. Die Farbenpracht von bunten Gewändern der Zigeuner mischt sich hinein. Kultur und Konfession bilden bis zur Gegenwart eine fast durchgängige Einheit. Wie die Rumänen sich zum orthodoxen Glauben bekennen, so sammeln sich Angehörige des ungarischen Volkes in römisch-katholischen oder reformierten Kirchen. Immerhin, sie halten sich zu ihren Kirchen, und das in einem Maß und mit einer Hingabe, die uns in der säkularisierten westlichen Welt beschämen muß. Wir sahen einen öffentlichen Trauerzug, der nach altem Brauch quer durch den Stadtverkehr zog. Viele Kirchen sind alle Tage geöffnet und werden von betenden Menschen besucht. Das gilt von Orthodoxen und Katholiken, je nach ihrer Eigenart. Die Frömmigkeit des orthodoxen Volkes mag uns Abendländern fremd erscheinen; sie ist aber von kindlicher Hingabe erfüllt. In der lutherischen Stadtkirche von Hermannstadt sammelt sich täglich ein Kreis der Kirchenmusikschule zu einem vorbildlich liturgisch gestalteten Morgengebet. Zur gleichen Stunde halten die Mitarbeiter des Landeskonsistoriums, dazu die Professoren und Studenten des Theologischen Institutes, in einem Saal des Bischofshauses ihre Morgenandacht, umgeben von eindrucksvollen Bildern der Bischöfe vergangener Zeiten.

Linie

LeerSiebenbürgen ist ein Land, in dem die Geschichte lebendig ist. Die Autorität der Eltern wird anerkannt. Die Tradition wirkt deutlich in die Gegenwart hinein. Jedenfalls haben wir vieles beobachtet, was dafür charakteristisch ist. Die alten Kirchen und Kirchenburgen sind nicht nur museale Zeugen einer versunkenen Vergangenheit, sondern sie bilden in Städten und Dörfern den Mittelpunkt von stark besuchten Gottesdiensten. Die Gottesdienste in Urwegen (Girbova) und Schönau (Sona) gaben davon Zeugnis. Frauen, Kinder und „Kirchenväter” trugen nicht nur ihre kostbaren Trachten, sondern sie waren auch mit Hingabe am Gottesdienst beteiligt. In Siebenbürgen gibt es keinen Mangel an Theologen, obwohl die Lebensumstände für Studenten und Pfarrer außerordentlich bescheiden sind, gemessen an den Ansprüchen, die wir kennen. Die Städte sind volkreich geworden. Man hat nicht den Eindruck, daß Kinder als unerwünscht gelten. Die Schüler zeigen einen großen Bildungseifer.

LeerManche fragen, ob wir es hier nicht mit konservativ geprägten Menschen zu tun haben, die zäh an ihrer Tradition festhalten. Wird die Entwicklung nicht doch in die Verhältnisse einmünden, in denen wir uns im Westen befinden? Ich wage nichts zu prophezeien, sondern stelle die Gegenfrage, ob wir im Westen nicht zur Kenntnis nehmen sollten, daß andere Völker, die unter so ganz anderen Voraussetzungen leben, auch eine von der unseren verschiedene Entwicklung nehmen können. Vermutlich werden technische und zivilisatorische Errungenschaften auch in Rumänien zunehmen. Aber bislang verbinden sich damit nicht die Erscheinungen von moralischer Auflösung, an denen wir in unserer liberalisierten westlichen Welt leiden. Die Kirchen dort sind tief verwurzelt im Volk. Das wirkt sich bei orthodoxen Christen vornehmlich darin aus, daß nahezu alle - bis in die Kreise der Staatsführung hinein - an den liturgisch geordneten Bräuchen festhalten. Die evangelischen Christen, die die schwere Notzeit nach dem letzten Krieg überstanden haben, halten überwiegend an ihrer Volkskirche fest. Unter der Leitung ihres Bischofs Albert Klein ordnet sich diese Minderheiten-Kirche in die gegebenen Lebensverhältnisse ein. An Problemen und Schwierigkeiten fehlt es wahrlich nicht; es sind aber erfreuliche Ansätze erkennbar, wie sie in geistlicher Weise den rechten Weg beschreiten. Die Vorrechte und der Wohlstand früherer Zeiten sind dahin.

LeerSeit einigen Jahren können wir unsere Brüder und Schwestern in Siebenbürgen besuchen. Wer es tut, erlebt eine Gastfreundschaft, die ihn tief bewegt und beschämt. Wie intensiv schauen die Siebenbürger vom Südosten her auf uns in Mittel- und Westeuropa! Sie beobachten die Vorgänge bei uns aufmerksam, manchmal mit Kopfschütteln, auf jeden Fall hellsichtig und voller Fragen gegenüber dem Land ihrer Muttersprache und des Ursprungs der Reformation. Was bei uns neu entstanden ist an geistlichen Lebensformen des täglichen Gebetes und brüderlicher Gemeinschaft, wird dort in der Ferne hier und da treu geübt. Die ökumenische Gemeinsamkeit der verschiedenen Christen steckt noch in den Anfängen; aber sie macht Fortschritte. In den Kirchenleitungen achtet man aufeinander. Die Gemeinden lernen die verschiedenen Ausprägungen der Christenheit kennen. Im Lutherischen Weltbund nimmt man sich auch der Siebenbürger Kirche an. Eine Reise nach Rumänien öffnet uns die Augen über uns selbst und zeigt uns, wie Gott in verborgener Weise Sein Volk auch unter so ganz anderen Umständen durch die Zeit führt. Alle, die dort leben, sollten in unserer Fürbitte nicht fehlen.

Quatember 1973, S. 180-182

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
Haftungsausschluss
TOP