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von Heinz Beckmann

LeerDies ist ein besonderes Heft. Es versucht ein bißchen zu prangen, wie ein Geburtstagstisch. Nun sind freilich Geburtstage, so hohe zumal, nicht nur zum Feiern da. Man sinnt die Wege entlang, reiche Lebenswege mitten hindurch durch das zwanzigste Jahrhundert. Dafür läßt sich danken, weiß Gott. Wenn aber Hans Dombois in diesem Heft daran erinnert, daß der Mensch das einzige Lebewesen ist, das seinen Großvater kennt, dann will uns die Freude an hohen Geburtstagen nicht mehr ganz so ungebrochen aus dem Herzen springen. Viele junge Menschen wollen heute nicht einmal ihren Vater mehr kennen. Der Großvater gilt ihnen allenfalls noch als ein Museumsstück, ein respektables vielleicht, doch der Zusammenhang zwischen dem Großvater und der eigenen jungen Existenz wird oft gar nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn akzeptiert.

LeerEs ist unnütz, sich darüber aufzuregen, denn die Abwehr der Großväter hat sehr merkwürdige Folgen, die man heute allenthalben aufspüren kann. Einigermaßen wache junge Menschen, die sich nicht nur von Augenblick zu Augenblick „verwirklichen”, haben eine andere Beziehung zu den Großvätern angeknüpft. Ihnen selbst wird das kaum bewußt, aber während sie die Welt der Altvorderen von sich weisen, sind sie zugleich mitten darin. Sie wiederholen sie sozusagen, als wäre sie ihre eigene Entdeckung. Hermann Hesse zum Beispiel ist für die Großväter längst abgetan und vergilbt. Nicht so für ihre Enkel, die mit einem erstaunlichen Eifer Hesse lesen. Auch Rainer Maria Rilke kommt wieder vor, und erst jüngst ertappte ich ein sonst sehr progressives junges Paar, das eben Wilhelm Raabe las.

LeerVon der Theologie wollen wir in diesem Zusammenhang besser schweigen, doch den lieben Jugendstil wird man ungescholten heranziehen dürfen, wo es um diese merkwürdigen Schleichwege der Jugend zurück in die gelebte Welt der Großväter geht. Der Jugendstil, so gefällig er sich heute ausnimmt, war einst ausgesprochen revolutionär. Auch ist es gewiß kein Zufall, daß die beiden in diesem Heft zu rühmenden Geburtstagsleute je auf ihre Weise eine Rolle spielten in der geistigen Prägung der sogenannten Jugendbewegung. Hier wäre allerdings umgekehrt ein Wort zu richten an jene Väter und Großväter, die sich heute gegenüber den langen Haaren, Barten, Bekleidungsstücken und Gebräuchen ihrer Söhne oder Enkel genau so töricht benehmen, wie sich einst unsere Väter und Großväter gegenüber Schillerkragen, kurzer Hose, Beiderwandrock und Entdeckung der Wälder verhielten.

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LeerMerkwürdigerweise hat man den inneren Zusammenhang zwischen der Jugendbewegung im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts und den nur anscheinend so eigenen Wegen der jungen Menschen in unseren Tagen nicht rechtzeitig erkannt. Erst seit diese jungen Menschen auf Hermann Hesse oder den Jugendstil verfallen sind, scheint es hier und da zu dämmern.

LeerWo junge Menschen heute nicht gerade ideologisch mit neunzehntem Jahrhundert besetzt sind, geschieht nämlich nichts geringeres als eine Art Wiederaufnahmeverfahren mit dem zwanzigsten Jahrhundert. Dazu aber brauchen wir dringend die Großväter als Zeugen. Wenn junge Menschen heute Hermann Hesse lesen, um bei diesem einen Beispiel für manche andere zu bleiben, beweisen sie damit nur, daß in unserem Jahrhundert vielerlei Fragen und Nöte unerledigt liegengeblieben sind. Sie suchen nichts anderes als sich selbst bei Hermann Hesse, so wie wir uns einst in seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten suchten. Näher können sie ihren Großvätern gar nicht sein, auch wenn sie sich noch so erhaben dünken über die abgestandene Welt der Großväter. Sie ist eben nicht abgestanden, sondern steht abermals zur Diskussion. Das zwanzigste Jahrhundert wurde einfach zu rasch gelebt, wie in einem Fieberanfall. Wir alle wissen, warum es nicht gemächlicher gelebt werden konnte. Es war sozusagen selbst ein einziges Fieber und ist das noch heute. Desto auffälliger wirkt das Wiederaufnahmeverfahren, das jetzt begonnen hat. Wir werden darin noch manche Überraschungen erleben, bis hinein in die Theologie.

LeerNun haben ältere Menschen heutzutage der Jugend gegenüber ein ziemlich schlechtes Gewissen angesichts des von ihnen durchlebten Jahrhunderts. Nicht zuletzt deswegen hapert es zwischen den Generationen. Für das schlechte Gewissen gibt es offenkundige Gründe genug, und man soll das gewiß nicht verschweigen. Unterdessen jedoch haben junge Menschen sich auf die geistigen Spuren dieses Jahrhunderts gesetzt, erstaunliche Spuren, voller schöpferischer Ansätze, getrieben, mitunter sogar gejagt von der Frage nach dem Auftrag des Menschen in dieser Welt.

LeerDeshalb wäre es barer Frevel, wenn Väter und Großväter sich auch fürderhin in der Grotte ihres schlechten Gewissens verstecken wollten. Beides nämlich hängt eng miteinander zusammen, der geistige Aufbruch im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und die Ursache unseres schlechten Gewissens. Darüber haben Großväter und Väter Auskunft zu geben in dem Wiederaufnahmeverfahren. Vor zweiundfünfzig Jahren erschien eine Schrift von Wilhelm Stählin unter dem Titel „Fieber und Heil in der Jugendbewegung”. Um Fieber und Heil geht es auch heute wieder. Nicht von ungefähr ist „Der Steppenwolf” heute der begehrteste Roman von Hermann Hesse.

LeerEs ziemt sich, hohe Geburtstage zu feiern. Doch sollte man es nicht dabei bewenden lassen. Es ist nämlich nur vordergründig wahr, daß die jungen Menschen unserer Tage nicht einmal den Vater mehr, geschweige denn den Großvater kennen wollen. Schaut man etwas genauer hin, so sind sie recht inständig mit der Welt ihrer Väter und Großväter beschäftigt. Darum ist es gut und notwendig, daß auch noch Großväter bei uns sind.

Quatember 1973, S. 185-187

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
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